Die Europäische Union zwischen Effektivität, Partizipation und Legitimation
Obwohl die Europäischen Gemeinschaften von Beginn an in all ihren Etappen stets im Krisenmodus erschienen, erlebte die Europäische Union im vergangenen Jahrzehnt doch die größten Turbulenzen ihrer Geschichte: weltweite Finanzkrise, Euro-Krise, hohe Jugendarbeitslosigkeit, Migrations- bzw. Asylrechtskrise, aufkommender Nationalismus und Rechtspopulismus in den Mitgliedstaaten, zunehmende Kriegsschauplätze wie Ukraine, Syrien, Libyen und in Schwarzafrika, Brexit mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU Ende Januar 2020 und schließlich (vorerst) das Scheitern der Haushaltsberatungen (2021–2027) der EU.
Neben den vier besonders auf Sparpolitik insistierenden Ländern Dänemark, Niederlande, Österreich und Schweden gilt auch die Bundesrepublik Deutschland trotz ihrer prinzipiellen Bereitschaft, ihren Beitrag nach dem Brexit etwas zu erhöhen, zu den Bremsern bei einem deutlich erhöhten EU-Etat. Bei den Etatberatungen blieb zudem strittig, ob Mitgliedstaaten wie z. B. Polen und Ungarn, die gegen rechtsstaatliche Normen der EU verstoßen und sich weigern, Asylsuchende aufzunehmen, durch niedrigere Auszahlungen von z. B. Agrarsubventionen sanktioniert werden sollen und können. Mit deutlichen Worten hat bereits 2016 der damalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker die Lage der EU skizziert: Im ZDF sprach er von einer „Polykrise“: „An allen Ecken und Enden brennt es.“
Trotz aller Krisen des vergangenen Jahrzehnts sehen die Menschen in Deutschland und großen Teilen Europas die EU nach wie vor überwiegend positiv.
Doch trotz aller Krisen des vergangenen Jahrzehnts sehen die Menschen in Deutschland und großen Teilen Europas die EU nach wie vor überwiegend positiv. 70 % der Deutschen halten z. B. die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für „eine gute Sache“, nur 11 % teilen diese Auffassung nicht. Dies ging jüngst wieder aus einer Umfrage des Instituts YouGov im Auftrag u. a. der Zeitung DIE WELT (vgl. Geiger/Mülherr 2019) in acht ausgewählten Ländern der EU hervor. Eurobarometerumfragen bestätigen dies weitgehend, wenn man einmal von den Ergebnissen in Großbritannien und Griechenland absieht.
Die Europawahlen 2019 und das Gerangel um den Posten der Kommissionspräsidentin
Und auch die Wahlen im Mai 2019 zum Europäischen Parlament zeigten bei den meisten EU-Befürwortern Erleichterung. Der befürchtete Rechtsruck blieb bei der Europawahl insgesamt aus, auch wenn in Italien, Frankreich, Ungarn, Polen, Tschechien, Schweden, Slowenien und Deutschland die populistischen und europakritischen Parteien deutlich zulegten. Dazu kommt, dass auf europäischer Ebene Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) deutlich Stimmen abgegeben haben. Beide großen Fraktionen verloren quer durch Europa und damit die gemeinsame Mehrheit im Europaparlament, trotz der guten Ergebnisse der Sozialisten in den Niederlanden, in Spanien und Portugal. Erfolge feierten hingegen Grüne und Liberale (ALDE & R). Gut die Hälfte der Sitze der liberalen Fraktion ging allerdings auf das Konto von Emmanuel Macron und seiner Bewegung La République en Marche, die bei zentralen sozialen Fragen andere Positionen vertritt als die Liberalen. Die Rechtspopulisten haben sich derzeit in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) im EU-Parlament zusammengeschlossen und besitzen nach dem Austritt Großbritanniens 76 von 704 Sitzen. Die polnische PiS, noch immer national Regierungspartei, ist im Übrigen nicht Mitglied der ID geworden.
