Außerschulische Bildung 2/2021

Politische Bildung im Grundschulalter

Entwicklungspsychologische Voraussetzungen, empirische Befunde und Handlungsempfehlungen

Der Beitrag fasst aus Sicht der Entwicklungspsychologie (Sabina Pauen) die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für politische Bildung im Grundschulalter zusammen und stellt aus Sicht der Didaktik des Sachunterrichts (Thomas Goll) deren empirisch fassbare Umsetzung vor. Dabei wird deutlich, dass politische Bildung mit Grundschüler*innen prinzipiell möglich ist, dass wir aber über die schulischen und außerschulischen Lehr-Lern-Prozesse und deren Ergebnisse noch kaum etwas wissen. Daher stehen am Ende des Beitrags Handlungsempfehlungen, wie diese Lücke geschlossen und politisches Lernen mit Kindern im Grundschulalter gefördert werden kann. von Sabina Pauen und Thomas Goll

Kinder sind soziale Wesen. Sie wachsen in Gruppen auf, die man auf unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen beschreiben kann. Die kleinste soziale Einheit ist die Familie. Auf höheren Ebenen sind Gemeinschaften hierzulande von der Kommune, über den Kreis, das Bundesland bis hin zum Staat organisiert. Über diese Organisationsstruktur werden Kinder erst relativ spät unterrichtet. Gleiches gilt für zentrale Konzepte unseres politischen Systems wie Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit oder freie Wahlen. Solche Themen tauchen im Lehrplan der meisten Schulen erst gegen Ende der Grundschulzeit auf. Das liegt unter anderem daran, dass man bei jüngeren Kindern noch immer wenig Interesse an Politik vermutet und zudem annimmt, sie seien noch nicht in der Lage, politische Konzepte und Prozesse zu verstehen. Ob das stimmt, bleibt zu klären, denn empirische Befunde zum Thema sind bislang rar.

Auch junge Kinder treffen bereits Entscheidungen, die auf politisches Interesse hinweisen. So etwa, wenn sie sich vegetarisch ernähren wollen, um Tiere zu schützen, wenn sie für „Fridays for Future“ auf die Straße gehen, oder wenn sie über die Regeln zum Umgang mit der Corona-Pandemie und ihre Bekämpfung Bescheid wissen wollen. Weil sich der Informationsradius junger Kinder durch die Nutzung moderner Informationstechnologie stark gewandelt hat, kommen sie immer früher in Berührung mit Themen, die der „großen Politik“ zuzurechnen sind, die sie aber auch ganz persönlich betreffen und beschäftigen. Anlass genug zu fragen, welche geistigen und sozialen Fähigkeiten politisches Denken und Handeln überhaupt erst möglich machen und wie sich diese Fähigkeiten im Verlauf der Kindheit herausbilden. Gleichzeitig werfen wir einen Blick auf die Frage, wie politische Bildung für Kinder heute in der schulischen Praxis gedacht ist und wie sie wirklich aussieht. Davon ausgehend erörtern wir schließlich, was sinnvolle Ansatzpunkte für gelingende demokratische und politische Bildung im Kindesalter sein können.

Entwicklungspsychologische Voraussetzung für politisches Denken und Handeln

Im Lexikon der Psychologie (spektrum.de) werden politische Handlungen definiert als „planmäßige und absichtsvolle Verhaltensweisen, die darauf gerichtet sind, den sozialen und politischen Raum aktiv zu beeinflussen.“ Als Voraussetzung hierfür wird einerseits das geistige Bewusstsein für politische Probleme genannt und andererseits die Erwartung, dass das eigene Handeln erwünschte Konsequenzen hat. Bereits sehr jungen Kindern darf man getrost unterstellen, dass sie Gemeinschaft(en) aktiv beeinflussen. Das beginnt in der Familie, setzt sich in der Kita und in der Schule fort und geht teilweise sogar darüber hinaus, wie die eingangs genannten Beispiele für politisches Engagement von Schüler*innen illustrieren. Aber sind sich Kinder tatsächlich bewusst, was mit politischem Bewusstsein und Handeln gemeint ist? Dieses Bewusstsein kann sich nur entwickeln, wenn das Kind sich selbst als Akteur erlebt, und auf die Gemeinschaft, in der es lebt, auch wirklich Einfluss nehmen darf. Gleichzeitig muss das Kind die Notwendigkeit sozialer Normen anerkennen. Es geht also im Kern darum, das Spannungsgefüge zwischen Autonomiebestreben und sozialer Verantwortung zu verstehen.

