Aufsuchende Distanzierungsarbeit gegen Radikalisierung bei jungen Menschen. Ein Leitfaden
Vor dem Hintergrund des stärker werdenden Rechtsrucks in Deutschland und Europa stellt sich immer wieder die Frage nach dem richtigen Umgang, sowohl mit politischen Akteur*innen der extremen Rechten, als auch mit deren Symphatisant*innen. Nicht erst seit den jüngsten Wahlen ist ein Aufschwung der extremen Rechten und ihrer Ideologie(-fragmente) auch bei jungen Menschen zu beobachten. Dass Zustimmung zu extrem rechten Positionen quer durch die Gesellschaft zu finden sind, zeigen u. a. die Leipziger Autoritarismus-Studie oder die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Empirische Erhebungen wie diese legen nahe, dass die Gegenüberstellung von „demokratische Mitte“ und „extremer Rand“ als Gegenpole in dieser Form problematisch ist.
Das vorliegende Werk problematisiert diesen Extremismusbegriff und spricht stattdessen von der extremen Rechten, sowie Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Der von Grimm et al. verwendete Distanzierungsansatz ist die daraus resultierende logische Folge für die Bildungsarbeit und grenzt sich dadurch von der Ausstiegsberatung ab. Stattdessen betont die Distanzierungsarbeit die Prävalenz gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und die Notwendigkeit, in pädagogischen Kontexten Hinwendungstendenzen zur extremen Rechten zu erkennen und zu intervenieren. Dieser eher neue Ansatz verfolgt daher auch eine andere Methodik: Während die Zielgruppe der Ausstiegsberatung sich selbst an diese Hilfsangebote wendet, arbeitet die hier beschriebene Distanzierungsarbeit ähnlich wie die aufsuchende Soziale Arbeit, d. h. die Initiative geht von der pädagogischen Fachkraft aus. Distanzierungsarbeit beginnt dort, wo junge Menschen mit diskriminierenden Äußerungen oder Verhalten auffallen und versucht, Radikalisierungsprozesse zu verlangsamen oder sogar zu stoppen. Eng damit verknüpft ist eine weitere Grundlage, die Grimm et al. für diese Arbeit postulieren. Die Autor*innen begreifen Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession, woraus die Notwendigkeit entsteht, diese Arbeit als pädagogische Querschnittsaufgabe zu sehen, die in allen pädagogischen Kontexten notwendig ist. Radikalisierungsprozesse bei jungen Menschen als Mangel an sozialen Kompetenzen und Nichterfüllung wesentlicher Bedürfnisse zu begreifen, ist eine grundlegende These im vorliegenden Werk. Grimm et al. fokussieren außerdem den Lebensabschnitt der Zielgruppe aufgrund der sich in Entwicklung befindenden Identität und geben Pädagog*innen Handlungsoptionen zur Entwicklung einer menschenrechtsorientierten Haltung der Zielgruppen und der Befähigung zur eigenständigen Lösung ihrer Probleme.
Der zweite Teil des Buches bietet vertiefende theoretische Grundlagen sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten und Beispiele. Sowohl in Bezug auf das Wahrnehmen einer Einstiegsgefährdung wie auch bei der Intervention werden Spezifika wie Hinwendungsmotive, u. a. die Rolle von Gender, Radikalisierungsphasen und Werkzeuge zur Einschätzung der Einstiegsgefährdung, dargelegt. In der Auswahl der theoretischen Grundlagen werden Modelle aus unterschiedlichen Disziplinen herangezogen, bspw. die motivierende Gesprächsführung oder das Transtheoretische Modell aus der Gesundheitsförderung. Die pädagogische Fachkraft soll in den angebotenen Handlungsoptionen die eigenständige Entwicklung einer menschenrechtsorientierten Haltung lediglich unterstützen und eine solche Haltung zur Grundlage der eigenen Arbeit machen. Eine mögliche Umsetzung dieser Impulse ist in Anwendungsbeispielen zu sehen, darüber hinaus gibt es Vorlagen und Arbeitsblätter für unterschiedliche Situationen und Radikalisierungsfaktoren.
Die Autor*innen greifen auf vielfältige Theorien und Modelle sowie ihre eigene Praxiserfahrung zurück. Sie benennen Grenzen der Handlungsmöglichkeiten und nehmen dabei u. a. Bezug auf die gesellschaftliche Verbreitung diskriminierender Narrative oder die Schwierigkeit, die eigene menschenrechtsorientierte Haltung deutlich zu machen und dabei dennoch die Beziehung zur Person aufrecht zu erhalten. Nicht nur die konkreten Methoden, sondern vor allem die Hintergründe und Risikofaktoren zu einer Hinwendung und für die Distanzierung sind wichtige Hilfen für Pädagog*innen, auch in der außerschulischen politischen Bildung. Insbesondere das Hintergrundwissen zu Hinwendungsfaktoren und der daraus folgende Umgang kann eine wichtige Basis für pädagogisches Handeln sein. Konkret können die vorgestellten Gesprächstechniken im Falle diskriminierender Aussagen verwendet werden. Durch die genauen Differenzierungen ergeben sich je nach Situation unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten. Die grundlegende These, Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession zu sehen, unterstützt, dass dieses Werk für jede pädagogische Fachkraft, die mit einstiegsgefährdeten Menschen in Kontakt steht, ein wichtiger Leitfaden ist.