Perspektiven der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung
Diskussionen um Geschlechterfragen sind aus den aktuellen Aufreger-Debatten kaum wegzudenken, sei es die „Verstümmelung der Sprache“, sei es die „Gefahr einer Frühsexualisierung von Kindern“ oder auch ernstgemeinte gesellschaftliche Diskussionen, wie sich geschlechtliche Vielfalt in Gesellschaft, Politik und Bildung leben und abbilden lässt. Auch in der Realität der politischen Bildung ist Geschlechtersensibilität sicherlich immer noch ausbaufähig, aber im Kern doch angekommen. Umso sehr verwundert es, wenn die Herausgeberinnen dieses Handbuches „Rezeptionssperren und Vorbehalte“ (S. 11) innerhalb der Politikwissenschaft gegenüber dem Forschungsfeld Politik und Geschlecht konstatieren. Ausgerechnet in der Wissenschaft, die Geschlechterfragen besonders nahestehen sollte, da Macht- und Herrschaftsfragen unmittelbar mit Geschlechtszugehörigkeit verknüpft sind, gibt es laut Herausgeberinnen eine besonders geringe Zahl an Professuren, sind Lerninhalte zu Geschlechterfragen nicht systematisch verankert und fehlen entsprechende Bezüge in der Einführungsliteratur.
Diesem Missstand will dieser Band begegnen. Er gibt eine Einführung in den aktuellen Forschungsstand der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung: mit a) einem kritischen Blick auf die Disziplin selbst, b) einem Überblick über aktuelle Konzepte und Theorien und c) einem Überblick über ausgewählte Themen- und Politikfelder. Die dargestellten Ansätze sind dekolonial, intersektional und vertreten queer-feministische Perspektiven. Aus Sicht der politischen Bildung ist der Artikel von Michael Hunklinger sehr interessant. Er fordert, empirische Wahlumfragen um die Abfrage der Geschlechteridentität und sexuellen Verortung zu ergänzen. Das würde ermöglichen, das Wahlverhalten der LGBTQ*-Community sichtbar zu machen. Ebenfalls thematisch relevant, aber leider sehr allgemein, ist der Beitrag von Elia Scaramuzza zur Auseinandersetzung mit Geschlecht in der Fachdidaktik der politischen Bildung. Die Relevanz wird zwar seit Jahrzehnten betont, aber anscheinend hinkt hier die Wissenschaft der Praxis hinterher (und die schulische politische Bildung wiederum der außerschulischen).
In drei Beiträgen wird die Intersektionalität von Geschlecht, Rasse und Klasse um die Kategorie Ökologie erweitert: Queer-Ecologies lösen die Sorge-Arbeit – und damit den Kern einer nicht-ausbeuterischen Wirtschaft – aus der Mutter-Natur-Reproduktions-Erzählung heraus: „Ressourcenpolitik statt Feminisierung der Umweltverantwortung“ (S. 136, Christine Bauhardt). Auch die Debatte um „hegemoniale bzw. politische Männlichkeiten“ wird aufgegriffen und knüpft an den aktuellen Diskurs um masculinities und Antifeminismus an.
Aber auch bekannte und deshalb nicht weniger relevante Politikfelder sind repräsentiert: Herausforderungen für den institutionalisierten Feminismus in Form von Gleichstellungsbeauftragten, der weltweite gewerkschaftliche Kampf um Rechte von Hausangestellten (ein wunderbares Beispiel, wie sich Menschen eines Geschlechts auf Grund von Klasse und Rasse diametral gegenüberstehen können) oder auch die Darstellung des Femizids als Konzept, das die Besonderheiten und Facetten dieser extremen Form von Gewalt gegen Frauen darstellt (Güneş Koç).