Wie erlangen Kinder soziale Bewusstheit und Handlungskompetenz?

Selbstwirksamkeit

Wenn ein Baby zur Welt kommt, ist es zunächst komplett auf andere Menschen angewiesen, um überleben zu können. Gleichzeitig setzt es sich vom ersten Tag an aktiv mit seiner Umwelt auseinander und wird darin durch die Eltern mehr oder weniger bestärkt. Erlebt es wenig Spielraum für Eigeninitiative, dann fehlt ihm die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Wir wissen etwa, dass Säuglinge, deren Mutter nicht zuverlässig auf Kontaktversuche reagiert, Versuche der spontanen Kontaktaufnahme schon bald deutlich reduzieren. Sie haben gelernt, dass entsprechende Bemühungen nicht viel bringen (vgl. Lotzin u. a. 2015). Wie sehr wir uns in Beziehungen und Gemeinschaften „einbringen“, hat vor allem etwas damit zu tun, wie stark wir den Eindruck haben, dadurch etwas bewirken zu können.

Auch junge Kinder treffen bereits Entscheidungen, die auf politisches Interesse hinweisen. So etwa, wenn sie sich vegetarisch ernähren wollen, um Tiere zu schützen, wenn sie für „Fridays for Future“ auf die Straße gehen, oder wenn sie über die Regeln zum Umgang mit der Corona-Pandemie und ihre Bekämpfung Bescheid wissen wollen.

Autonomie und ihre Grenzen

Wird das Kind etwas älter und erweitert es seinen Handlungsspielraum allmählich, dann kommt es laut Erik H. Erikson (1966) mit zwei bis drei Jahren in die Entwicklungsphase „Autonomie vs. Scham und Zweifel.“ Auf der einen Seite möchte es Dinge selbst entscheiden und auf der anderen Seite erlebt es immer wieder, dass seine Möglichkeiten noch begrenzt sind oder von außen begrenzt werden. In diese Zeit fällt das sogenannte „Trotzalter“. In seinem Streben nach Selbstbestimmung gelingt es dem Kind noch nicht, die eigene Perspektive und die seines Gegenübers parallel in den Blick zu nehmen. Es verzweifelt an dem Widerspruch, sich durchsetzen zu wollen und sich fügen zu sollen. Solche Konfliktsituationen bereiten den nächsten Entwicklungsschritt vor:

Normbewusstsein

Gegen Ende des zweiten und Anfang des dritten Lebensjahres entsteht allmählich ein Normbewusstsein (vgl. Tomasello 2018). Das Kind versteht immer besser, dass es bestimmte Regeln beachten muss. Wichtige Vorbilder werden zunehmend genauer imitiert. Dieses Verhalten dient unter anderem dazu, die Zugehörigkeit zu einer Person oder Gruppe zu stärken. Das Kind möchte sozial anerkannt werden und begreift, dass es dafür bestimmte Konventionen und Gruppennormen akzeptieren muss, die allerdings mit dem situativen Kontext variieren. So ist dem Kind bereits klar, dass es Regeln gibt, die nur innerhalb der eigenen Familie gelten, aber auch solche, die sich auf das Handeln im öffentlichen Raum beziehen, wie etwa Verkehrsregeln. Regeln, die einmal verstanden wurden, verteidigt das Kind nun auch gegenüber Dritten. Innerhalb der Familie wird es versuchen, aktiv Einfluss auf die Gestaltung von Regeln zu nehmen, aber auf höheren Ebenen wird es dazu nur selten eingeladen und kann sich diesbezüglich folglich auch nicht als selbstwirksam erleben.

