Außerschulische Bildung 2/2020

Europäische Perspektiven

Analysen und Zukunftsszenarien

Was prägt die europäische Identität und wie kann die europäische Demokratie gestaltet werden? Welche Werte sind mit Europa verbunden? In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass europäische Werte nur dann etwas wert sind, wenn sie in ein Recht gegossen sind. Aus diesem Grund wird die europäische Rechtsetzung in den Fokus gerückt und die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft verstanden, bei der der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle Bürger*innen Europas gleichermaßen gilt. von Ulrike Guérot

„Einheit in Vielfalt“ lautet das europäische Mantra schlechthin. Gerade Europa-Gegner nutzen es derzeit gerne, um dem europäischen Einigungsbemühen das Subsidiaritätsprinzip entgegenzustellen, demzufolge jede kleinere Einheit das machen soll, was sie besser kann. Der Idee der europäischen Einigung wird gerne unterstellt, sie wolle einen zentralisierten Staat und eine „Einheitssoße“ europäischer Identität schaffen, bei dem die nationalen Charakteristika verloren gingen. Aber ist das sinnvoll? Oft erscheint der Begriff Subsidiarität wie eine Chiffre, die im Grunde besagt, dass Europa im Kleinen, im Leben der Menschen vor Ort nichts zu suchen habe, sondern sich um das Große und Ganze kümmern solle. Europa, kurz gesagt, solle nicht in die Alltagsbelange der Menschen hereingreifen. Eine Demokratie aber funktioniert durch Beteiligung, nicht durch Heraushalten. Nicht umsonst drängt darum der Begriff der europäischen Souveränität vehement in die Debatte, der dem Begriff der Subsidiarität diametral gegenübersteht. Denn der Begriff der Subsidiarität ist strukturell inkompatibel mit einem europäischen Gemeinwesen, das sich prinzipiell dem Grundsatz der Rechtsgleichheit verschrieben hat, und nichts anderes ist die EU-Rechtsgemeinschaft im Kern. Als hybride EU-Rechtsgemeinschaft sichert die EU prinzipiell transnationale Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit für EU-Mitgliedsstaaten, man könnte sogar sagen, die EU ist nichts anderes als eine Rechtsgemeinschaft: „L’Europe est nulle part plus réelle que dans le domaine du droit“. So formulierte es einmal die französische Soziologin Dominique Schnapper (Schnapper 1994). Das derzeitige Gerede über europäische Identität, Werte oder Nation aber lenkt davon im Grunde ab: Werte sind nur dann etwas wert, wenn sie in Recht gegossen sind, insofern wird die Frage der europäischen Rechtssetzung zur entscheidenden Frage: Wer kann in Europa durchsetzen, was er will?

Europäische Lagerbildung

Zunehmend stehen sich zwei gesamteuropäische Lager gegenüber: das Lager der sogenannten europäischen Identitären, die sich interessanterweise paneuropäisch organisieren, wie bei dem Parteitag von Fréjus im September 2018, wo sich das französische Rassemblement National, die österreichische FPÖ, Repräsentanten der PiS oder der AfD als Nationalisten einvernehmlich für ein „Europa der Vaterländer“ ausgesprochen haben; und die links-liberale, demokratische europäische Mitte von Yanis Varoufakis bis Emmanuel Macron, die für ein offenes, demokratisches, liberales bzw. soziales Europa eintritt. Wichtig ist hier, dass der Kampf um Europa inzwischen paneuropäisch geführt wird, die politischen Strukturen dies indes noch nicht abbilden: Am 7. Februar 2018 scheiterte die Einführung sogenannter transnationaler Listen im Europäischen Parlament maßgeblich an den Stimmen der konservativen EVP. Wo der politische Frontverlauf längst pan-europäisch und transnational ist, zwängen die Strukturen die politische Auseinandersetzung gleichsam immer noch in nationale, demokratische Korsette: weder gibt es veritable transnationale Listen in Europa, noch ein europäisches Parteienstatut. Die derzeitigen europäischen Parteien sind nur Zusammenschlüsse nationaler Parteien. Anders formuliert, es gibt politischen Druck auf die nationalen Parteiensysteme in ganz Europa, sich europäisch zu organisieren. Man könnte auch sagen: Derzeit sprengt ein politischer Prozess in Europa die nationalen Parteiensysteme und die europäische Demokratie sucht sich Bahn zu brechen bzw. einen neuen politischen Körper auf europäischer Ebene zu formieren.

