Außerschulische Bildung 2/2021

Die demokratische Erziehung Deutschlands

Von der Reeducation zur politischen Erwachsenenbildung in einer pluralen Gesellschaft

Die Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland baut auf die Reeducation- und Reorientation-Politik der Nachkriegszeit auf. Ein genauer Blick auf die Prämissen dieser Politik legt offen, dass diese womöglich nicht dazu taugen, eine politische Erwachsenenbildung in einer Migrationsgesellschaft zu rahmen. Zumindest ergeben sich Probleme, die adressiert werden sollten. von María do Mar Castro Varela
„Um potentiell antidemokratische Individuen erforschen zu können, müssen sie zuvor identifiziert werden.“ (Adorno 1973, S. 17)

Politische Bildung heute versucht den Bürger*innen Informationen bereitzustellen und Wege zu eröffnen, die es diesen ermöglicht, sich an demokratischen Entscheidungen und Vorgängen zu beteiligen. Partizipation ist das politische Zauberwort. Ohne gelingende Partizipationsprozesse wird die Demokratie, die des politisch reifen Volkes bedarf, gefährlich geschwächt. Dies öffnet totalitären Systemen Tor und Tür. Kaum zufällig beginnt die Politische Bildung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Sieg über die nationalsozialistische Herrschaft. Die Frage, die sich stellte war so schlicht wie kompliziert: Was ist notwendig, um Menschen, die eine Gewaltherrschaft passiv und auch aktiv unterstützt haben, zu Demokrat*innen zu machen? Und wie kann verhindert werden, dass sich Verbrechen wie die, welche während des Nationalsozialismus begangen wurden, nicht wiederholen? Der Fall „Deutschland nach 1945“, ist in vieler Hinsicht einzigartig. Ein Blick in die Geschichte ermöglicht es, nicht nur die Dringlichkeit von Politischer Bildung zu verstehen, sondern darüberhinausgehend ebenso zu ergründen, was falsch gelaufen ist mit der Politischen Bildung in Deutschland. So wäre zu fragen, warum die Politische Bildung der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert sich immer noch schwertut, eine heterogene Migrationsgesellschaft zu adressieren. Oder warum ein NSU-Komplex so lange ungehindert Migrant*innen ermorden konnte und eine Bewegung wie PEGIDA möglich wurde.

Der autoritäre Charakter

Aus der Retrospektive erscheint die Zeit des Nationalsozialismus als schonungsloser Eingriff in die Sozialstruktur der Gesellschaft und den demokratischen Gemeinsinn. Dieser wurde bekanntlich dermaßen gebrochen, dass eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu Täter*innen und Mitläufer*innen der mörderischen nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dan Diner (1988) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zivilisationsbruch“, während Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1988/1944) auf die historischen Kontinuitäten und die „Dialektik der Aufklärung“ verweisen. Aufklärung ist für Horkheimer und Adorno nicht ohne eine instrumentelle Vernunft zu denken und sie zeigt sich außerdem verwoben mit einem mythischen Denken. Gewalt und Irrationalität ist der Aufklärung somit inhärent.

Wie auch immer die Einschätzung ist, es wurde recht bald nach Wegen gesucht, wie das Unerklärbare – zumindest teilweise – zur erklären ist. Bereits in den 1930er Jahren entstehen am Institut für Sozialforschung (IfS) im Exil (unter der Leitung Horkheimers) Annahmen zum autoritären Charakter, die erste Antworten zu geben versuchen. Die Anfälligkeit für faschistische Propaganda, so eine erste Grundannahme, ist weniger abhängig von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen, sondern als Reaktionen auf psychische Bedürfnisse zu verstehen. Sie sind Ausdruck einer bestimmten, autoritätsgebundenen Charakterstruktur. Es ist Erich Fromm, der maßgeblich an der Entwicklung des Konzeptes arbeitet. Er versteht darunter ein Ensemble von Einstellungen und Haltungen, das die sozialen Praxen der Individuen bestimmt. Autoritäre Persönlichkeiten neigen seiner Ansicht nach zu Vorurteilen und Stereotypen. Sie verhalten sich zudem zumeist konform und stellen die gültigen Normen nicht infrage. Gleichzeitig machen sich eine gewisse Destruktivität und ein Autoritarismus bemerkbar. Die autoritäre Persönlichkeit lehnt alles das ab, was ihr fremd erscheint. Sie zeichnet sich durch rassistische Ansichten und Praxen aus. Grundlegend ist ein vereinfachtes Weltbild, welche jegliche Form von Komplexität herunterbricht. Eine Verfälschung und Banalisierung kontingenter gesellschaftlicher Verhältnisse gehört nicht nur dazu, sondern erweist sich als konstitutiv für autoritäre Praxen (vgl. Fromm 2016).