Nun stehen dem Kind bereits einige zentrale Aspekte politischen Handelns zur Verfügung: Es hat Selbstwirksamkeit, Autonomiebewusstsein, die Kenntnis von sozialen Normen und das Bedürfnis nach Mitbestimmung erlangt. Gleichzeitig kämpft es noch mit Limitationen ganz anderer Art:

Sprachliche Limitationen

Oft fehlt jüngeren Kindern das geeignete Vokabular, um ihre Anliegen und Überlegungen zum Ausdruck zu bringen und ihnen damit Geltung zu verschaffen. Wesentliche Verbesserungen sind zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr zu verzeichnen (vgl. Szagun u. a. 2006): In dieser Zeit steigt der Wortschatz von Kindern im Durchschnitt um fünf Worte pro Tag. Ob auch schon Begriffe dabei sind, die sich auf politische Konzepte beziehen, hat primär damit zu tun, ob Erwachsene mit dem Kind über solche Dinge sprechen oder nicht. Grundsätzlich gilt, dass abstrakte Begriffe, also Worte, die sich auf nicht-materielle Einheiten beziehen, wie „Demokratie“ oder „Politik“ für jüngere Kinder noch schwer zu verstehen sind, wenn sie damit wenig konkrete Erfahrungen verbinden.

Theory-of-Mind-Kompetenzen

Neben begrenzten Sprachfähigkeiten spielt auch die sogenannte „Theory of Mind“, die Theorie des Geistes, eine wichtige Rolle für die Entwicklung politischer Bewusstheit. Zwischen vier und sechs Jahren lernt das Kind, dass jeder Mensch unterschiedliche Gefühle, Bedürfnisse, und Erkenntniszustände hat (vgl. z. B. Sodian/Perst/Meinhard 2012). Auch wenn bereits Kleinkinder spontanes Hilfe-Verhalten und Mitgefühl zeigen können, entstehen echte Empathie und ein echtes Verständnis für die Lage anderer Menschen erst etwas später. Denn dafür muss sich das Kind in die Perspektive anderer Menschen hineinversetzen können und überlegen, was der andere aktuell braucht und welche Maßnahmen geeignet wären, ihm zu helfen. Gleichzeitig erweitern sich seine Kompetenzen, sprachlich über mentale Zustände zu kommunizieren.

Verhandeln und gemeinsam entscheiden lernen

Im Vergleich zu Kindergartenkindern zeigen Grundschüler*innen vermehrt Freude an Regelspielen. Bevor man mit dem Spielen beginnt, einigt man sich zunächst darauf, welche Regeln gelten sollen. Hält sich jemand anschließend nicht daran, wird er oder sie ermahnt. Kinder können inzwischen auch ohne Erwachsene Gruppenentscheidungen treffen. Wie sie dabei vorgehen, ob eine Person die Führung übernimmt und der „Bestimmer“ ist, ob sie versuchen, im Gespräch einen Konsens zu finden, ob sie demokratisch abstimmen oder den Zufall entscheiden lassen, hängt von der spezifischen Gruppenkonfiguration, der Gruppengröße und den Vorerfahrungen der einzelnen Gruppenmitglieder ab. Generell werden Verhandlungen untereinander immer wichtiger. Tauschgeschäfte florieren auf dem Pausenhof. Dabei üben die Kinder ihre neu erworbenen Theory-of-Mind Kompetenzen und versuchen, andere zu überreden, zu überzeugen und manchmal auch zu täuschen. Ihr Sozialverhalten wird komplexer. Nur wer sich gut in andere hineinversetzen kann, aber gleichzeitig auch klare eigene Ziele hat, wird in Verhandlungen erfolgreich sein und sich als sozial selbstwirksam erleben.