Werte sind nur dann etwas wert, wenn sie in Recht gegossen sind, insofern wird die Frage der europäischen Rechtssetzung zur entscheidenden Frage: Wer kann in Europa durchsetzen, was er will?

Diese europäische Politisierung ist neu. Der eher technokratische oder zweckfunktionale Charakter der EU-Rechtsgemeinschaft wurde bisher im Grunde nie bestritten. Heute aber stehen die legitimatorischen Grundlagen der EU im Mittelpunkt der Kritik. Derzeit spalten sich fast alle europäischen Staaten, ihre Parteiensysteme und die Gesellschaften entlang der Frage: Wie hältst du es mit Europa? Diese Frage ersetzt zunehmend das politische Rechts-Links-Schema: Frankreich ist gespalten entlang der Linie Emmanuel Macron vs. Marine Le Pen, Italien ist in zwei Teile zerfallen, Großbritannien ist gespalten in #Remain und #Brexit, Polen in PiS-Anhänger und Gegner, Deutschland in #PulseofEuope und Pegida usw. Die europäische Frage wird mithin zur strukturierenden Frage aller nationalen Demokratien in Europa und damit ist die Frage gestellt, ob die – inzwischen nur mehr 27 – nationalen Demokratien der heutigen EU in eine gemeinsame europäische Demokratie überführt werden können, damit die pan-europäische politische Auseinandersetzung auch institutionell auf europäischer Ebene erfolgen kann und nicht mehr in nationale Bahnen gepresst werden muss. Und wenn ja, wie?

Ohne Verfassung ist alles nichts

Die nationalen Parlamente sind nicht mehr, das europäische Parlament ist noch nicht richtig zuständig. Grundsätzlich überragt die Frage „Wer entscheidet eigentlich in Europa? Die EU oder der Nationalstaat?“ alle europäischen Debatten, egal ob in der europäischen Sicherheitspolitik, Frontex und der Flüchtlingspolitik, der digitalen Agenda, der Euro-Rettung oder beim Brexit. Eine EU-Rechtsgemeinschaft, zumal eine, die ihr Recht nicht durchsetzen kann, ist eben keine europäische Demokratie, und um deren Schaffung geht es jetzt, denn, wie Alexander Hamilton einst sagte: Ohne Verfassung ist alles nichts. Seit der gescheiterten europäischen Verfassungsdebatte ringt die EU konsequenterweise um ihre Verfasstheit! Exemplarisch soll hier verwiesen werden auf die Schwierigkeit der EU, das EuGH-Urteil zum Verteilungsschlüssel in der Flüchtlingskrise durchzusetzen, oder auch bei diversen Alleingängen der nationalen Grenzschließung angesichts der Schwierigkeiten bei der Sicherung der EU-Außengrenze. Ferner auf die Schwierigkeiten der EU, die Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Ländern (Ungarn oder Polen) zu sichern, wo sich mit Blick auf die Aushebelung der Unabhängigkeit der Justiz die Machtlosigkeit der Venedig-Kommission zeigt. Oder der im Zuge des Eurokrisenmanagements rechtlich fragwürdige Zu- bzw. Durchgriff der europäischen Troika auf Dinge, die eigentlich im Zugriffsbereich nationalen griechischen oder portugiesischen Rechts lagen (z. B. Rechte der Gewerkschaften, Tarifrecht, Steuerrecht oder Renten), was durch das „Memorandum of Understanding“ konterkariert und deswegen auch heftig kritisiert wurde.

Was prägt die europäische Identität und wie kann die europäische Demokratie gestaltet werden? Foto: Melanie Haase, Mariaspring – Ländliche Heimvolkshochschule e. V.

Entstanden ist eine Situation, in der die Rechtssetzungs- und Durchsetzungsfähigkeit der EU nicht mehr klar umrissen ist. Wie soll die EU auch in nationale Entscheidungen z. B. in Polen hineingrätschen, wenn diese vom polnischen Parlament ganz legal mit Mehrheit beschlossen wurden? Man erkennt schnell, dass die Frage der europäischen Demokratie – nämlich wie entscheiden wir legitim zusammen oder anders formuliert: Wer ist der Souverän der europäischen Entscheidungen? – vehement gestellt ist. Nationale Regierungen entziehen sich zunehmend europäischen Entscheidungen, wenn diese ihnen nicht passen. Der Rekurs auf „nationale Werte“ verklausuliert hier allzu oft den Wunsch, sich europäischer Rechtsetzung aufgrund anderer politischer Präferenzen zu entziehen.

