Außerschulische Bildung 2/2020

„Bildung passiert in Wechselwirkung“

Zur subjektiven Bedeutung von Bildungsfreistellung

Bildungsfreistellung ist ein bildungspolitisch kontrovers diskutiertes Thema, dem vielfältige Wirkungen sowohl zu- als auch abgesprochen werden. Der Beitrag stellt Ergebnisse einer qualitativen Studie vor, die von 2017 bis 2019 mit dem Ziel durchführt wurde, langfristige biographische Wirkungen der Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen zu erforschen. Teilnehmer*innen, die mindestens dreimal Seminare zur politischen Bildung besucht haben, bestätigen retrospektiv aus subjektiver Perspektive Wirkungen hinsichtlich der Entwicklung neuer Lern- und Bildungsinteressen, politischer Horizonterweiterung, besserer Kritik- und Urteilsfähigkeit. von Christine Zeuner und Antje Pabst

Seit 1974 in den Bundesländern Bremen, Hamburg und Niedersachsen nach verschiedenen bildungspolitischen Initiativen und langen Diskussionen die ersten Bildungsurlaubsgesetze eingeführt wurden, hat sich ihre Zahl mittlerweile auf 14 Ländergesetze erhöht. Nachdem 2015 Baden-Württemberg und Thüringen entsprechende Gesetze verabschiedeten, verzichten nur noch Bayern und Sachsen darauf, Arbeitnehmer*innen bezahlte Bildungsfreistellung zu ermöglichen (vgl. Schmidt-Lauff 2018).

Die Einführung von Bildungsurlaubs-, Bildungsfreistellungs- und Bildungszeitgesetzen war in den meisten Bundesländern nicht unumstritten (vgl. Zeuner 2017). Argumente für und gegen sie wurden häufig vehement ausgetauscht. Aus der Sicht der jeweiligen Akteure, v. a. der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, erscheinen Argumentationslinien konsistent und in sich schlüssig. Während die Gewerkschaften erwarteten, dass Bildungsfreistellung v. a. zur Erhöhung der Chancengleichheit beitragen und gleichzeitig lernungewohnten Bevölkerungsgruppen Impulse für lebenslanges Lernen geben würde, verwiesen die Arbeitgeber auf bereits existierende Regelungen für die betriebliche Bildung, für die sie die Verantwortung trugen – sie reichten ihrer Meinung nach aus. Argumenten wie Chancengleichheit oder Abbau von Bildungsungleichheit erteilten sie eine Absage, da ihrer Meinung nach weder im notwendigen Umfang entsprechende Zielgruppen erreicht würden, noch die erwarteten Wirkungen tatsächlich zu belegen seien. Hinzu kam der Hinweis auf die unberechenbaren finanziellen Belastungen, die die Arbeitgeber durch Lohnfortzahlung und Arbeitsausfall kompensieren müssten. Letztlich ging es bei den Auseinandersetzungen immer auch um Machtfragen bezogen auf Einflüsse und Verfügung über Arbeitskräfte auf der einen und Ressourcenfragen (Geld und Zeit) auf der anderen Seite (vgl. Faulstich 2013; Pabst 2020).

Wir wollen in dem folgenden Beitrag diese jahrzehntelangen Diskussionen nicht vertieft rekonstruieren aber darauf hinweisen, dass Bildungsfreistellung ein nach wie vor kontroverses Thema ist, selbst wenn die Gesetzeslage eher das Gegenteil vermuten lässt. Obwohl nur die Bildungsfreistellung allen Arbeitnehmer*innen ein individuelles Recht auf Bildung zusichert – die Weiterbildungsgesetze der Länder regeln zumeist organisatorische, strukturelle und finanzielle Aspekte – wird sie weiterhin in Frage gestellt. Und dies auch, obwohl das Bundesverfassungsgericht 1987 eine Klage der Arbeitgeberverbände der Bundesländer Hessen und Nordrhein-Westfalen gegen die jeweiligen Gesetze unter Hinweis auf eine Allgemeinwohlverpflichtung abgewiesen hat, die sich sowohl auf notwendige qualifikatorische Anpassungen an ökonomische Transformationsprozesse bezieht als auch auf die Freistellung für politische Bildung (vgl. Bundesverfassungsgericht 1987).