Ohne gelingende Partizipationsprozesse wird die Demokratie, die des politisch reifen Volkes bedarf, gefährlich geschwächt.

An diese ersten Überlegungen schlossen sich die berühmten „Studien zum autoritären Charakter“ (1973/1949/50) an, die in den 1940er Jahren in den USA unter der Leitung von Adorno und R. Nevitt Sanford und unter der Beteiligung von Elisabeth Frenkel-Brunswik und Daniel J. Levinson durchgeführt wurden. Das Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Sozialforschung (IfS) und der Berkeley Public Opinion Study Group wurde finanziert vom American Jewish Committee (AJC) und trug deutlich positivistische Züge. Die Hypothese, die die Studie rahmte, nahm an, dass „die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ‚Mentalität‘ oder einen ‚Geist‘ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.“ (Adorno et al. zitiert in Friedeburg 1973, S. IX)

Die Gründung des AdB im September 1959 markiert die weitere Institutionalisierung der unabhängigen politischen Bildung in Deutschland nach der Phase der Reeducation. Hier ein historisches Foto aus der Bildungsarbeit des AdB-Mitglieds Europahaus Marienberg. Foto: Europahaus Marienberg

In den erst kürzlich von Eva-Maria Ziege herausgegebenen „Bemerkungen zu ‚The Authoritarian Personality‘“ (2019) versucht Adorno sich an einer Einbettung der Ergebnisse in eine kritische Gesellschaftsanalyse. Der Text sollte das Schlusskapitel der Studie werden, wurde aber dann nicht integriert. Das ist deswegen hier von Interesse, weil die Studie, die aktuell – auch aufgrund des Erstarkens rechter Gruppen und Parteien in Deutschland und Europa – wieder vermehrt rezipiert wird, von einem ungelösten Spannungsverhältnis durchzogen wird. Es treffen individualpsychologische und positivistische Perspektiven auf psychoanalytische Annahmen und gesellschaftskritische Analysen, die materialistisch informiert sind. So verdeutlicht Adorno in seinen „Bemerkungen“, dass die hochindustrialisierte Gesellschaft einen besonderen Typus von Individuen hervorbringt, der sich etwa an die Warenwelt anpasst und zu Konformität neigt. Nur ein Verständnis von der ökonomischen Basis und den materiellen Bedingungen unter denen die Menschen leben, ermöglicht es zu verstehen, warum es vermehrt zu Ausprägungen wie dem „autoritären Charakter“ kommt. Adorno argumentiert, dass die erlebte Entfremdung in der Warenwirtschaft des Monopolkapitalismus und die Folgen, die für die Individuen damit einhergehen, Folgen für ein Verhalten sind, das eben nicht nur individualpsychologisch oder über Mentalitätsvorstellungen verstanden werden kann.

Kann Destruktivität und Hass verlernt werden?

Der Beginn einer deutschen Politischen Bildung kann nicht auf das Ende des Zweiten Weltkrieges datiert werden, aber neben den im Exil entstanden „Studien zum autoritären Charakter“ sind die Zusammenhänge zwischen Politischer Bildung und der Reeducation-Politik nach 1945 durchaus relevant, um diese kontextualisiert verstehen zu können (vgl. Gerund/Paul 2015).