Wenn die EU aber – mal mehr, mal weniger – Recht nicht mehr durchsetzen kann, ist sie dann noch eine Rechtsgemeinschaft? Zentral geht es heute im europäischen Diskurs um die Frage: Wer ist der Souverän in Europa? Im Sinne von Max Weber hat die EU nicht das legitime Gewaltmonopol. Es endet, je politischer der Sachverhalt – immer häufiger – an nationalen Grenzen. Die EU und die (vermeintlich) souveränen Nationalstaaten arbeiten in vielen Fällen gegeneinander. Wenn ein souveräner Nationalstaat in seiner Essenz aber nichts anderes ist, als die Fähigkeit, auf einem bestimmten Territorium Recht zu setzen und zu sanktionieren, dann sind die Mitgliedsstaaten der EU und die EU als Rechtsgemeinschaft strukturell in ihrer Rechtsetzungsfähigkeit inkompatibel, wenn beide Rechtssetzungsfähigkeit für sich beanspruchen.

Die ansonsten im Diskurs begrüßte Politisierung der EU hat darum in den letzten Monaten verstärkt den Begriff der europäischen Souveränität in den Mittelpunkt der Debatte gestellt. Nicht Integration, sondern europäische Souveränität, Einheit, Demokratie waren z. B. auch die Begriffe, die Emmanuel Macron in seinen inzwischen vier Europareden in Athen, an der Sorbonne, in Brüssel und Aachen bemüht hat. Im öffentlichen Diskurs oft unterbelichtet ist nämlich, dass viele der gängigen europapolitischen Forderungen z. B. zur Verbesserung der Eurozone-Governance nicht ohne legitimatorische Rückkoppelung funktionieren können. Die vielzitierte, schlaglichtartig kommentierte Schaffung z. B. eines „Euro-Finanzministers“ oder auch eines „Eurozonenbudgets“ – zentrale Forderungen von Emmanuel Macron – könnten erst dann gelingen, wenn dieser Euro-Finanzminister sein Euro-Budget einem Parlament gegenüber voll verantworten müsste; und dieses Parlament müsste auf Wahlrechtsgleichheit beruhen, die derzeit im EP eben nicht gegeben ist.

Nicht umsonst ist seit der Magna Charta das Haushaltsrecht das höchste Recht eines Parlamentes, intrinsisch gekoppelt an die Steuererhebungskapazität („The right to tax“) und schließlich an die Legitimität des Parlamentes („no taxation without representation“) und den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz („one person, one vote“). Nichts davon ist in der derzeitigen EU-Struktur gegeben. Die Realisierung dieser drei klassischen demokratietheoretischen Grundsätze in Europa wäre darum der Schlüssel für eine europäische Demokratie bzw. die Überführung der traditionellen EU-Rechtgemeinschaft zu einer europäischen Demokratie. In dieser Hinsicht geht es weniger um eine „Neubegründung Europas“, als vielmehr um die Komplementierung der EU um eine entscheidende Komponente, nämlich den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger*innen Europas.

„Alle Souveränität geht vom Volke aus“

„Alle Souveränität geht vom Volke aus,“ so steht es in vielen Verfassungen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Frei nach Kurt Tucholsky möchte man fragen: „Und wo geht sie hin?“ In der Tat ist die Souveränität der politischen Subjekte der EU, nämlich der europäischen Bürger*innen Europas, gleichsam im Europäischen Rat versenkt, schwer fassbar, intransparent und auch nur indirekt legitimiert. Denkt man also über europäische Souveränität nach bzw. möchte man die Frontstellung von EU und EU-Mitgliedsstaaten mit Blick auf Souveränität – verstanden als Rechtssetzungsfähigkeit – durchbrechen, dann geht es zentral um die Abschaffung des Europäischen Rates und um die Aufwertung der Souveränität der europäischen Bürger*innen als politische Subjekte durch eine vollständige Parlamentarisierung des EU-Systems inklusive Gewaltenteilung. Genau dies würde das oft beklagte europäische Demokratiedefizit beheben.