Was sich allerdings dann nach den Wahlen in den EU-Institutionen abspielte, fiel selbst hartgesottenen EU-Sympathisanten schwer, wohlwollend zu kommentieren. Im Lissaboner-Vertrag heißt es noch: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“ (Vertrag über die Europäische Union, Artikel 17 Absatz 7)
Am 2. Juli 2019 schlugen die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Sondertreffen in Brüssel dann allerdings überraschend Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin vor. 27 der damals noch 28 Staats- und Regierungschefs sprachen sich für die deutsche Verteidigungsministerin aus. Nur Bundeskanzlerin Angela Merkel enthielt sich der Stimme, weil sich die Große Koalition in Berlin nicht einig war. Ursula von der Leyen (CDU) hatte sich nicht für ein Mandat im Europaparlament beworben, sie war keine Spitzenkandidatin während der Europawahl und während der Wahl nicht für dieses Amt im Gespräch. Erst am 2. Juli wurde sie überhaupt für das Amt in Betracht gezogen, da kein anderer Kandidat, keine andere Kandidatin mehrheitsfähig war.
Die Personalie Ursula von der Leyen kam für viele überraschend aus dem Rat der Staats- und Regierungschefs, der hier das Vorschlagsrecht besitzt, und widersprach nach Ansicht vieler Beobachter dem bisher gültigen Konzept der Spitzenkandidaten*innen, mit dem Wähler*innen mit ihrer Wahlentscheidung über das Spitzenpersonal der EU entscheiden sollten. Das letzte Wort hatte am 16. Juli 2019 allerdings das EU-Parlament. Dort musste von der Leyen viel Überzeugungsarbeit leisten und mit einem ehrgeizigen Programm aufwarten, aus dem die Medien insbesondere den Teil eines „Green New Deals“ im Umfang von einer Billion Euro heraushoben. Die Kommissionspräsidentin versprach, ein ehrgeiziges Programm aufzulegen, um die vordringlichen Zukunftsaufgabe der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes mutig voranzutreiben. Bis 2050 soll die EU als erster Kontinent, so von der Leyen in ihrer Antrittsrede, klimaneutral sein.
In den Etatberatungen 2021–2027 zeigte sich dann allerdings schnell, dass nach wie vor die Agrar- und Strukturpolitik Vorrang haben werde, für den „Green New Deal“ aber immerhin circa 25 % der Ausgaben zur Verfügung stehen sollten. Aber die bislang gescheiterten Beratungen zeigten, dass sich der Europäische Rat und das Europaparlament bisher selbst auf diesen Kompromiss nicht einigen konnten. Auch die Reduzierung der Auszahlungen an Länder mit EU-Rechtsverstößen fand keine Mehrheit.
Deutlich zeigte insbesondere die Berufung der neuen EU-Kommission, dass die Rechte des seit 1979 direkt gewählten Europaparlaments in den letzten Jahren zwar deutlich gestärkt worden waren, dass aber nach wie vor der Europäische Rat sich als der „Herr über die Verträge“ sieht und sich die EU nach wie vor den Vorwurf eines „Elitenprojekts“ gefallen lassen muss. Von den demokratisch verfassten Nationalstaaten und ihrer demokratischen Legitimation erscheint die EU nach wie vor weit entfernt. Die Legitimation des Europäischen Rats, also der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, geschieht höchstens indirekt über die nationalen Wahlen. Die Legitimation der Europäischen Kommission ist noch deutlich geringer, auch wenn das direkt gewählte Europäische Parlament der Wahl der Kommission zustimmen muss.
