Außerschulische Bildung 2/2021

Mehr als nur Fiktion

Storybasierte Methoden und ihre Chancen in der Bildungspraxis

Storybasierte Methoden erfreuen sich in der politischen Bildung zunehmender Beliebtheit. Sie regen zur (Selbst-)Reflexion an und ermöglichen uns, neue Perspektiven zu entdecken und Visionen zu entwickeln. Sie knüpfen an das unmittelbare Lebensumfeld an und repräsentieren gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen auf kreative Art und Weise. Die Verknüpfung von fiktionalen Geschichten und gesellschaftspolitischen Themen bieten vielfältige Chancen für die Bildungspraxis. von Dana Meyer
„Ob Pandemien, Klimakatastrophen oder strukturelle Ungleichheiten/-wertigkeiten – Die Erde steckt in zahlreichen Krisen! Nun kündigt sich auch noch eine weitere kosmische Bedrohung an! Aufgrund von unvorhergesehen Umlaufbahnveränderungen drohen in Kürze Kometen mit vernichtendem Ausmaß auf die Erde zu schlagen! Nun scheint aber tatsächlich Hilfe in Sicht: Ein Kollektiv von Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt hat eine Maschine entwickelt, die mit Hilfe eines Kantolit-Kristalls einem Menschen beliebige Superkräfte verleihen kann. Das Problem? Der Kristall wird durch den Vorgang vernichtet und es gibt nur ein einziges Exemplar! Bevor die Technologie und dessen Möglichkeit der Weltpolitk als mögliche Rettung präsentiert werden, soll nun ein von dem Wisssenschaftskollektiv einberufenes unabhängiges Expert*innengremium allen Fragen gemeinsam nachgehen, die dieses Vorhaben aufwirft. Du bist Teil dieses Gremiums und du wirst in mehreren Phasen um Entscheidungen und Diskussionsbeiträge gebeten. Bist du bereit?“

Storybasierte Methoden – Der Blick auf die Welt durch „andere Welten“

Geschichten umgeben uns, sind Teil des kulturellen Lebens und repräsentieren gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen auf kreative Art und Weise. Kein Wunder also, dass Menschen seit jeher fasziniert von ihnen sind. Ungeachtet ob fiktional oder historisch-biografisch: Geschichten fesseln und sind nicht ohne Grund eines unserer liebsten Zeitvertreibe in Form von Romanen, Filmen oder Videospielen.

Neben ihrem Unterhaltungswert können uns Geschichten aber auch zur (Selbst-)Reflexion anregen und uns neue Blickwinkel, Visionen und Perspektiven eröffnen. Und genau hier setzen die storybasierten Methoden in der (politischen) Bildung an.

Die Verknüpfung von fiktionalen Geschichten und gesellschaftspolitischen Themen bieten einige Chancen für die Bildungspraxis.

Die Verknüpfung von fiktionalen Geschichten und gesellschaftspolitischen Themen bieten einige Chancen für die Bildungspraxis:

Es gibt bereits zahlreiche Studien aus Pädagogik, Bildungswissenschaft, Psychologie und Neurobiologie die aufzeigen, dass Bildungsinhalte besser und vor allem nachhaltiger verarbeitet werden, wenn mehrere Sinne – fernab der kognitiven Faktenverarbeitung – angesprochen werden (vgl. u. a. Damasio 1999; Giessen 2009). Durch Geschichten und ihre Kombination mit bildhafter Sprache und erzeugten Emotionen werden die Grenzen kognitiven und empathischen Lernens aufgehoben. Politische Bildung, die den Anspruch hat, Emotio & Ratio gleichermaßen als Teil des politisch handelnden Wesens zu betrachten (vgl. Schröder 2017), kann in dem reflektierten Einsatz von Geschichten in der Bildungsarbeit einen Türöffner zu entsprechenden Diskursen sehen.

Foto: Arek Socha/Pixabay; https://pixabay.com/de/service/license

Geschichten schaffen die nötige Motivation, sich auf komplexe Themen und Prozesse einzulassen. Teilnehmenden fällt es oft nicht leicht sich zu artikulieren, weshalb sie (sich) weniger (trauen zu) partizipieren. Dies resultiert häufig aus erlernten Mustern in formalen Bildungszusammenhängen, die in der kurzen Dauer außerschulischer Formate nur schwer aufgebrochen werden können. So geraten viele spannende Diskurse ungewollt ins Stocken. Storybasierte Zugänge können helfen, die Teilnehmenden geradezu unbemerkt in den gewollten Diskurs und Reflexionsprozess eintreten zu lassen. Dadurch, dass der Lernprozess als solcher weniger sichtbar ist, um etwaige Blockaden auszulösen, wird eine hohe Motivation zum Mitmachen und „Dranbleiben“ generiert.

