Absolut lesenswert ist der kleine Band, insbesondere für Akteur*innen in der politischen Bildungsarbeit. Andrea Schöne zeigt auf, was Ableismus bedeutet und bewirkt, sensibilisiert für die Wirkmächtigkeit von Sprache und gewährt Einblicke in die Lebenswelten von behinderten Menschen. Das Buch ist eine Hilfestellung, eigene Denkschablonen und Handlungsweisen als Mitglied der nichtbehinderten Dominanzgesellschaft zu reflektieren und zu verändern.
Was verstehen wir unter „Behinderung“? Wer hat(te) historisch und kulturell wann welche Deutungsmacht und in welchem Kontext? Ohne „die Behinderten“ gäbe es auch nicht die nichtbehinderten „Normalen“, konstatiert Schöne. Weshalb betrachtet(e) Medizin, Sonderpädagogik und Rehabilitation Behinderung als etwas, das durch Diagnosen und eigene „Defizite“ hervorgebracht wird? Es ist das Verdienst von Wissenschaftler*innen mit Behinderung in den 70er Jahren, ihre Lebenserfahrungen auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu reflektieren. Sie sehen „Behinderung als etwas, das durch Alltagshandlungen und soziale Praktiken, aber auch fehlende Repräsentation und Identität in der Dominanzgesellschaft hergestellt wird“ (S. 16).
Der Begriff „Ableismus“ entstand in den 80er Jahren durch die US-Behindertenrechtsbewegung und wird von Schöne wie folgt definiert: „ein geschlossenes System von Denk- und Verhaltensweisen, das sich in verschiedenen Formen innerhalb der Gesellschaft und Institutionen äußert. Nichtbehinderte sind in diesem System privilegiert. Das heißt, sie haben gegenüber behinderten Menschen gesellschaftliche und strukturelle Vorteile, die behinderte Menschen unterdrücken. Nichtbehinderte haben die Deutungshoheit über das Leben und die Eigenschaften, die sie behinderten Menschen zuschreiben. Diese können sowohl positiv als auch negativ besetzt sein, folgen aber stets Stereotypen. Mittel der Zuschreibungen sind beispielsweise Sprache, Gesetze, Gegenstände jeglicher Art und soziale Beziehungen. Im Mittelpunkt der Deutungen steht die Bewertung von Menschen und deren Körpern nach Leistungsfähigkeit, festgelegt von der nichtbehinderten Dominanzgesellschaft. Damit betrifft Ableismus aber auch direkt die Lebenswelt nichtbehinderter Menschen.“ (S. 9)
Leser*innen des Buches werden eingeladen zu überlegen, ob das eigene Denken durch das medizinische Modell (Fokus: Behinderung als Krankheit und Rehabilitation der Person als Ziel), durch das soziale Modell (Behinderung ein Resultat sozialer Organisation; Lösungen setzen bei der Gesellschaft an) oder durch das kulturelle Modell (Perspektivwechsel: Wie wird „Normalität“ gesellschaftlich konstruiert? Was bedeutet Nicht-Behinderung aus dem Blickwinkel von behinderten Menschen? Behinderung als einen Teil der Vielfalt Mensch betrachten) von Behinderung geprägt ist.
Hat eine politische Bildungseinrichtung erkannt, dass sie Menschen mit Behinderung ausgrenzt und dies ändern möchte, hilft der kleine Band, achtsam zu werden. Drei Bereiche erscheinen mir besonders wichtig: Welche Sprache nutzen wir? Andrea Schöne lehnt Wortneuschöpfungen, oftmals von Nichtbehinderten und Euphemismen wie „Menschen mit Assistenzbedarf“, „Handicap“ oder „besondere Bedürfnisse“ ab und rät zur Nutzung der Selbstbezeichnungen „Behinderung“, „behindert“, „Menschen mit Lernschwierigkeiten“, um Menschen mit Behinderung zu beschreiben. Allerdings: „Ein Begriffswandel ist nur sinnvoll, wenn damit auch eine Veränderung der Denkweise … verbunden ist.“ (S. 27)