Erst jüngst haben wieder Edgar Grande (2018, S. 9) und Eckhard Lübkemeier (2019, S. 44) darauf hingewiesen, dass sich insbesondere der Europäische Rat bei Krisen immer öfter als Hüter eines intergouvernementalen Staatenbundes begreift, ja die Europäische Kommission gar zu einer untergeordneten Behörde degradieren möchte. Strittig bleibt dabei, welche Rolle die Bürger*innen in diesem Zusammenhang spielen. Erwarten sie eine stärkere Partizipation, um das Demokratiedefizit abzubauen oder sind auch sie in ihrer Mehrheit der Meinung, dass die EU immer noch im Wesentlichen ein Bündnis souveräner Nationalstaaten sei? (Vgl. ebd., S. 52) Kritiker der Demokratiedefizitthese betonen insbesondere, die Erwartungshaltung der Wähler*innen an die EU für eine „gute Politik“ (Output-Orientierung) sei ohnehin gering.
Andererseits betonen Autoren wie Edgar Grande (2018), Jürgen Habermas (2013), Claus Offe (2016) und Claus Leggewie (2017), dass sich in den letzten Jahren die Tendenz zum neuen Intergouvernalismus sogar noch deutlich verstärkt habe und dies die Reformfähigkeit der EU trotz aller gegenteiliger Bekundungen prinzipiell in Frage stelle. Grande erwähnt in diesem Zusammenhang z. B. die Auslagerung von Entscheidung in scheinbar politikferne Institutionen wie die Europäische Zentralbank oder die Eurogroup bei der Eurokrise. Nationale Parlamente würden durch deren Entscheidungen und die Zwänge der Schuldenstaaten zur Austeritätspolitik mit fatalen Folgen entmündigt. Nationale Alleingänge und die Missachtung europäischer Rechtsnormen in den sogenannten illiberalen Demokratien (Polen, Ungarn u. a.) und bei der Migrationspolitik seien ein Weiteres. Dies alles führe zu einer weiteren Spaltung in wirtschaftlich leistungsfähige Staaten des Nordens und ökonomisch schwächere Staaten des Südens, von den Verstößen gegen EU-Recht der illiberalen Staaten und der Visegrádgruppe ganz abgesehen.
Abzuwarten bleibt, ob über eine effektive Politik die europäischen Wähler*innen bis zur nächsten Wahl des Parlaments im Jahre 2024 („Output-Legitimierung“) das Vertrauen in die Union beibehalten oder doch stärkere Partizipationsforderungen stellen werden. Dabei spielen sicherlich die Migrations- und Asylrechtpolitik, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle.
Die These von der „Europäischen Identität“
Dabei hat der Europäische Rat bereits 1973 mit den damals neun Mitgliedstaaten auf seiner Kopenhagener Gipfelkonferenz die Stärkung bzw. Herausbildung einer gemeinsamen „Europäischen Identität“ und mehr Solidarität gefordert. Die seit 1992 regelmäßig durchgeführten Eurobarometerumfragen zur nationalen und europäischen Identität zeigen jedoch bis in die Gegenwart: Nur eine verschwindend geringe Anzahl der Befragten gibt an, nur eine europäische Identität zu haben, während rund 40 % beteuern, sie hätten nur eine nationale Identität. Andererseits wächst doch langsam die Zahl derer, die angeben, sowohl eine nationale als auch eine europäische Identität zu besitzen. Das Ziel einer wachsenden multiplen Identität erscheint dabei durchaus realistisch.
In der wissenschaftlichen Forschung spricht allerdings kaum jemand davon, dass es bereits jetzt einen europäischen Demos, also ein europäisches Volk gebe. Die Schuld daran wird wahlweise der historischen Entwicklung, der nationalen Identität, dem Demokratiedefizit (im Unterschied zum Nationalstaat) oder der fehlenden europäischen Öffentlichkeit, also den Medien, gegeben, die ebenso wie viele nationale Politiker*innen noch immer vorwiegend national dächten und auch so handelten. Jedoch hat die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren, also mithin das europäische Denken und Handeln, durchaus Fortschritte gemacht. Abgrenzungen zu den USA unter Donald Trump, zu Russland unter Wladimir Putin und zu China unter XI Jinping haben den Prozess beschleunigt.