Das Fundament, auf dem Kinder politisches Bewusstsein und politisches Handeln entwickeln, sind Erfahrungen in Gruppensituationen. Foto: CDC/unsplash; https://unsplash.com/license

Zwischenfazit

Wie diese Ausführungen deutlich machen, werden Kinder nicht nur als soziale Wesen geboren, sondern sie entwickeln auch erstaunlich früh jene kognitiven Basis-Fähigkeiten, die für ein politisches Bewusstsein und Handeln maßgeblich sind. Fundamentale Werte politischen Denkens und Handelns wie ein Verständnis für die Unterschiedlichkeit von Interessen verschiedener Gruppen und das Bestreben, an Entscheidungsprozessen einer Gemeinschaft zu partizipieren bzw. soziale Verantwortung zu übernehmen, haben ihre Wurzeln ganz offensichtlich in der frühen Kindheit. Daraus ergibt sich die Frage, welche Bedingungen entsprechende Entwicklungsprozesse fördern können.

Fördernde Entwicklungsbedingungen für politisches Denken und Handeln

Die Bedeutung des Elternhauses

Wie bereits zu Beginn des Kapitels angesprochen, ist das Interaktionsverhalten von Eltern im Umgang mit ihren Kindern hoch relevant für (a) die Selbstwirksamkeit und Autonomie, (b) die Entwicklung sprachlicher und sozialer Kompetenzen, (c) die Entstehung von sozialer Verantwortung und (d) die Partizipation an Entscheidungsprozessen von Kindern. Dabei geht es weniger darum, was Eltern ihrem Nachwuchs predigen, als vielmehr darum, was sie vorleben, über welche Themen wie differenziert zuhause gesprochen wird und wie häufig Eltern Kinder in familiäre Entscheidungsprozesse einbeziehen.

(a) Selbstwirksamkeit und Autonomie lassen sich am ehesten fördern, indem man Kindern zugesteht, dass sie sich ausprobieren und dabei auch scheitern dürfen. Erreichen sie selbstgesteckte Ziele, dann brauchen sie Anerkennung, um zu spüren, dass ihre Initiative sozial willkommen ist. Eltern sind dabei gefordert, die richtige Balance zu finden zwischen der Ermutigung zur Eigeninitiative und dem Aufzeigen von Grenzen und Gefahren. Dies erfordert einen ständigen Kalibrierungsprozess, der neben dem Alter des Kindes auch innere und äußere Ansprüche sowie Erfordernisse der Situation selbst berücksichtigt.

Selbstwirksamkeit und Autonomie lassen sich am ehesten fördern, indem man Kindern zugesteht, dass sie sich ausprobieren und dabei auch scheitern dürfen.

(b) Bei der Sprachförderung geht es zunächst vor allem darum, dem Kind Worte für mentale Zustände der eigenen Person und anderer Menschen zu vermitteln. Denn nur wenn das Kind häufig erlebt, dass zuhause ein differenziertes Vokabular zur Beschreibung von Gefühlen, Motiven und Erkenntnissen verwendet wird, kann es selbst diese Art zu sprechen in einen inneren Monolog überführen. Insbesondere in Konfliktsituationen macht es Sinn, auf unterschiedliche Perspektiven einzugehen, denn nur wenn das Kind begreift, dass jede Seite ihre eigene Sicht auf die Dinge hat, kann es die Notwendigkeit von Regeln und Abstimmungsprozessen wirklich verstehen. Ist das Kind etwas älter, spielen auch Gespräche über aktuelle politische Themen eine wichtige Rolle. Erlebt das Kind, dass seine Eltern politisch interessiert und bereit sind, mit ihm über gesellschaftliches Geschehen zu sprechen, dann erweitert es sein sprachliches Vokabular um wichtige Schlüsselbegriffe, die ihm helfen, politische Nachrichten zu verstehen und interessant zu finden.

(c) Eng mit dem vorherigen Punkt verbunden ist auch die Frage nach der Übernahme sozialer Verantwortung. Wer zuhause erfährt, dass die eigenen Eltern sich sozial engagieren, sei es im Verein, in einem Ehrenamt oder in Kita- bzw. Schulgremien – der wird später selbst auch eher sozial aktiv. Übernimmt das Kind soziale Verantwortung, dann kommt es rasch auch mit politischen Organisationen und Strukturen in Kontakt. Hier lernt es, gesellschaftliche Prozesse aktiv mitzugestalten.

