Ein Seminar für Menschen mit Behinderung zur Europawahl 2024 an der Akademie Biggesee
Im Jahr 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung, kurz Behindertenrechtskonvention genannt. Als universelle Rechtsnorm ist sie auf die Lebenssituation von über 600 Millionen Menschen ausgerichtet. Als eines dieser Rechte wird darin auch die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben gefordert. Die Vertragsstaaten (inzwischen 190 an der Zahl) verpflichten sich, „sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden“ (Artikel 29 a UN-BRK). Dennoch war bis zum Jahr 2019 in Deutschland vielen Menschen – eine Studie (BMAS 2016) aus dem Jahr 2016 spricht von 85.000 – das Wahlrecht auf allen Ebenen verwehrt. Dies betraf alle Personen, für die „zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer (…) bestellt ist.“ § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz in der vor dem 01.07.2019 geltenden Fassung Das Bundesverfassungsgericht hat am 29. Januar 2019 hierzu festgestellt, dass diese Wahlrechtsausschlüsse verfassungswidrig waren, u. a. aufgrund eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. In Folge dessen stimmte der Deutsche Bundestag am 5. März 2019 für die Streichung der entsprechenden Klauseln aus dem Bundes- bzw. Europawahlgesetz. Das neue inklusive Wahlrecht trat zum 1. Juli 2019 in Kraft. Bei der Europawahl 2019 fand es dementsprechend noch keine Anwendung.
Auf einer regionalen Weiterbildungskonferenz im Kreis Olpe wurde diese Entwicklung schließlich von Udo Dittmann, dem damaligen Leiter der Akademie Biggesee, als Thema für die politische Bildung aufgegriffen. Schnell fanden sich interessierte Partner zusammen, welche diese Lücke in der Bildungslandschaft gemeinsam füllen wollten. Zusammen mit der Behindertenbeauftragten des Kreises Olpe, den Attendorner Werthmann-Werkstätten der Caritas und der Lebenshilfe Wohnen NRW erarbeiteten wir vor fünf Jahren erstmalig ein Konzept für Menschen mit geistigen bzw. kognitiven Behinderungen. Für das hauptamtliche pädagogische Team der Akademie war dies Neuland, verfügt(e) doch niemand von uns über eine sonderpädagogische Ausbildung. Selbstverständlich wollten wir unsere Zielgruppe mit ihren Bedürfnissen ernst nehmen, dabei aber weder überfordern noch langweilen. In gewissem Sinne ein „Learning by doing“. Doch die große positive Resonanz war für uns eine starke Motivation und blieb dies auch stets.
Seitdem ist ein politisches Seminar für Menschen mit Behinderungen fester Bestandteil unseres Jahresprogramms. In der Regel war dabei die Vorbereitung auf eine anstehende Wahl das Leitmotiv, doch es gab auch Ausnahmen. Im Jahr 2023 war der Wunsch geäußert worden, sich mit dem Krieg in der Ukraine zu beschäftigen. Wir griffen dies auf und betteten es unter dem Titel „Zeit der Veränderung“ in den Kontext sozial-ökologischer Transformationen, wie z. B. die Energiewende ein. Resultierend aus den Erfahrungen und Diskussionen aus diesem Seminar war uns klar, dass viele TeiInehmende vor dem Hintergrund dieser Themen auch mit Besorgnis auf die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 schauen würden. Wie positionieren sich die Parteien zu diesen Themen und wie könnte dies die EU und unser Leben verändern? Doch bevor diese Fragen beantwortet werden konnten, mussten wir uns mit der Gruppe noch viel grundlegendere Fragen stellen: Was ist diese EU denn eigentlich, warum und für welche Aufgaben gibt es sie, was wird auf der europäischen Ebene entschieden und wie funktioniert dieses komplizierte Gebilde, das uns oft ziemlich weit weg erscheint? Keine einfache Aufgabe also, denn es ist immer eine Herausforderung, dies verständlich zu vermitteln. Eines merkten wir in den Vorbereitungsgesprächen mit unseren Kooperationspartnern jedoch schnell: Das Interesse am Thema war sehr groß. Und so fanden sich am 27. Mai 2024 schließlich 41 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie fünf Betreuungspersonen – darunter viele bekannte, aber auch neue Gesichter – in der Akademie Biggesee ein, um gemeinsam mit unserem dreiköpfigen Referententeam etwas über Europa, seine Zukunft und wie wir alle diese mitgestalten können zu erfahren.