Initiativen zur Mobilisierung bzw. Partizipation der Unionsbürger*innen
So wurden seitens der Kommission sowie des Europäischen Parlaments verschiedene Initiativen ergriffen, die Bürger*innen in der EU politisch zu mobilisieren. Exemplarisch kann hierfür das „Weißbuch zur Zukunft Europas“ (Europäische Kommission 2017) gelten. Die EU-Kommission wollte hiermit eine breite europaweite Debatte über die Zukunft der EU initiieren. Allerdings scheint solch ein Prozess bislang nicht so richtig in Gang gekommen zu sein. Seit Jahren veranstaltet die Kommission sogenannte Bürgerdialoge und Bürgerforen. Im Mai 2018 nahmen z. B. 80 Unionsbürger*innen aus 27 EU-Staaten an solch einem Forum teil und erarbeiteten Vorschläge für offene Online-Konsultationen. In den Medien fanden diese Foren allerdings kaum Beachtung.
Schon etwas erfolgreicher ist dagegen das im Lissaboner Vertrag beschlossene Instrument der „Europäischen Bürgerinitiative“. Durch sie können die Unionsbürger*innen bewirken, dass sich die Europäische Kommission mit einem bestimmten Thema befasst. Hierfür müssen in zwölf Monaten insgesamt eine Million gültige Unterstützungsbekundungen in einem Viertel aller EU-Mitgliedstaaten gesammelt werden. Die Bürgerinitiative ergänzt das seit dem Vertrag von Maastricht (1993) bestehende Petitionsrecht beim Europäischen Parlament sowie das Beschwerderecht beim Europäischen Bürgerbeauftragten (seit 1995). Von ihr kann allerdings erst seit dem 1. April 2012 Gebrauch gemacht werden. Typisch für ein direktdemokratisches Initiativverfahren ist die befristete Sammlung einer vorgegebenen Zahl von Unterstützungsbekundungen und die Beschränkung auf öffentliche Anliegen von allgemeinem Interesse, wie sie bei der europäischen Bürgerinitiative gegeben sind. Äußerst ungewöhnlich ist hingegen, dass sich die Europäische Bürgerinitiative an die Exekutive (Europäische Kommission) wendet, wohingegen sich direktdemokratische Verfahren in aller Regel an das jeweilige Parlament (Legislative) richten. In Bezug auf die Art der Behandlung einer Bürgerinitiative durch die EU-Kommission gleicht diese deshalb eher einer Petition: So muss sich diese mit einer erfolgreich zustande gekommenen Europäischen Bürgerinitiative lediglich beschäftigen und eine Stellungnahme zu ihr abgeben. Sie hat aber darüber hinaus keine weiteren Handlungsverpflichtungen.
Partizipative Demokratie lebt von europäischer Identität: Je mehr sich jemand neben seiner nationalen Zugehörigkeit auch als Europäer fühlt, desto eher wird er bereit sein, sich für Europa zu engagieren.
Die Petition „Wasser ist ein Menschenrecht!“ („right2water“) war die erste Bürgerinitiative, die nach eigenen Angaben Mitte September 2013 mit am Ende 1,7 Millionen anerkannten Unterzeichnern das geforderte Quorum erreichte. Damals ging es um die Frage, ob eine Privatisierung von öffentlichen Wasserbetrieben nach Binnenmarktregeln erfolgen müsse bzw. ob Ausschreibungen europaweit erfolgen müssten oder nicht. Die Kommission gab schließlich klein bei: Öffentliche Wasserbetriebe wurden tatsächlich bei europaweiten, öffentlichen Ausschreibungen aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen. Der Verein „Mehr Demokratie“ kritisiert trotzdem grundsätzlicher, dass die Europäische Bürgerinitiative derzeit kaum mehr als eine Aufforderung an die Europäische Kommission sei. Befürworter treten deshalb dafür ein, die Europäische Bürgerinitiative zu einem echten Instrument direktdemokratischer Beteiligung auszubauen und sie direkt ans Europäische Parlament zu richten.
