Oder: warum die nonformale politische Bildung gerade hier eine wichtige Aufgabe hat!
Die außerschulische politische Bildung kann also, so könnte man meinen, davon ausgehen, dass Jugendliche in der Schule dem unbestritten wichtigen Thema Europa bzw. der Europäischen Union irgendwie begegnet sein müssten und sie sich folglich auf ihre eigenen Kernaufgaben und pädagogischen Selbstverständnisse konzentrieren könnte. Warum dies nicht der Fall ist und warum die nonformale politische Bildung hier ein besonderes Handlungsfeld hat bzw. haben sollte, sollen die folgenden kurzen Hinweise mit Verweisen auf aktuelle Forschungen verdeutlichen.
Politische Bildung in der Schule: ein randständiges Fach
Der Bildungsbereich wird in den einzelnen Bundesländern nicht nur unterschiedlich bezeichnet und zum Teil mit anderen Fächern kombiniert (z. B. Politik/Wirtschaft), sondern muss vor allem auch mit einer marginalen Stundenausstattung auskommen (vgl. Gökbudak/Hedtke 2018, S. 2 f.). In der Sekundarstufe I stehen im bundesweiten Durchschnitt etwa nur 2,2 % der Stundentafel für diesen Bildungsbereich zur Verfügung. Auf Grund der Differenz zwischen den einzelnen Bundesländern kann von einer „Gleichwertigkeit des Rechts von Kindern und Jugendlichen auf politische Bildung in der Schule keine Rede sein.“ (Ebd.) Diese Problemlage verschärft sich zusätzlich, wenn die unterschiedlichen Schularten und die damit korrespondierenden sozial-strukturellen Zusammensetzungen in den Blick genommen werden. So profitieren vor allem Gymnasialschüler*innen „nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von den hochwertigeren Angeboten der politischen Bildung. (…) Dies ist an den anderen Schulformen nicht nur seltener der Fall, sondern zugleich wird der Politikunterricht dort eher als langweilig, oberflächlich oder kompliziert wahrgenommen.“ (Achour/Wagner 2019, S. 1 f.)
Politische Bildung in der Schule: zu viel fachfremder Unterricht
Qualität steht auch in einem engen Zusammenhang mit Qualifikationen. In Bezug auf einen fachfremd unterrichteten Politikunterricht kommt eine Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) beispielsweise für das Bundesland Nordrhein-Westfalen u. a. zu folgendem Ergebnis: In Nordrhein-Westfalen „wird das Fach Politik in der Hauptschule zu 85,6 Prozent fachfremd unterrichtet, in der Sekundarschule zu 81,7 Prozent, in der Realschule zu 62,7 Prozent, an der Gesamtschule zu 64,7 Prozent und an den Gymnasien zu 27,2 Prozent. (…) Es ist davon auszugehen, dass auch in den weiteren Bundesländern der Anteil fachfremden Unterrichts in politischer Bildung (…) hoch ist.“ (Lange 2018, S. 5) Auch wenn fachfremd unterrichteter Politikunterricht nicht per se der schlechtere Politikunterricht sein muss, weist Raphaela Porsch auf der Grundlage zahlreicher Studien zu unterschiedlichen Fächern darauf hin, dass fachfremd unterrichtende Lehrer*innen „Schwierigkeiten im Klassenmanagement“ haben können und eine „eingeschränkte Methodenvielfalt im Unterricht zeigen“, ihnen „die Förderung von leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern im Vergleich zu ihren Fachkolleginnen und -kollegen weniger gut“ gelingt, sie „eventuell keine adäquaten Lehr-Lernüberzeugungen bzw. Überzeugungen über das Fach bzw. den zu vermittelnden Gegenstand“ besitzen, sie „häufig ihr fachbezogenes Wissen und unterrichtliches Handeln selbst als unzureichend einschätzen“ und zur Kompensation „Strategien wie das Auswendiglernen von Inhalten“ anwenden und sie, sofern sie fachbezogene Wissenslücken bei sich wahrnehmen, „geringe selbstbezogene Überzeugungen besitzen“ (Porsch 2016, S. 26 f.).