Erinnern wir uns also: Nach dem Sieg der Alliierten im Mai 1945, stellen sich die Siegermächte die Frage, wie mit den Besiegten umzugehen sei. Die unglaubliche Barbarei, der sich die Alliierten gegenübersehen (etwa ein riesiges Netz von Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslagern), stellt die Alliierten vor große Herausforderungen. Nach vielen Diskussionen, Konferenzen (etwa Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945) und politischen Debatten, wurde eine Vielzahl von Strategien entworfen und schließlich implementiert, die das Ziel verfolgten, Deutschland zurückzuführen in eine Demokratie. Die historische Forschung zum Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit gibt detailliert Auskunft über die vielfältigen Auseinandersetzungen und die differenten Umsetzungen in den von Großbritannien, der Sowjetunion, Frankreich und den USA kontrollierten Besatzungszonen. Im Zuge der Entnazifizierung nutzten die US-Amerikaner bspw. einen Fragebogen, dessen Beantwortung Auskunft geben sollte zur politischen Einstellung, zur Mitgliedschaft in relevanten Organisationen, aber auch zum persönlichen Lebensweg der Deutschen. Viele wurden in Haft genommen oder zumindest zeitweise aus dem Dienst entlassen. In einer neuen Betrachtung stellt die Historikerin Hanne Leßau (2020) fest, dass die intensiven Befragungen sehr komplexe Langzeitfolgen zeitigten, sodass nicht pauschal gesagt werden kann, die Entnazifizierung wäre gescheitert. Tatsächlich führten die intensiven Befragungen zum Teil, abhängig davon wie manifest die nationalsozialistische Ideologie im Subjekt war, auch zu Selbstzweifeln und Umdenken. Nichtsdestotrotz zeigen soziale Phänomene wie etwa das Widererstarken rechter Gruppen und Parteien, nicht zuletzt der NSU-Komplex, dass die Entnazifizierung nie vollendet wurde. Wenn von einem Scheitern freilich nicht gesprochen werden kann, so bleibt es eine demokratische Herausforderung, demokratische Gesinnungen, Praxen und Haltungen zu reproduzieren und in der Bevölkerung zu stabilisieren. Jacques Derrida (2003) spricht von der Autoimmunität, die eine Demokratie von innen heraus zerstören kann. Autoimmunität bedeutet hier, dass sich die Demokratie gegen sich selbst wendet und schließlich den Feinden der Demokratie ähnelt. Sie beginnt sich selbst zu bedrohen, um sich vor deren Bedrohungen zu schützen (vgl. Long 2003, S. 107 f.).

Die Internationale Bildungsstätte Jugendhof Scheersberg gehört zu den Gründungsmitgliedern des AdB (hier historisches Foto). Foto: Jugendhof Scheersberg