Die Parteien und Verbände auf europäischer Ebene
Im nationalen Meinungs- und Willensbildungsprozess spielen insbesondere Parteien und Verbände eine zentrale Rolle. Sie bilden den Kernbestand einer freiheitlichen und partizipativen Demokratie.
Parteien auf europäischer Ebene sind Parteien, die auf der Ebene der Europäischen Union im Europäischen Parlament tätig sind. Zudem müssen die europäischen Parteien bei der seit Oktober 2014 eingerichteten Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen eingetragen sein. Registrierte europäische Parteien und deren politische Stiftungen auf europäischer Ebene können erst dann Finanzierungen aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union erhalten. Organisatorisch setzen sie sich aus nationalen Parteien ähnlicher politischer Richtung zusammen und sind in mehreren Mitgliedstaaten vertreten. Diese beteiligen sich in erster Linie an nationalen und regionalen Wahlen. Europapolitische Fragen spielen aber zumeist bei nationalen Wahlen eine untergeordnete Rolle.
Die europäischen politischen Parteien nominieren allerdings stets ihre Spitzenkandidat*innen für die Europawahlen, die dann im Wahlkampf ihre politischen Programme zur Zukunft Europas darlegen. Wie tragfähig dieses sogenannte Spitzenkandidatenmodell ist, wurde bereits oben dargestellt. Europäische Parteien im strengen Sinn gibt es also nicht.
Eine Ausnahme bildet allerdings Volt Europa, eine pro-europäische Bürgerbewegung mit Parteicharakter, die allerdings aufgrund entsprechender rechtlicher Bestimmungen in mehreren Ländern zusätzlich als nationale Partei registriert sein muss. Bei den Wahlen 2019 erhielt Volt Europa mit 0,7 % (in Deutschland) der Stimme lediglich einen Sitz im Europäischen Parlament. Ein Vorschlag des französischen Präsidenten Macron, auch transnationale Listen bei der EP-Wahl 2019 zuzulassen, scheiterte zudem am Europäischen Rat. Bemerkenswert ist trotzdem, dass sich die im Europäischen Parlament vertretenen Parteivertreter seit langem in transnationalen Fraktionen organisieren. Die größten Fraktionen sind die EVP (Christdemokraten), S&D (Sozialisten), Renew (Liberale und Zentristen), Grüne/EFA, ID (Rechtspopulisten und Rechtsextreme), EKR (Konservative) und GUE-NGL (Linke, Kommunisten und Linkssozialisten). Dazu kommen 29 fraktionslose Abgeordnete (Stand: 01.03.2020). Für die Integrationsfortschritte in der EU setzen sich naturgemäß die Parteien in Europa unterschiedlich stark ein. Ihre Vorstellungen von einer zukünftigen Europäischen Union gehen weit auseinander.