Geschichten schaffen die nötige Motivation, sich auf komplexe Themen und Prozesse einzulassen.

Die von der Geschichte erzeugte Empathie für Charaktere, die eigenen Assoziationen zu den Ereignissen innerhalb der Story und die erlebten Emotionen in Verbindung mit den Informationen, ermöglicht es unserem Gehirn, komplexe Sachverhalte einfacher zu verarbeiten und zu reflektieren. So können Geschichten insbesondere bei sonst sehr abstrakt wahrgenommenen Themen helfen, Transfers zu eigenen Lebenswelten herzustellen.

Geschichten und die darin enthaltenen Charaktere und Ergebnisse können als Sprachrohr für eigene Erfahrungen dienen. Für viele Teilnehmende ist es schmerzhaft, über eigene Erfahrungen zu berichten, insbesondere, wenn es um Themenfelder wie soziale Ungleichheit und Diskriminierung geht. In diesem Fall können Geschichten und die darin enthaltenen Figuren als Avatare für den Diskurs dienen, denn das Sprechen über (fiktionale) Figuren und Ereignisse ermöglicht eine distanzierte, aber dennoch sichtbare Artikulation der eigenen Perspektive.

Geschichten bieten die Möglichkeit der multiperspektivischen Betrachtung. In der Fiktionalität liegt außerdem das Potenzial, die herkömmlichen überrepräsentierten Narrationen aufzubrechen und zu erweitern, die sich aus einer normierenden eurozentrischen, weiß-dominierten und patriarchalen Perspektive speisen.

Geschichten werden geteilt! Wenn wir in der politischen Bildung also wollen, dass die Teilnehmenden auch außerhalb des Teilnehmendenkreises über das Erlebte berichten und damit wiederum Andere zum kritischen, politischen Diskurs motivieren, können Geschichten bei dieser Multiplikation einen wichtigen Beitrag leisten.

Ein Blick in die Praxis: Wie aus einer bekannten Methode eine „Superheld*innen-Schmiede mit ganz schön vielen philosophischen Fragen“ wurde

Geschichten bieten also eine umfassende und gleichsam sehr niedrigschwellige „Reflexionsbühne“. Wie können wir sie nun konkret in unsere Praxis einbinden?

Um dies zu verdeutlichen, gehen wir zurück zu unserer Eingangsstory. Hierbei handelt es sich um ein etwas verkürzt dargestelltes Intro der Methode „Mission X-Gamma.2“, bei der es u. a. um die Erprobung und Reflexion von verschiedenen Entscheidungsprozessen und -verfahren und deren Legitimation innerhalb einer Demokratie geht.

Letztendlich fußt die Methode auf der klassischen Frage „Was brauche ich auf einer einsamen Insel?“ Dazu gibt es auch schon einige methodische, aber nicht in eine Geschichte eingebundene Ansätze in der politischen Bildung. Der Ansatz von „Mission X-Gamma.2“ ist es nun, dieses Szenario und die damit verbundenen Bildungsinhalte in ein spannendes Setting für junge Menschen zu transferieren und eine Geschichte zu erzählen, die erweiterte thematische Anknüpfungspunkte für Reflexionen enthält. Wie kam es bei der Suche nach einem adäquaten Setting zu der Entscheidung für eine Superheld*innenstory?

Zur Herleitung: Um gute, spannende und vor allem funktionierende und ansprechende Geschichten zu erzählen, gibt es jede Menge Tipps und Tricks für jeden erdenklichen Entwicklungsschritt (vgl. z. B. Fuchs 2018). Die drei wesentlichen Aspekte, die zu Beginn jedes Storyentwicklungsprozesses (und vor allem im Rahmen von Bildungskontexten) stehen sollten, sind:

  1. Der/die Autor*in muss selbst Spaß an der Story haben! – Im Fall von „Mission X-Gamme.2“ hat die Autorin ein großes, nerdiges Interesse an Sci-Fi und Geschichten, in denen es explizit nicht die heteronormativen, patriotischen, weißen Männer sind, die die Welt auf die immer gleiche Art und Weise „retten“ (wollen).
  2. Die Geschichte sollte für das (Bildungs-)Thema genug Anknüpfungspunkte und damit Reflexionsoptionen bieten. Superheld*innenstorys sind aktuell nicht nur popkulturell allgegenwärtig und beliebt, sondern bringen auch ein enormes Reflexionspotenzial mit sich. Dies wird nicht zuletzt durch die zahlreichen (auch in Social Media geführten) Debatten darüber deutlich, welche Superheld*innen aus welchem Grund „die besten“ oder „gerechtesten“ etc. seien. Dabei werden auch die diversen Hintergründe der Figuren, ihre Privilegien und gesellschaftlichen Positionierungen mitreflektiert.
  3. Es braucht den Mut, erst einmal loszulegen, um kreative Prozesse in Gang zu setzen! Geschichten müssen sich entwickeln dürfen! Geschichten sind nie fertig. Immer wieder kommen neue Ideen, enthüllen sich Fallstricke oder werden Leerstellen deutlich. So ist auch Mission X-Gamma.2 die Weiterentwicklung einer vorherigen Variante, die im Sinne von Kongruenzen, verbesserten Spannungsbögen weiterentwickelt und um zusätzliche Plot-Linien für weitere Bildungsinhalte und Reflexionseinheiten ergänzt wurde.

Diese Punkte beherzigend, war die Geschichte schnell zu Papier gebracht und fügte sich gut in den methodischen Ablauf ein, der hier überblicksartig skizziert wird:

In einer ersten Phase kommen die Teilnehmenden nach dem oben beschriebenen Intro zusammen. Dieses wird unterstützt von einer futuristischen Präsentation und immersiven Spielmaterialien. Als Kommission werden die Teilnehmenden gebeten über die erste Frage der Wissenschaftler*innen zu beraten, damit diese das bestehende Konzept weiter ausarbeiten können. Die Frage lautet: „Wenn wir die Möglichkeit haben, einem Menschen Superkräfte zu implementieren, welche drei sollten es im Hinblick auf die globalen Krisen und Herausforderungen sein?“ Dieser Frage können die Teilnehmenden in drei Entscheidungsvarianten (analog zum Insel Setting) nachgehen. Dazu bekommen sie eine Auswahl an Superkräften mithilfe visuellen Materials (wie z. B. designte Schaukarten) zur Verfügung gestellt. Am Ende dieser Phase werden die Ergebnisse aus den verschiedenen Entscheidungsvarianten miteinander verglichen und dahingehend reflektiert, wie gerecht, sinnvoll und demokratisch legitimiert sie erachtet werden. Hierbei können ferner auch gesellschaftspolitische Verhältnisse (inkl. Macht und Privilegien) und dessen Einfluss auf Partizipationsmöglichkeiten sowie die Unterschiedlichkeit politischer Systeme und deren Strukturen thematisiert werden.

Foto: Arek Socha/Pixabay; https://pixabay.com/de/service/license

In einer zweiten Phase wird die Geschichte weitererzählt. Texte werden vorgetragen und durch Bilder/Grafiken im Rahmen der Präsentation unterstützend visualisiert. In diesem Zusammenhang bitten die Wissenschaftler*innen die Teilnehmenden (je nach Größe der Gruppe im Plenum oder in Kleingruppen), über eine weitergehende, sehr philosophische Frage zu diskutieren: „Können und sollten wir unser Vorhaben überhaupt weiterverfolgen und der Welt als Option präsentieren?“ Angrenzende Fragen wären beispielsweise: Sollten wir einem einzigen Menschen so viel Macht verleihen? Was für Konsequenzen könnte das haben? Gibt es die Gefahr, dass sogar noch mehr Ungerechtigkeit erzeugt wird?

In einer anschließenden Reflexion werden die Themen und Inhalte, die in dieser Diskussion aufkommen, ausführlich analysiert und besprochen. Dabei können Transfers zu verschiedenen globalen, gesellschaftlichen Themen (z. B. Klimakrise, Umgang mit Daten) gezogen werden. Außerdem kann der Vorgang der Diskussion als solcher anregen, gemeinsam zu überlegen, ob und wenn ja wie genau solche großen philosophischen Diskurse global geführt werden könnten. In dem Gesamtprozess werden in der Gruppe Wege zu einer partizipativen Diskussions- und Entscheidungskultur erarbeitet, die auch in Hinblick auf Alltagssituationen Anwendung finden können.

Mission X-Gamma.2 kann in Form von ganztägigen Projekttagen oder auch mehrtägigen Seminaren eingesetzt werden oder in verkürzter Form für halbtägige Workshops. Die Geschichte kann je nach Zielsetzung und Interesse verkürzt, erweitert oder variiert werden. Entscheidend ist, dass sie entlang der Bildungsthemen und -inhalte Interesse für politische Diskurse weckt und fördert.

Trotz Spaß und enormen Stärken des Ansatzes: Es gibt auch Grenzen und Fallstricke!