Ein besonderes Problem stellten die Schulen und hier das Lehrpersonal und die Lehrmaterialien dar. Zunächst wurden die Schulen alle geschlossen und die Schulbücher verbrannt, um zu verhindern, dass weiterhin Schüler*innen nationalsozialistisch indoktriniert wurden. War dies rasch und unkompliziert zu bewerkstelligen, stellte die Wiedereröffnung und Neuausrichtung der Schulen ein weitaus größeres Problem dar. Ein wichtiger Streitpunkt war die Frage, ob Lehrer*innen, die während des Nationalsozialismus tätig waren, nach einer Reeducation ihren Schuldienst wieder aufnehmen sollten. Ein veritables Problem, denn würde die Frage verneint, so würde dies bedeuten, dass eine gesamte Generation nicht beschult würde. Die Konsequenzen hiervon waren nicht absehbar, positiv wären sie sicher nicht ausgefallen. Anderseits glaubte kaum jemand daran, dass Menschen, die manifest nationalsozialistisch eingestellt waren, einfach umzuerziehen wären. Schließlich kam auch hier eine Entnazifizierungsstrategie zum Einsatz, die diejenigen, die nicht ganz zu tief im nationalsozialistischen Gewaltsystem verstrickt waren, die Möglichkeit gab, wieder zu lehren. Tatsächlich kann die Entnazifizierung auch als eine breite Erwachsenenbildungsstrategie unter besonders erschwerten Bedingungen verstanden werden. Reeducation betraf dabei freilich die gesamte erwachsene Bevölkerung und orientierte sich an eher kruden behavioristischen Vorstellungen von Reiz und Reaktion. So wurden kurz nach der Befreiung Menschen dazu gezwungen, sich direkt oder in Filmen das Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager anzuschauen. Gelegentlich „wurde der Bezug von Lebensmittelmarken an den Besuch von so genannten ‚Atrocity‘-Filmen geknüpft“ (Kimmel 2005). Dabei sollten wir nicht vergessen, dass, wie Liliana Feierstein bemerkt, die Reeducation als psychologische Behandlung vorgestellt wurde. Die Nation erschien als ein Patient, der an eine Paranoia erkrankt war. Die Nation zeige paranoide Züge, so wurde angenommen, und müsse entsprechend behandelt werden (vgl. Feierstein 2019, S. 201). Es ist evident, dass die Methoden, die für eine solche Behandlung zur Anwendung kamen, sehr eingeschränkt nur sein konnten. „In der Umsetzung bedeutete Re-Education zunächst die komplette Auflösung dessen, was vom deutschen Kulturbereich noch übrig war. Unter neuen demokratischen Vorzeichen sollte sich dann der Wiederaufbau anschließen.“ (Ebd.) Wir können dies als eine Politische Bildung bezeichnen, die durch Hinschauen und die Verhinderung des opportunistischen Wegschauens, welches eine breite Schicht des Mitläufertums ermöglicht hatte, zur Demokratisierung beitragen wollte (vgl. auch Tent 1982). Diese eher brachialen Methoden stießen schnell auf Ablehnung und Kritik. Zuweilen erwiesen sie sich als kontraproduktiv: Menschen widerstanden der versuchten Umerziehung und sabotierten etwa Filmdarbietungen, Vorträge oder forcierte Gespräche. Recht bald wurde deswegen die Reeducation durch eine sensiblere und auch durchdachtere Reorientation-Politik ersetzt. Bei dieser ging es darum, demokratische Prinzipien (insbesondere) pädagogisch zu vermitteln und in der Bevölkerung zu etablieren. Wir können diese ersten pädagogischen Überlegungen und Praxen als den Beginn der Politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland betrachten. Und wenn sich die Themen auch immer weiter verfeinert und aufgefächert haben, so sind die Didaktiken und Lehrpläne im Groben vergleichbar. Oskar Negt bemerkte einmal pointiert, dass die Demokratie die einzige Gesellschaftsform sei, die gelernt werden müsse, allerdings geht es nicht nur darum, was und wie gelernt wird, sondern auch wer die Lehrenden sind. Eine Beleuchtung der Begründung, Motivation und Bedingungen Politischer Bildung in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 ermöglicht ein erweitertes Verständnis für problematische Herangehensweisen. So waren die adressierten Bürger*innen nicht nur Staatsbürger*innen, sondern auch in historischer Gewalt involvierte Subjekte. Sie zeichneten verantwortlich für ein Grauen, welches nie wieder geschehen sollte. Politische Bildung hatte zu diesem Zeitpunkt nicht diejenigen im Blick, die sich nicht schuldig gemacht hatten oder gar Opfer des Systems geworden waren.