„Einheit in Vielfalt“ – AdB-Projekt „SemiFit on Citizenship Education” (Erasmus+); Projektauftakt in Almunecar, Spanien Foto: Stefanie Mayrwörger

Die Auflösung der Frage nach der Souveränität zugunsten der europäischen Bürger*innen im politischen System Europas scheitert aber maßgeblich daran, dass diese in ihrer Gänze in Europa keine Rechtsgleichheit genießen, nicht bei Wahlen, nicht bei Steuern und nicht beim Zugang zu sozialen Rechten, also vor allem in den Bereichen, die ihren Status als Bürger*innen ausmachen. Damit harrt die Grundannahme des Maastrichter Vertrages von 1992 („Ever closer Union“), nämlich, dass die EU eine „Union of States“ und eine „Union of citizens“ ist, ihrer normativen Unterfütterung. De facto ist die EU nur eine „Union of States“ und noch keine „Union of citizens“, gerade weil der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz nicht für alle europäischen Bürger*innen gleichermaßen gilt. Anders formuliert: Bezeichnet man die EU-Rechtsgemeinschaft als gemeinsamen rechtsstaatlichen Rahmen für die vier europäischen Freiheiten – Personen, Dienstleistungen, Kapital und Güter – dann bietet die EU, knapp formuliert, transnationale Rechtsgleichheit für Güter (Binnenmarkt), Kapital (Währungs- bzw. Geldgleichheit durch den Euro) und Dienstleistungen bzw. „Arbeitskräfte“ (im Unterschied zu Personen), aber nicht für Personen selbst, die in ihren bürgerlichen Belangen als Citoyen in „nationalen Rechtscontainern“ fragmentiert bleiben, aber die eigentlichen politischen Subjekte und mithin der Souverän des politischen Systems Europas sind.

In einer europäischen Demokratie – sofern diese wirklich angestrebt wird – würden die europäischen Bürger*innen zwingenderweise in einem electoral body, basierend auf dem allgemein politischen Gleichheitsgrundsatz, alle zusammen entscheiden. In seinem berühmten Buch „Le Sacre du Citoyen“ schreibt der französische Soziologe Pierre Rosanvallon (2001), dass das, was Bürger*innen zu einer politischen Einheit macht, nichts anderes ist als der Akt der „allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl.“ Derzeit wird das Europäische Parlament zwar allgemein, direkt und geheim gewählt, aber nicht gleich, denn das Prinzip „eine Person, eine Stimme“ gilt nicht, was im Übrigen auch die einschlägige Kritik des deutschen Bundesverfassungsgerichtes an der Demokratiegenügsamkeit des Europäischen Parlaments ist. Der erste konkrete Schritt zur Begründung einer europäischen Demokratie wäre also die Erstellung eines gesamteuropäischen Wählerregisters, das alle europäischen Bürger*innen, die heute in den 27 Mitgliedsstaaten gemeldet sind, von A bis Z auflistet. Warum sollte das eigentlich so schwer sein?

Institutionalisierte Solidarität

Fatalerweise wird der europäische Diskurs über europäische Bürgerschaft indes weitestgehend kulturell geführt: Selten gab es so viele Diskussionen über European citizens oder European citizenship wie heute. Fast immer aber wird versucht, dem Begriff des European Citizens eine gemeinsame europäische Identität oder ein gemeinsames, kulturelles Werteverständnis abzuringen, wobei die „Werte“ dabei selten spezifiziert werden oder sich eher auf Primärtugenden wie etwa Solidarität oder Toleranz beziehen. Sehr häufig wird dabei das Argument ins Feld geführt, dass eine europäische Demokratie nicht ohne eine „europäische Öffentlichkeit“, einen „europäischen Demos“ oder eine „gemeinsame europäische Identität“ begründet werden könne. Übersehen wird in dieser Diskussion, dass Rechtsgleichheit weder Zentralisierung, noch kulturelle Uniformierung bedeutet. Das europäische Mantra von der „Einheit in Vielfalt“ würde lediglich ausdifferenziert in „normative Einheit bei kultureller Vielfalt“, so wie dies in allen europäischen Republiken (République Française, Bundesrepublik Deutschland, Repubblica Italiana) der Fall ist, die ihren Bürgern (normativ) bürgerliche Rechtsgleichheit bieten bei kultureller Vielfalt: Korsen und Bretonen sind nicht durch eine gemeinsame Kultur, nicht einmal Sprache geeint in der République Française, sondern durch gemeinsames Recht; ebenso wird in der Bundesrepublik von Rügen bis München trotz sowohl kultureller Unterschiede als auch eines sozioökonomischen Gefälles das gleiche Arbeitslosengeld gezahlt. Dies auf Europa zu übertragen, wäre der Durchbruch zu der Idee einer Europäischen Republik, in dem normativ bestimmt wird, was es eigentlich heißt, Bürger*in einer europäischen Demokratie zu sein.