(d) Eltern, die Probleme mit ihren Kindern so besprechen, dass unterschiedliche Gesichtspunkte gehört werden, erreichen, dass sich das Kind ernst genommen fühlt und diese Erwartung an Partizipation auch auf andere Gemeinschaften überträgt.

Die Rolle von Bildungsinstitutionen

Auf die Förderung von Wissen über Demokratie und Politik sowie politische Urteils- und Handlungskompetenz im Grundschulalter wird im zweiten Teil dieses Beitrags näher eingegangen. An dieser Stelle geht es zunächst um die implizite Förderung einer demokratischen Grundhaltung und der Motivation zu politischem Engagement. Beides basiert letztlich auf der Fähigkeit, sich offen über gemeinschaftsrelevante Themen austauschen zu können und Einigungen zu erzielen. Aber es hat auch etwas damit zu tun, ob die Stimme des Kindes tatsächlich Einfluss auf die Gemeinschaft hat. Entsprechende Erfahrungen können sehr gut in Kita und Grundschule vermittelt werden, denn hier handelt das Kind im „öffentlichen Raum“ – eine wichtige Eigenschaft politischen Handelns. Gleiches gilt jedoch auch für Vereine oder Institutionen der außerschulischen Bildung.

Allgemein gilt es zu beachten, dass pädagogische Fachkräfte und andere Gruppenleiter*innen häufig die Moderation bei Diskussionen und Konflikten zwischen Kindern übernehmen. Wenn sie dabei Grundprinzipien eines demokratischen Austauschs anwenden, dafür sorgen, dass nicht nur die Wortführer*innen, sondern auch die Stillen gehört werden, und wenn sie sicherstellen, dass alle sich respektvoll und sachlich austauschen, wobei im Zweifelsfall abgestimmt wird, dann sind das ganz entscheidende Beiträge zur politischen Bildung!

Vielfältigen Alltagssituationen, in denen Kinder mitentscheiden dürfen und in denen Erwachsene ihnen zeigen, nach welchen Prinzipien Entscheidungsfindung in Gruppen funktioniert, fungieren als Anker für das Verständnis abstrakter Begriffe wie Demokratie, freie Wahlen, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz und ähnliches.

Zwischenfazit

Das Fundament, auf dem Kinder politisches Bewusstsein und politisches Handeln entwickeln, sind Erfahrungen in Gruppensituationen. Das betrifft sowohl die Familie, als auch Bildungseinrichtungen. Erwachsene mit Leitungsfunktion sind Lehrer*innen und Vorbilder zugleich, wenn es darum geht, Gruppenprozesse zu steuern. Vielfältigen Alltagssituationen, in denen Kinder mitentscheiden dürfen und in denen Erwachsene ihnen zeigen, nach welchen Prinzipien Entscheidungsfindung in Gruppen funktioniert, fungieren als Anker für das Verständnis abstrakter Begriffe wie Demokratie, freie Wahlen, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz und ähnliches. Nur wenn entsprechende Anker vorhanden sind, ist nachhaltige politische Bildung im Sachunterricht überhaupt möglich.

Kinder als Adressaten demokratischer und politischer Bildung in der Grundschule

Dass demokratische und politische Bildung schon mit Grundschüler*innen grundsätzlich möglich ist, entspricht auch der Sicht der Bildungsadministration. Für die Schulen erklärt die Kultusministerkonferenz (KMK) unmissverständlich, dass „Schülerinnen und Schüler (…) so früh wie möglich an die Grundprinzipien unserer demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung herangeführt und mit ihnen vertraut gemacht werden (sollen)“ (KMK 2018, S. 5). Politische Bildung in der Grundschule und insbesondere im Sachunterricht als deren dezidierter Ort ist grundschulpädagogisch und fachdidaktisch gerahmt. Damit sind zwei unterschiedliche Schwerpunkte angesprochen, die sich ergänzen (können) und nicht etwa widersprechen (müssen): Politische Bildung als Bildungsziel der Schule generell und Demokratielernen als Schulprogramm sowie Politiklernen als Ziel von Unterrichtsfächern, wie z. B. dem Sachunterricht (vgl. Goll 2011).