Ähnlich verhält es sich mit den Interessensverbänden in Europa. In Brüssel sind inzwischen nach Washington am meisten Lobbyisten auf der Welt eingetragen. Ihr Einfluss und Handeln war immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Rund 25.000 Lobbyisten sind in Brüssel regelmäßig tätig, schätzt Transparency International auf Grundlage des EU-Lobbyregisters. Sie vertreten etwa 11.800 Organisationen, von NGOs bis hin zu großen Industrieverbänden. Zwei Drittel der in Brüssel vertretenen Lobbyisten sind laut des Berichts von LobbyControl Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Lobbyagenturen oder Anwaltskanzleien. Die Schieflage führe in Extremfällen sogar soweit, dass Gesetze regelrecht von Unternehmen formuliert und diktiert würden. Auf europäischer Ebene wurde deshalb 2011 ein Transparenzregister eingerichtet. Es enthält eine Liste von registrierten Organisationen, die sich zu einem transparenten und ethischen Umgang mit Mitgliedern von EU-Parlament und Kommission verpflichten. Das Register hat freiwilligen Charakter. Einige wichtige Akteure sind bisher nicht vertreten. Da zudem keine empfindlichen Sanktionsmöglichkeiten bestehen, fehlen auch bei bereits registrierten Firmen und Organisationen oftmals vollständige und aktuelle Angaben über ihre Aktivitäten. Ende 2016 hatte die Kommission im Rahmen der „Transparenzinitiative“ eine neue „Interinstitutionelle Vereinbarung“ vorgeschlagen. EU-Kommissare und ihre Kabinette sowie Parlamentsmitglieder sollen sich nunmehr verpflichten, nur noch registrierte Lobbyisten zu treffen. Die Überprüfung der Angaben im Register sollte zudem ausgebaut und verbessert und weitere Sanktionen eingeführt werden. Der Vorschlag wurde im Laufe des Jahres 2017 im EU-Parlament und im Ministerrat diskutiert. Allerdings sah die Vereinbarung immer noch keine rechtliche Verbindlichkeit vor und der Europäische Rat ist nicht eingebunden. Durch das europäische Transparenzregister ist der Lobbyismus der Verbände jedenfalls deutlich transparenter geworden als in einem Großteil der Nationalstaaten, namentlich in Deutschland.
Das Konzept der „partizipativen Demokratie“
Partizipative Demokratie lebt von europäischer Identität: Je mehr sich jemand neben seiner nationalen Zugehörigkeit auch als Europäer fühlt, desto eher wird er bereit sein, sich für Europa zu engagieren. Hier spielt zudem die emotionale Komponente eine ganz besondere Rolle. Deshalb sollte die primäre Zielgruppe identitätsstiftender Maßnahmen junge Menschen sein. Dazu ist ein profundes Wissen über die Europäische Union und Erfahrungen mit jungen Menschen aus anderen Mitgliedstaaten essenziell.
Betrachtet man die Bildungspläne in den Mitgliedstaaten, so muss leider immer noch festgestellt werden, dass eine „Europakunde“ eher eine marginale oder nur Querschnittsaufgabe darstellt. Noch immer steht insbesondere die Herausbildung einer nationalen Identität über den Geschichtsunterricht, der in der Regel einen breiten Raum einnimmt, im Vordergrund. Selten gibt es für Europa einen eigenen Fachunterricht, sei es in „Civic Education“ oder – wie in Deutschland – im Fach „Sozial- bzw. Gemeinschaftskunde“. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren immer stärker ein eigenständiger Ökonomieunterricht den bisher schon beschränkten Raum der Sozialkunde usurpierte.
Betrachtet man die Bildungspläne in den Mitgliedstaaten, so muss leider immer noch festgestellt werden, dass eine „Europakunde“ eher eine marginale oder nur Querschnittsaufgabe darstellt.
Außerdem ist es in solch einem Unterricht durchaus nicht selbstverständlich, wie es in Deutschland sein sollte, Multiperspektivität und Diskussions- und Schülerorientierung walten zu lassen. Viel zu oft bleibt die jeweils nationale Perspektive dominant, insbesondere in den osteuropäischen Staaten, die erst seit wenigen Jahren ihre nationale Souveränität wiedergewonnen haben.
Angesichts horrender Zahlen im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Süden drohen sich aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit Generationen vom europäischen Integrationsgedanken abzuwenden, auch wenn sie mangels beruflicher Berufsaussichten überlang im Bildungssystem geparkt werden.
Jugend-EU-Programme zur Förderung der europäischen Integration
Immerhin kann die EU mit ihren nun schon seit mehr als 30 Jahren währenden Erasmus-Programmen zum Studien- und Arbeitsaufenthalt mit mehr als nun Millionen Beteiligten eine Erfolgsgeschichte vorweisen. Geplant ist, bis 2025 die Zahl der Erasmus+ Teilnehmer*innen zu verdoppeln. Schon seit geraumer Zeit wurden hierbei neben Studierenden auch Auszubildende, Praktikant*innen und Lehrkräfte eingebunden.