Das Thema EU/Europa in den Lehrplänen: ein Flickenteppich mit Leerstellen
Eine vergleichende Studie der Europäischen Akademie Berlin (vgl. Geyr et al. 2007) kam vor einigen Jahren noch für alle Fächer und Schulstufen zu dem ernüchternden Ergebnis, dass je nachdem, wo ein/e Schüler*in wohnt, sie in der Schule unterschiedlich viel von Europa mitbekommen. Im Fach Politik – so die Studie – reichte die Spannbreite etwa von Rheinland-Pfalz, das als Umzugsland für jene empfohlen wird, die ihren Kindern europäisch orientierte Bildung angedeihen lassen wollen, bis zum Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, bei dem das Thema eher einen geringen Stellenwert einnahm. Zu einer etwas anderen Gesamteinschätzung kommen heute Hedtke et al. (2020) auf der Basis einer (bisher unveröffentlichten) Curriculumanalyse des sozialwissenschaftlichen Lernfeldes in den sechs bevölkerungsreichsten Flächenbundesländern. In Bezug auf das Vorhandensein von europapolitischen Inhalten und Kompetenzen in den gymnasialen und nichtgymnasialen Sekundarstufen gehen sie insgesamt von einer guten Repräsentanz aus. Dieser Zusammenfassung ist – bei aller Unterschiedlichkeit in Bezug auf die einzelnen Bundesländer und Sekundarstufen – aber nur dann zuzustimmen, wenn das Thema Europa bzw. die Europäische Union lediglich als ein Thema unter vielen anderen begriffen und nicht in seiner grundlegenden Bedeutung für die politische und demokratische Struktur verstanden und eingeordnet wird. Auf europäischer Ebene, so eine Studie der EU, ist in der Hälfte der Mitgliedsstaaten Europabildung in der Schule im Gesetz verankert und mit der Aufforderung verbunden, die EU in mindestens einem Fachbereich der Primar- und Sekundarbildung zu integrieren. Die Studie diagnostiziert dabei große Unterschiede zwischen den Ländern in der Kenntnisvermittlung über die EU. Neben einer starken Fragmentierung in den Lehrplänen gibt es zudem nur wenige Belege für eine progressive Europabildung, die Schüler*innen von grundlegenden Tatsachen zu einem komplexeren Verständnis der EU führt. Umfang und Form der Vermittlung ist zudem stark von der politischen Konstellation in den jeweiligen Ländern und vom Engagement und Interesse der Lehrpersonen abhängig (vgl. Europäische Union 2013).
Europapolitische Bildung in der Schulpraxis: zahlreiche Grunddilemmata
Aus der Analyse der konkreten Schul- und Unterrichtspraxis lässt sich in Bezug auf eine europapolitische Bildung – nicht nur für Deutschland – ein ganzes Bündel an spezifischen Herausforderungen und Problemen beschreiben: Europapolitische Bildung wird allzu oft als beliebiger, verordneter und eher unwichtiger Unterrichtsstoff von den Lehrkräften verstanden; wird oftmals in fragmentierter und kurzer Form angeboten; leidet als Randthema unter Zeitmangel; ist vielfach als Unterrichtsstoff ein unpopuläres Thema unter Schüler*innen; verfügt über unendlich viele didaktische Materialien, die Lehrkräfte als überfordernd einschätzen und erscheint auch für Lehrkräfte oft zu weit weg, nicht erlebbar und gestaltbar.
Europabezogenen Lehramtsausbildung: ein Trauerspiel
Die Schwierigkeiten einer europapolitischen Bildung in der Schule, der Vorrang institutionenkundlichen Lernens und ein mangelndes Interesse können auch in den unzureichenden Qualifikationen der Lehrkräfte begründet sein. So kommt Monika Oberle (2015/2017) in ihrer Studie zur europapolitischen Bildung in der Schule auf der Basis einer Lehrer*innenbefragung zu dem Ergebnis, dass die Thematik nur randständig bis gar nicht vorkommt. Bei nur 3,5 % der befragten Lehrkräfte wurde der Gegenstand während des Studiums sehr ausführlich und bei 17,6 % ausführlich behandelt. Bei 38,2 % war es ein Thema am Rande und bei 40 % kam diese Thematik überhaupt nicht vor. Unter fachwissenschaftlicher Perspektive wurde es bei etwas über 80 % der Lehrkräfte während des Studiums nur am Rande oder gar nicht thematisiert und unter fachdidaktischer Perspektive erhöht sich der Prozentsatz auf 98,3 %. Auch während der Zeit im Studienseminar wird diese Problematik nicht korrigiert, denn auch hier verweisen 82,8 % der Lehrkräfte auf eine Randstellung bzw. auf eine Nichtthematisierung.
Schlussfolgerungen
Das hier vorgetragene Drama ist selbstverständlich nur eine allgemeine Einschätzung und wird dem Engagement zahlreicher Schulen und Lehrkräfte nicht gerecht. Es sollte auch nicht als Bestätigung jener Vorurteilsstrukturen verstanden werden, die aus dem Feld der außerschulischen Bildung gegenüber der Schule vorgetragen werden. Für die Schule und die Praxis der Lehramtsausbildung lassen sich aus dieser kurzen Beschreibung zahlreiche Konsequenzen ableiten, die einer weiteren Aufarbeitung bedürfen.
Für die nonfomale europapolitische Bildung sollte sich daraus aber mindestens eine intensivierte Angebotsstruktur zu europapolitischen Themen, eine optimierte Kooperationsstruktur mit Schulen, eine bildungspolitische Offensive im Interesse von Kindern und Jugendlichen und im Interesse der europäischen Idee sowie ein verstärktes Qualifizierungsangebot in Kooperation beider Bereiche ergeben.
Zum Autor
ballhausen@idd.uni-hannover.de