Außerschulische Bildung 2/2025

Zeugnis ablegen und gehört werden

Betroffenenperspektiven auf ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex

Lange waren die Angehörigen der NSU-Opfer die einzigen, die sich mit Nachdruck für eine schonungslose Aufklärung und ein würdiges Gedenken engagiert haben. Welche Ideen und Vorstellungen, welche Erwartungen haben sie mit Blick auf ein Dokumentationszentrum? In einer Bestandsaufnahme der Autorin ging es um das migrantische Wissen und die Bedeutung der Zeugenschaft, um die counter stories, die bisher beschwiegen wurden und immer wieder mit dem Versuch konfrontiert sind, unsichtbar gemacht und von der Bühne der Geschichte gestoßen zu werden. von Sabine Hess

Auch da sich Deutschland mit seiner vielfältigen institutionellen Erinnerungslandschaft gern als „Erinnerungsweltmeister“ (Czollek 2023) sieht, ist es auf den ersten Blick umso erstaunlicher, dass sich für die über 300 bekannten Todesopfer rassistischer Gewalt seit 1945 bislang keine nennenswerte gesellschaftliche und staatliche Erinnerungspraxis in der Bundesrepublik herausgebildet hat, trotz jahrzehntelangem Aktivismus von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Betroffenen (vgl. Fischer 2021). Sie fordern seit den 1980er Jahren nicht nur die Aufklärung der Tathintergründe und ihre Kennzeichnung als rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten, sondern auch eine würdige öffentliche Praxis der Trauer und Erinnerung an die Opfer und ihr Leben, wofür die Hinterbliebenen die wichtigsten Zeug*innen sind. Dieser Beitrag ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung eines Textes in der Ausgabe 37–38/2023 der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, S. 40–47.

In diesem Sinne spricht die Soziologin Leah Bassel (2017) von „politics of listening“ und legt dar, dass auch Zuhören eine politische Praxis ist. Während marginalisierte Gruppen häufig „politics of voice“ als Strategie des Sicht- und Hörbarwerdens betreiben, sind beim Zuhören vor allem die gesellschaftlich dominanten Gruppen gefragt: Denn ihr Nicht-Zuhören ist als politische Entscheidung zu verstehen; es gibt ihnen erhebliche „Macht, Zeugnisse zum Scheitern zu bringen“ (Schmidt 2019, S. 198). So war es auch lange im Fall der Opfer und Angehörigen-Betroffenen Ich wähle den Ausdruck „Opfer und Angehörige-Betroffene“ mit Bedacht, um der engen juridischen Definition von Opfern und Angehörigen zu entkommen und die tiefe lebensverunsichernde Betroffenheit infolge der Taten und des staatlichen und medialen Umgangs mit ihnen für einen erweiterten Kreis von Familienangehörigen über verschiedene Generationen zu verdeutlichen. der Mord- und Anschlagsserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), denen trotz erheblichen Aufwands, sichtbar zu werden und Gehör zu finden, über ein Jahrzehnt lang nicht zugehört wurde. Erst mit der Selbstenttarnung des NSU 2011 änderte sich dies ansatzweise.

Nun sollte es über diese Ansätze hinausgehen: 2021 hatten sich die Regierungsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, „die Errichtung eines Erinnerungsortes sowie eines Dokumentationszentrums für die Opfer des NSU“ zu unterstützen. Dieses Vorhaben ist erstmal gescheitert, da der Gesetzestext, den SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Januar 2025 einbrachten, von den übrigen Parteien nicht unterstützt wurde. Daraufhin hat die Bundeszentrale für politische Bildung im Herbst 2022 unter anderem mich angefragt, eine von drei Expertisen in Hinblick auf eine mögliche Realisierung eines derartigen Zentrums zu verfassen, und zwar im Sinne einer „bundesweiten Bestandsaufnahme von Aufarbeitungsaktivitäten und der Einbindung von Betroffenenperspektiven“. Neben mir wurde auch die Leiterin des FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museums Natalie Bayer angefragt, die uns beratend zur Seite stand. Ein besonderer Dank gilt unseren Gesprächspartner*innen für ihre Zeit und das Vertrauen, Gespräche mit uns zu führen. Für die Mitarbeit an der Expertise danke ich meinen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Yasmin Dreessen, Lee Hielscher und Cagan Varol sowie Jelka Günther für die verwaltungstechnische Unterstützung.