Demokratische Gewohnheiten und das „Problem der Migration“

„Je größer das in der Masse des Volkes bereits vorhandene antidemokratische Potential, um so leichteres Spiel hat faschistische Propaganda.“ (Adorno 1973, S. 13)

Die Reeducation-Politik in der US-amerikanischen Besatzungszone In der französischen Besatzungszone wurde die Reeducation übrigens als mission civilisatrice bezeichnet und verweist damit auf kolonialpolitische Strategien. Die deutsche Bevölkerung wurde wie die kolonisierten Menschen als unzivilisiert und barbarisch wahrgenommen. vertrat die Idee, dass Demokratisierung (und auch Zivilisierung) bedeutete, dem US-amerikanischen Vorbild zu folgen. Dass die USA in den 1950er Jahren noch geprägt war von „racial segregation“ und mithin in elementarer Weise menschenrechtlichen Vorstellungen widersprach blieb zumeist unerwähnt. Soziale Bewegungen und die Schwarze Bürgerrechtsbewegungen sollten erst viele Jahre später das Land grundlegend demokratisieren. Neben diesem Widerspruch sind es aber auch andere Elemente, die genauer fokussiert werden müssen, weil sie als Konsequenz der Gründungslogik heute problematisch sind. In diesen kurzen Ausführungen möchte ich nur einen Punkt herausgreifen, der mir besonders wichtig erscheint, die Annahme nämlich, dass Politische Bildung sich zunächst an die deutschen Täter*innen richtete und später an eine homogen gedachte deutsche Bevölkerung. Diese Voraussetzungen führten im Laufe der Zeit zu einer Schrägstellung der bundesrepublikanischen Politischen Bildung. In meinem Aufsatz „Überdeterminiert und reichlich komplex“ (Castro Varela 2015) stellte ich Überlegungen zu Politischer Bildung im Kontext von Postkolonialismus und Postnationalsozialismus an und fokussiere u. a. die Erinnerungsarbeit und pädagogische Arbeit in Gedenkstätten der Nationalsozialismus. Es ist auffällig wie lange hier so getan wurde, als würden die Schüler*innengruppen sich ausschließlich aus den Nachfolgegenerationen der Täter*innen zusammensetzen. Als hätte es nie Einwanderung nach Deutschland gegeben.

Die Reeducation-Politik in der US-amerikanischen Besatzungszone vertrat die Idee, dass Demokratisierung (und auch Zivilisierung) bedeutete, dem US-amerikanischen Vorbild zu folgen.

Mit Ende des Zweiten Weltkrieges führte der Bedarf an Arbeitskräften zur aktiven Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer*innen aus den Peripherien Europas und dem Maghreb. Die Bundesrepublik entwickelte sich zu einem Einwanderungsland. Die Migrant*innen, die sich in Deutschland im Laufe der Jahrzehnten niederließen, wurden nur sehr zaghaft als Adressat*innen von Politischer Bildung wahrgenommen (vgl. Castro Varela 2009). Zumeist waren sie weder (direkt) Opfer noch Täter*innen des Nationalsozialismus und sie wurden auch nicht als Teil des Demos (des Volkes) wahrgenommen. Das Dilemma, welches sich daraus ergab, wurde entweder zu lösen gesucht, indem Migrant*innen und auch People of Color als Adressat*innen der Politischen Bildung entweder ignoriert wurden oder – paradoxerweise – als die eigentliche Zielgruppe definiert wurde. Insbesondere muslimische Migrant*innen (und jene, die als Muslim*innen gelesen werden) wird beispielsweise gerne unterstellt, dass sie tendenziell zu Autoritarismus neigen und sie nicht vertraut seien mit einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit. Die Reeducation-Politik lebt also gewissermaßen weiter, nur, dass die ehemaligen Adressat*innen die Position gewechselt haben. Sie sind auf die Position der „Zivilisierenden“ gerückt. Nun prüfen sie die Gesinnung, beobachten die Praxen von denen, die nicht als zugehörig empfunden werden und sehen sich dabei selber als das Modell, dem zu folgen sei. Aus der „Erziehung der Deutschen“ (vgl. Sirois 2015) wurde eine „Erziehung der Migrant*innen“. Letztere rücken auf die Position der „unzivilisierten“ Anderen (vgl. auch Castro Varela/Mecheril 2016).

Wenn totalitäre Regime die Fantasie eines „homogenen und überlegenen Volkes“ nähren, so ist es die Aufgabe demokratischer Bildung, dieser Fantasie etwas entgegenzuhalten und demokratische Gewohnheiten aufzubauen, die die Heterogenität des Demos ernstnehmen.