Genau darum setzt Armin von Bogdandy in seiner im Jahr 2017 erschienenen Studie über die Weiterentwicklung der EU-Rechtsgemeinschaft bei dem Begriff des Rechtsraums an, um die hybride EU-Rechtsgemeinschaft in einen politisierten, europäischen Rechtsraum zu überführen. Der Raumbegriff ist darum zentral, weil er die europäischen Bürger*innen – also die Personen – umfasst, die auf dem Territorium der heutigen EU buchstäblich ihre Füße auf den europäischen Boden stellen. Sie gleichsam in die EU-Rechtsgemeinschaft aufzunehmen, hieße, die EU-Rechtsgemeinschaft durch die Verwirklichung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes auf die politischen Subjekte der EU – die europäischen Bürger*innen – auszudehnen und damit einen politischen Rechtsraum als Grundlage für eine europäische Demokratie zu begründen: Jenseits nationaler Herkunft und kultureller Identität wären die europäischen Bürger*innen gleich vor dem Recht in ihren bürgerlichen Belangen. (Alt)Historiker weisen darauf hin, dass weder Zentralisierung noch kulturelle Einheit die zentralen, stabilisierenden Elemente von großen politischen Einheiten, z. B. des Römischen Reiches, gewesen sind, sondern Rechtsgleichheit, eine einheitliche Bürokratie sowie eine Währung.

Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz ist der Sockel jeder Demokratie, ihre notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung.

Dazu passt, dass, funktional besehen, eine Nation oder eine Demokratie – so wie heute in den europäischen Nationalstaaten verfasst – letztlich institutionalisierte Solidarität ist, also Rechtsgleichheit in sozioökonomischen Belangen (z. B. Steuergleichheit). Im Sinne des französischen Soziologen Marcel Mauss ist eine Nation letztlich nichts anderes als „institutionalisierte Solidarität“ einer Gruppe von Individuen, die sich ihrer wechselseitigen ökonomischen und sozialen Abhängigkeit bewusst wird (Mauss 2017). Dies verweist treffgenau auf die aktuelle europäische Debatte. Letztlich ringt Europa, wenn es heute bei den Vorschlägen von Emmanuel Macron um einen europäischen Finanzminister oder einen Euro-Haushalt geht, um nichts anderes als um „institutionalisierte Solidarität“.

Zum Schluss

Soll Europa wirklich, wie vielfach diskutiert und gefordert, eine Demokratie werden, dann muss der Preis entrichtet werden: der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle Bürger*innen Europas. Zumal ersten empirischen Studien zufolge die Bürger*innen gegen den Grundsatz allgemeiner Rechtsgleichheit auch in sozialen oder fiskalischen Fragen, also z. B. eine europäische Arbeitslosenversicherung, nichts einzuwenden hätten. Das Problem der europäischen Demokratie ist nicht, dass die europäischen Bürger*innen in ihrer Mehrheit dagegen sind, sondern dass sie, ungleich ihrer Vorläuferprojekte Markt und Währung, keinen ökonomischen Treiber hat, was dazu führt, dass starke politische Akteure (z. B. Banken und Industrie), die am gemeinsamen Markt und an der Euro-Währung ein dezidiertes ökonomisches Interesse hatten, an der europäischen Demokratie eben kein Interesse haben. Denn an der europäischen Demokratie ist – strictu sensu – nichts zu verdienen, sondern europäische Demokratie hat einen Preis: Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger*innen würde natürlich etwas kosten, nämlich die Verortung des „Contrat Social“, des Gesellschaftsvertrages auf der europäischen Ebene. Man kann das nicht wollen und z. B. gegen die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung sein oder über die Idee europaweiter Tarifverträge schimpfen. Aber Europa wird sozial oder es wird nicht sein und eine europäische Demokratie kann eben nicht entstehen, wenn Bürger*innen verschiedener Nationen sozial und ökonomisch gegeneinander ausgespielt werden.

Nach dem einen Markt und der einen Währung ist heute die Zeit gekommen, die eine, gemeinsame Demokratie in Europa – eine Europäische Republik – als politisches Ziel in Angriff zu nehmen, um das europäische Projekt im 21. Jahrhundert zu vollenden.

