Außerschulische Bildung 2/2020

Europäische Perspektiven

Analysen und Zukunftsszenarien

Was prägt die europäische Identität und wie kann die europäische Demokratie gestaltet werden? Welche Werte sind mit Europa verbunden? In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass europäische Werte nur dann etwas wert sind, wenn sie in ein Recht gegossen sind. Aus diesem Grund wird die europäische Rechtsetzung in den Fokus gerückt und die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft verstanden, bei der der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle Bürger*innen Europas gleichermaßen gilt. von Ulrike Guérot

„Einheit in Vielfalt“ lautet das europäische Mantra schlechthin. Gerade Europa-Gegner nutzen es derzeit gerne, um dem europäischen Einigungsbemühen das Subsidiaritätsprinzip entgegenzustellen, demzufolge jede kleinere Einheit das machen soll, was sie besser kann. Der Idee der europäischen Einigung wird gerne unterstellt, sie wolle einen zentralisierten Staat und eine „Einheitssoße“ europäischer Identität schaffen, bei dem die nationalen Charakteristika verloren gingen. Aber ist das sinnvoll? Oft erscheint der Begriff Subsidiarität wie eine Chiffre, die im Grunde besagt, dass Europa im Kleinen, im Leben der Menschen vor Ort nichts zu suchen habe, sondern sich um das Große und Ganze kümmern solle. Europa, kurz gesagt, solle nicht in die Alltagsbelange der Menschen hereingreifen. Eine Demokratie aber funktioniert durch Beteiligung, nicht durch Heraushalten. Nicht umsonst drängt darum der Begriff der europäischen Souveränität vehement in die Debatte, der dem Begriff der Subsidiarität diametral gegenübersteht. Denn der Begriff der Subsidiarität ist strukturell inkompatibel mit einem europäischen Gemeinwesen, das sich prinzipiell dem Grundsatz der Rechtsgleichheit verschrieben hat, und nichts anderes ist die EU-Rechtsgemeinschaft im Kern. Als hybride EU-Rechtsgemeinschaft sichert die EU prinzipiell transnationale Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit für EU-Mitgliedsstaaten, man könnte sogar sagen, die EU ist nichts anderes als eine Rechtsgemeinschaft: „L’Europe est nulle part plus réelle que dans le domaine du droit“. So formulierte es einmal die französische Soziologin Dominique Schnapper (Schnapper 1994). Das derzeitige Gerede über europäische Identität, Werte oder Nation aber lenkt davon im Grunde ab: Werte sind nur dann etwas wert, wenn sie in Recht gegossen sind, insofern wird die Frage der europäischen Rechtssetzung zur entscheidenden Frage: Wer kann in Europa durchsetzen, was er will?

Europäische Lagerbildung

Zunehmend stehen sich zwei gesamteuropäische Lager gegenüber: das Lager der sogenannten europäischen Identitären, die sich interessanterweise paneuropäisch organisieren, wie bei dem Parteitag von Fréjus im September 2018, wo sich das französische Rassemblement National, die österreichische FPÖ, Repräsentanten der PiS oder der AfD als Nationalisten einvernehmlich für ein „Europa der Vaterländer“ ausgesprochen haben; und die links-liberale, demokratische europäische Mitte von Yanis Varoufakis bis Emmanuel Macron, die für ein offenes, demokratisches, liberales bzw. soziales Europa eintritt. Wichtig ist hier, dass der Kampf um Europa inzwischen paneuropäisch geführt wird, die politischen Strukturen dies indes noch nicht abbilden: Am 7. Februar 2018 scheiterte die Einführung sogenannter transnationaler Listen im Europäischen Parlament maßgeblich an den Stimmen der konservativen EVP. Wo der politische Frontverlauf längst pan-europäisch und transnational ist, zwängen die Strukturen die politische Auseinandersetzung gleichsam immer noch in nationale, demokratische Korsette: weder gibt es veritable transnationale Listen in Europa, noch ein europäisches Parteienstatut. Die derzeitigen europäischen Parteien sind nur Zusammenschlüsse nationaler Parteien. Anders formuliert, es gibt politischen Druck auf die nationalen Parteiensysteme in ganz Europa, sich europäisch zu organisieren. Man könnte auch sagen: Derzeit sprengt ein politischer Prozess in Europa die nationalen Parteiensysteme und die europäische Demokratie sucht sich Bahn zu brechen bzw. einen neuen politischen Körper auf europäischer Ebene zu formieren.