Es scheint mir dringend notwendig, in diese unausgesprochene Annahme Politischer Bildung zu intervenieren. Dies verlangt nach einem Überdenken der Lehrpläne und Didaktiken, aber auch der Strukturen: Wer lehrt demokratische Prinzipien? Wer leitet Institutionen Politischer Bildung? Welche Themen werden adressiert?

Wenn totalitäre Regime die Fantasie eines „homogenen und überlegenen Volkes“ nähren, so ist es die Aufgabe demokratischer Bildung, dieser Fantasie etwas entgegenzuhalten und demokratische Gewohnheiten aufzubauen, die die Heterogenität des Demos ernstnehmen. Schließlich ist, wie Hannah Arendt es einmal pointiert ausdrückte, Pluralität eine Tatsache: „die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“ (Arendt 1958, S. 17).

Zur Autorin

Dr. María do Mar Castro Varela, Diplom-Psychologin, Diplom-Pädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gender und Queer Studies, Postkoloniale Theorie, Kritische Migrationsforschung, Kritische Bildungswissenschaften, Trauma Studien und Verschwörungsnarrative.
castrovarela@posteo.de

Literatur

Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Adorno, Theodor W. (2019): Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“ und weitere Texte; hrsg. von Eva-Maria Ziege. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Arendt, Hannah (1958/2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper
Castro Varela, María do Mar (2009): Migrationshistorisches Vakuum? Zum Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland. In: Lange, Dirk/Polat, Ayşa (Hrsg.): Unsere Wirklichkeit ist anders. Migration und Alltag. Perspektiven politischer Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 81–94
Castro Varela, María do Mar (2015): Überdeterminiert und reichlich komplex. Weitergehende Überlegungen zu Politischer Bildung im Kontext von Postkolonialismus und Postnazismus. In: Hechler, Andreas/Stuve, Olaf (Hrsg.): Geschlechterreflektiert gegen Rechts bilden! Leverkusen/Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 343–364
Castro Varela, María do Mar/Mecheril, Paul (Hrsg.) (2016): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: transcript
Derrida, Jacques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Diner, Dan (Hrsg.) (1988): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer
Feierstein, Liliana Ruth (2010): Von Schwelle zu Schwelle: Einblicke in den didaktisch-historischen Umgang mit dem Anderen aus der Perspektive jüdischen Denkens. Hamburg: edition lumière
Friedeburg, Ludwig von (1973): Vorrede. In: Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. ix–xi
Fromm, Erich (2016): Die autoritäre Persönlichkeit. München: openPublishing (ebook)
Gerund, Katharina/Paul, Heike (2015): Die Amerikanische Reeducation-Politik nach 1945. Interdisziplinäre Perspektiven auf „America’s Germany“. Bielefeld: transcript
Horkheimer, Max/Adorno Theodor W. (1988/1944): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer
Kimmel, Elke (2005): Re-Education und Re-Orientation. In: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hrsg.): Der Marshallplan. Selling Democracy; www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/marshallplan/40015/re-education (Zugriff: 14.04.2021)
Leßau, Hanne (2020): Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit. Göttingen: Wallstein
Long, Maebh (2013): Derrida Interviewing Derrida: Autoimmunity and the Laws of the Interview. In: Australian Humanities Review, 54, pp. 103–119
Sirois, Herbert (2015): Reeducation im Zeichen des US Information and Educational Exchange Act of 1948 (Smith.Mudt-Act). In: Gerund, Katharina/Paul, Heike (2015): Die Amerikanische Reeducation-Politik nach 1945. Interdisziplinäre Perspektiven auf „America’s Germany”. Bielefeld: transcript, S. 19–34
Tent, James F. (1982): Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany. Chicago: University of Chicago Press
Ziege, Eva-Maria (2019): Einleitung der Herausgeberin. In: Adorno, Theodor W.: Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“ und weitere Texte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–20