Bei allen Vorteilen, die storybasierte Methoden mit sich bringen, gibt es auch einige Gefahren, die es nicht zu unterschätzen gilt. Jede Methode (politischer Bildung) sollte stets kritisch in Hinblick auf mögliche Verletzungen, Reproduktionen und Ausschlüsse reflektiert werden. Dies gilt umso mehr für Methoden, die Geschichten einbinden, da bildhafte Darstellungen, noch stärker als andere reflexive Methoden, starke Emotionen erzeugen können. Daher ist es wichtig, sich neben den oben genannten Vorteilen des Einsatzes von Geschichten auch der Fallstricke und Gefahren bewusst zu sein.

Wenn wir gemeinsam Geschichten erleben und diese kreativ weiterentwickeln, erproben wir neue Handlungsoptionen. Wir entdecken neue Möglichkeiten, entfalten unsere Kreativität und erleben eine Form von Selbstwirksamkeit, die wir vielleicht noch gar nicht kannten.

Storybasierte Methoden bergen beispielsweise die Gefahr, sich herkömmlicher Narrative zu bedienen und dadurch Vorurteile und Ungleichwertigkeitsideologien zu reproduzieren. Insbesondere die Nutzung von Archetypen aus bekannten narrativen Klischees erzeugen schnell sexistische, rassistische oder ableistische Bilder. Geschichten können ferner Triggerpunkte beinhalten und Verletzungen auslösen, die aus biografischen Anknüpfungspunkten resultieren. Entsprechend sollte wohl überlegt sein, wie lebensnah die eingebundene Geschichte erzählt werden soll.

Eine andere Problematik entsteht, wenn die Geschichte nicht so an die Teilnehmenden andockt wie erwartet und der Transfer zu den Bildungsinhalten nicht gelingt. Umso wichtiger ist es, wirklich ausreichend Zeit für eine Nachbesprechung der Inhalte, Prozesse und Transferinhalte zu haben. Zudem ist eine permanente kritische Reflexion der eigenen Geschichte und Methode unerlässlich.

Ein kleines Resümee

Menschen lernen von Kindheit an, aber auch bis ins hohe Erwachsenenalter anhand von Geschichten und im Spiel, indem wir diese reflektieren, lebensweltlich erforschen oder auch, indem wir sie selbst produzieren. Wenn wir gemeinsam Geschichten erleben und diese kreativ weiterentwickeln, erproben wir neue Handlungsoptionen. Wir entdecken neue Möglichkeiten, entfalten unsere Kreativität und erleben eine Form von Selbstwirksamkeit, die wir vielleicht noch gar nicht kannten. Viele politische Bildner*innen nutzen daher schon lange storybasierte Methoden: sei es in Form kleiner methodischer Einheiten, Escape Rooms oder großer mehrtägiger, immersiver Liverollenspiele. Die Expertise der Träger*innen innerhalb des AdB ist in dem Feld sehr groß. Lasst uns das nutzen, uns vernetzen und storybasierte Geschichten mit spielerischen Ansätzen verknüpfen und weiterentwickeln. Seien wir mutig und bestreiten wir neue Wege, indem wir uns nicht mit den bisherigen Konzepten zufriedengeben. Ich bin überzeugt, wenn wir unsere fachlichen Kompetenzen und Perspektiven mit unseren vielfältigen, kreativen, gern auch nerdigen (Story- und Spiel-)Ideen zusammenbringen, können wir uns auf sehr, sehr spannende und innovative Ansätze freuen.

Zur Autorin

Dana Meyer, Geschäftsführerin des ABC Bildungs- und Tagungszentrums e. V. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Auseinandersetzung mit Diversität und Diskriminierung(en), speziell in Hinblick auf den Anti-Bias-Ansatz. Ferner hat sie in ihrer Arbeit große Freude an der Entwicklung und Erprobung von lebensweltorientierten, storybasierten und spielerischen Methoden und Formaten.
dm@abc-huell.de

Literatur

Damasio, Antonio (1999): The Feeling of What Happens – Body and Emotion in the Making of Consciousness. New York: Mariner Books
Fuchs, Werner T. (2018): Crashkurs Storytelling. Grundlagen und Umsetzung, Freiburg: Haufe
Giessen, Hans W. (2009) (Hrsg.): Emotionale Intelligenz in der Schule. Unterrichten mit Geschichten. Weinheim: Beltz
Schröder, Achim (2017): Emotionalisierung der Politik und Autoritarismus. Herausforderungen für die gegenwärtige politische Bildung; https://transfer-politische-bildung.de/dossiers/emotionen/achim-schroeder (Zugriff: 22.03.2021)