Außerschulische Bildung 4/2024

Ein Gesellschaftsdienst für alle

Eine Chance für Europa?

Spätestens seit Juni 2022, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Impuls für eine soziale Pflichtzeit gab (Steinmeier 2023), wird die Idee eines Gesellschaftsdienstes für alle in Deutschland nicht nur in der Politik, sondern auch unter den Trägern der Freiwilligendienste und in weiten Teilen der Gesellschaft diskutiert. Die Debatte ist stark durch die Dichotomie zwischen Pflicht und Freiwilligkeit geprägt. Aspekte der Umsetzung, der Machbarkeit, die Frage nach dem eigentlichen Zweck und Sinn eines solchen Dienstes sowie eine europäische Perspektive wurden im öffentlichen Diskurs bislang kaum beleuchtet. von Rabea Haß und Grzegorz Nocko

Ein möglicher Gesellschaftsdienst soll den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken, sie resilient und verteidigungsfähig machen – so die vielfältigen Erwartungen der aktuellen Vorschläge. Obwohl dies gesamteuropäische Ziele sein müssten, werden Formate bisher lediglich national gedacht. Ein Gesellschaftsdienst für alle in Europa ist aus heutiger Perspektive ein weit entferntes Ziel. Der Status-quo lässt sich so skizzieren:

Ganz aussichtslos ist die Ausgangslage jedoch nicht, denn es gibt erste ernstzunehmende Anknüpfungspunkte: Erstens existieren bereits erste EU-Initiativen wie das Europäische Solidaritätskorps, das jungen Menschen Freiwilligenarbeit in verschiedenen europäischen Ländern ermöglicht, um die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb der EU zu stärken. Zweitens werden spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine in vielen Ländern die bisherigen Konzepte der Wehrpflicht und Wehrdienste auf den Prüfstand gestellt, reaktiviert, ausgebaut oder komplett neu gedacht. Damit geht einher, dass auch zivile Alternativen für diejenigen, die keinen Wehrdienst leisten möchten (oder können), wieder an Relevanz gewinnen. Ein europaweiter Gesellschaftsdienst könnte daher in Zukunft politisch relevant werden, insbesondere im Zusammenhang mit der Debatte um eine europäische Verteidigungsstrategie und eine resiliente Gesellschaft. Drittens könnte er ein wirksames Mittel gegen den wachsenden Nationalismus sein, indem er die gemeinsame Verantwortung und Solidarität zwischen den EU-Bürger*innen fördert. Viertens betrifft die Debatte über die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht nur Deutschland, sondern viele europäische Länder und die EU. Gerade in Krisenzeiten ist ein europäisches Gemeinschaftsgefühl von Bedeutung: Viele der zukünftigen Herausforderungen, wie Naturkatastrophen infolge des Klimawandels oder aktuelle Kriegsgefahren, lassen sich nicht auf nationaler Ebene bewältigen. An zahlreichen Beispielen – etwa bei Starkregenereignissen in Süddeutschland im Jahr 2024 oder bei Waldbränden in Italien, Spanien oder Griechenland während der letzten Sommer – zeigt sich, dass neben nationalen Einsatzkräften auch internationale Hilfe über das EU-Katastrophenschutzverfahren einbezogen wurde, um die akute Gefahr zu bewältigen.

Ausgangslage