Zudem hat die Kommission 2018 immerhin 15.000 kostenlose Interrail-Tickets an 18jährige Unionsbürger*innen verteilt. Eine Ausdehnung, z. B. als Angebot an alle junge Erwachsene, scheiterte bislang allerdings stets an den Kosten.
Will man junge Europäer*innen wirklich ernst nehmen, bedarf es dazu den Willen zum Zuhören und Kommunizieren. Zu diesem Zweck initiierte die Europäische Kommission die Unterstützung von Jugendbeteiligungsprojekten, den sogenannten Strukturierten Dialog, der seit 2019 Jugenddialog heißt und zum Ziel hat, Politik jugendgerecht zu gestalten, junge Menschen dabei zu unterstützen, selbst aktiv zu werden und dies im Austausch mit politischen Entscheidungsträgern. Solche Projekte können umfassen: (1) Diskussionen zu den Themen des EU-Jugenddialogs und der EU-Jugendstrategie; (2) Aktivitäten zur Vorbereitung des offiziellen Jugendevents der jeweiligen EU-Ratspräsidentschaft; (3) Events im Zusammenhang mit der Europäischen Jugendwoche; (4) Treffen zur Diskussion und Information über das Thema „Partizipation am demokratischen Leben“; (5) Konsultationen junger Menschen zu ihren Bedürfnissen im Bereich Partizipation; (6) Simulationsspiele, die die Funktionsweise demokratischer Institutionen und Prozesse darstellen.
Regelmäßige Konsultationen der jungen Menschen und der Jugendorganisationen auf allen Ebenen in den EU-Ländern sind ebenso Teil des Strukturierten Dialogs wie ein Meinungsaustausch zwischen Jugendvertretern und politischen Entscheidungsträgern auf den EU-Jugendkonferenzen. Letztere werden von den Ländern ausgerichtet, die gerade den EU-Ratsvorsitz innehaben. Zusammenfassend konnte die Evaluierung des Strukturierten Dialogs bis 2014/2015 in Deutschland (vgl. Feldmann-Wojtachnia/Tham 2016) zeigen, dass die Projektorientierung des Strukturierten Dialogs dem Partizipationsverständnis der Akteure im Bereich der Jugend- und Bildungsarbeit weitgehend entspricht. Die Projekte bieten eine gute Möglichkeit, ein breites Spektrum auch von nicht politikaffinen Jugendlichen zu erreichen, sie für politische und gesellschaftliche Themen zu interessieren sowie zur Teilhabe zu motivieren. Die Projekte tragen zum Empowerment von Jugendlichen bei und sensibilisieren junge Menschen nachhaltig für Inhalte und Anliegen der EU-Jugendpolitik. Die Evaluation ergab jedoch auch, dass sich die Verantwortlichen insgesamt mehr Verbindlichkeit in Bezug auf das Feedback und die Einbindung relevanter politischer Akteure als wichtige Erfolgsbedingungen für den Strukturierten Dialog wünschen. Die Projekt- und Veranstaltungsorientierung steht jedoch im Widerspruch zum Anspruch einer Verstetigung dieses Dialogs. Vorschläge haben zudem längst keinen verbindlichen Charakter.
Berechtigte Skepsis bei der Durchsetzbarkeit deliberativer Partizipation in der EU
Wesentlich weitergehende Vorschläge zur Partizipation und Deliberation der Unionsbürger*innen vertreten in Erweiterung dazu Autoren wie z. B. Jürgen Habermas, Claus Offe und Claus Leggewie. Als Voraussetzung dafür nennen sie die „Politisierung des Dialogs von unten durch die Zivilgesellschaft“.