Dadurch würde zur Gleichheit der Güter im Binnenmarkt und zur Geldgleichheit (Euro) die rechtliche Gleichheit der europäischen Bürger*innen als politische Subjekte addiert: Genau dies wäre die Grundlage für eine europäische Demokratie und der Sprung in eine Europäische Republik. Dem Euro und der IBAN-Nummer müsste deswegen perspektivisch zunächst ein gemeinsames europäisches Wählerregister von A bis Z folgen, z. B. für die Europawahlen 2024; dann eine europäische Sozialversicherungs- bzw. eine Steuernummer (ESSN) für alle europäischen Bürger*innen. Die europäische Solidarität wäre institutionalisiert und nicht mehr beliebig. Dies könnte im Rahmen einer Stichtagsregelung, z. B. ab Januar 2025 geschehen, genauso wie beim Euro bzw. der IBAN-Nummer. Es könnte dabei sogar Bestandssicherung gegeben, z. B., dass die ESSN nur für ab Stichtag Geborene gilt und alle anderen europäischen Bürger*innen in ihren bisherigen nationalen Systemen verbleiben. Dies wäre ein gleichsam organischer Übergang in einen politisierten und gemeinsamen europäischen Rechtsraum und eine Gemeinschaft von Bürgern gleichen Rechts, also eine Staatsbürgergemeinschaft oder eben eine Europäische Republik. Europäische Verfassungsexperten müssten prüfen, ob dazu überhaupt eine europäische Vertragsänderung notwendig wäre. Es wäre die große Reformation Europas! Im neuen, vielmehr: vollendeten Europa – ein Markt, eine Währung, eine Demokratie – wären die Bürger der Souverän des politischen Systems, vor dem Recht wären alle gleich, das Parlament entscheidet und es gilt Gewaltenteilung. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz ist der Sockel jeder Demokratie, ihre notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung. Dafür müsste man sich nur an jene Definition der Nation von Theodor Schieder erinnern, der bereits 1964 bemerkt hat: „Nation, das heißt in erster Linie Staatsbürgergemeinschaft, nicht Sprache, Ethnie oder Kultur.“ (Schieder 1964)

Wäre das radikal? Nein, gar nicht: Wer das Manifest der italienischen Anti-Faschisten von Ventotene von 1944 liest, findet darin genau diese Forderung nach einer europäischen Staatsbürgergemeinschaft. Und auch Jean Monnet hat gesagt: „Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrieren, sondern Bürger zu einen.“ Diejenigen aber, die sich in den Status der Rechtsgleichheit begeben, die also den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für sich jenseits von Herkunft akzeptieren – so heißt es in der Definition von Cicero – begründen eine Republik. Nach dem einen Markt und der einen Währung ist heute die Zeit gekommen, die eine, gemeinsame Demokratie in Europa – eine Europäische Republik – als politisches Ziel in Angriff zu nehmen, um das europäische Projekt im 21. Jahrhundert zu vollenden.

Zur Autorin

Professorin Dr. Ulrike Guérot ist Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems und Gründerin des European Democracy Labs in Berlin. Zuvor arbeitete sie in europäischen Think Tanks und Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington und Berlin. Ihre Bücher „Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“ (2016, Dietz) und „Der Europäische Bürgerkrieg – Das offene Europa und seine Feinde“ (2017, Ullstein) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2019 erschienen ihre beiden Essays „Wie hältst du`s mit Europa?“ und „Was ist die Nation?“ bei Steidl/IFA. Im Herbst 2019 wurde sie mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring sowie dem Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung ausgezeichnet.
ded@donau-uni.ac.at

Literatur

Bogdandy, Armin von (2017): Von der technokratischen Rechtsgemeinschaft zum politisierten Rechtsraum – Probleme und Entwicklungslinien in der Grundbegrifflichkeit des Europarechts. Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2017–12
Mauss, Marcel (2017): Die Nation oder der Sinn fürs Soziale. Institut für Sozialforschung, Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Bd. 25. Frankfurt am Main: Campus-Verlag
Rosanvallon, Pierre (2001): Le Sacre du Citoyen: Histoire du suffrage universel en France (Folio Histoire). Paris: GALLIMARD
Schieder, Theodor (1964): Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften Heft 119. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag
Schnapper, Dominique (1994): La Communauté des Citoyens. Sur l’idée moderne de la Nation. Paris: Gallimard