Jürgen Habermas äußerte sich bereits 2011 in „Zur Verfassung Europas“ dazu sehr skeptisch: Eine soziale Bewegung liege nicht in der Luft (vgl. Habermas 2011). In der Folge der Eurokrise wandten sich soziale Bewegungen in den südlichen Mitgliedstaaten sogar eher von Europa ab (vgl. Grande 2018, S. 12).
Angesichts horrender Zahlen im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Süden drohen sich aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit Generationen vom europäischen Integrationsgedanken abzuwenden, auch wenn sie mangels beruflicher Berufsaussichten überlang im Bildungssystem geparkt werden.
Ideen zur direkten Intervention in den europäischen Politikprozess wären etwa europaweite Referenden (Grande). Diese erscheinen derzeit jedoch weder im Europäischen Rat noch im Europäischen Parlament mehrheitsfähig ebenso wenig wie die Direktwahl des Präsidenten der Kommission. Eckhard Lübkemeier (2019, S. 52) nimmt sogar an, dass die relativ schwache Beteiligung der Unionsbürger*innen ein Beleg dafür sei, dass die Funktion des Europäischen Parlaments wenig populär sei und bei Europawahlen stets nationale Themen im Vordergrund stünden. „Wäre jedoch das Demokratiedefizit ein brennendes Anliegen der europäischen Bevölkerungen, hätten es die Parteien leichter gehabt, für eine stärkere Wahlbeteiligung zu mobilisieren.“ (Ebd.)
Claus Leggewie (2017) weist dagegen in seiner Publikation „Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung“ seitenweise auf paneuropäische und transnationale Vereinigungen und Publikationen hin, in denen er durchaus Chancen für eine Graswurzelbewegung für Europa und eine Politisierung der Thematik sieht. Der in den Medien am meisten beachteten Bewegung Pulse Of Europe steht er allerdings ebenso wie Ulrike Guérot skeptisch gegenüber: „Das ist so eine Art bürgerliches Kaffeetrinken geworden was da gerade passiert. Man stellt sich bei schönem Wetter auf den Berliner Gendarmenmarkt, es ist freundlich und gemütlich, die Leute haben ihre Kinder dabei, blau-gelbe Luftballons schweben über allem. Das ist das traditionelle Bildungsbürgertum, das ein Zeichen setzen will, weil es durch die akute Gefahr des Rechtspopulismus aufgewacht und ernsthaft besorgt ist.“ (Guérot zit. nach Leggewie, 2017, S. 199)
Die Entstehung einer europäischen Graswurzelbewegung und damit auch die Stärkung der Partizipation und der Legitimierung der Europäischen Union, so ist zu vermuten, ist dabei eng damit verbunden, ob es ihr glaubhaft gelingt, Vorschläge zur Lösung aktuell zentraler Dysfunktionalitäten in der EU vorzuschlagen, Lösungen zu vorzulegen oder zumindest Ansätze zur Abmilderung mehrheitsfähig zu machen: (1) Jugendarbeitslosigkeit; (2) Migrations- und Asylrechtsreform; (3) nachhaltige Entwicklung/Maßnahmen gegen den Klimawandel; (4) Ungleichheit zwischen und in den Mitgliedstaaten; (5) Geschlechtergleichstellung; (6) Sozialstaatliche Absicherung; (7) EU-weite Durchsetzung rechtsstaatlicher Maßnahmen; (7) partizipative Mitwirkung am demokratischen Prozess der EU. Dies bedeutete sowohl eine Input- als auch eine Outputorientierung.
Zu vermuten bleibt, dass dies der immer noch im Wesentlichen intergouvernementalen Europäischen Union mit ihren nationalen Egoismen und Medien kaum gelingen wird, wenn auch zu hoffen bleibt, dass die gewählten EU-Institutionen zunehmend erkennen, dass sie die Partizipationsmöglichkeiten der Unionsbürger*innen deutlich ausweiten muss, um auf Dauer ihre Legitimation nicht zu verlieren.
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