So formuliert die KMK in ihren „Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule“, dass der Grundschule eine „Schlüsselfunktion“ in Hinsicht auf die „Entwicklung einer demokratischen Grundeinstellung“ durch „Demokratieerziehung“ zukommt (KMK 2015, S. 4). Ausdrücklich wird unter Bezugnahme auf Art. 12 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen die partizipative Schulkultur angesprochen (vgl. ebd., S. 5). Im Zentrum der Wertebildung stehen die Bildungsziele, wie sie in den Verfassungen der Bundesländer und den Schulgesetzen grundgelegt sind. Die Orientierung daran und an der Werteordnung des Grundgesetzes sorgen dafür, dass die Schüler*innen „in ihrem schulischen Alltag die Bedeutung und Notwendigkeit eines demokratischen, achtsamen, toleranten und respektvollen Umgangs mit anderen (erfahren)“, wie dies bereits angesprochen wurde, während „(i)m Unterricht (…) demokratische Werte thematisiert (werden)“ (ebd., S. 17 f.). Eine Debatte zum Beitrag außerschulischer politischer Bildung z. B. im Ganztag steht dagegen noch ganz am Anfang (vgl. GEMINI 2021).

Aufgabe der Grundschule ist es also im fachlichen wie auch überfachlichen Kontext, „demokratische und zivilgesellschaftliche Kompetenzen zu vermitteln, die zur verantwortlichen Teilhabe am gesellschaftlich-kulturellen Leben befähigen“ (vbw 2020, S. 102). Allerdings scheint demokratiebezogenes Lernen – so der Aktionsrat Bildung – nicht immer hinreichend reflektiert zu sein. Es sei fraglich, „ob die vielen und vielfältigen Ansätze der gelebten Praxis, die in Grundschulen im Bereich Bildung zu demokratischer Kompetenz realisiert werden, immer durch entsprechende explizite kognitive Information und Reflexion begleitet werden, die den angestrebten Kompetenzerwerb in den Bereichen des Wissens, der Handlungs- und Urteilsfähigkeit wie auch der Einstellungen und der Motivation unterstützen oder sogar erst ermöglichen würden“ (vbw 2020, S. 103 ff.).

Verhandeln und gemeinsam entscheiden lernen Foto: Janko Ferlic/unsplash

Aus Sicht der Didaktik des Sachunterrichts wäre das dann gut möglich, wenn der Unterricht sich an den Überlegungen des Perspektivrahmens Sachunterricht (vgl. GDSU 2013) der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts zum politischen Lernen orientieren würde. Anders als in der vorschulischen Bildung werden hier jedoch die Begriffe soziales, politisches und demokratisches Lernen nicht synonym verwendet, sondern klar abgegrenzt. Nach diesem Verständnis führt weder soziales Lernen aus sich heraus z. B. zum Verstehen politischer Konflikte noch resultiert aus als demokratisch angesehenen Praxen (z. B. Stuhlkreis, Klassenrat) automatisch ein Verständnis von Politik und Demokratie. Hierin gründet sich jedoch auch eine mögliche Schwierigkeit in der Kommunikation und im Verständnis von pädagogischen Fach- und schulischen Lehrkräften, die im Ganztag in Hinsicht auf politische Angebote kooperieren müssten. Darüber und über die Praxis und Wirkungen von politischen Bildungsangeboten im Ganztag wissen wir jedoch noch kaum etwas.

Demokratische und politische Bildung in der Grundschule – Defizite der Empirie

Leider muss man trotz einer ganzen Reihe von Evaluationsergebnissen und einer breiten pädagogischen Diskussion von Partizipation und Demokratiebildung konstatieren, dass es an empirischen Daten zur Umsetzung mangelt (vgl. vbw 2020, S. 78) und für die Grundschule „empirisch weitgehend unklar“ ist, wie die Umsetzung der Lehrpläne und Zielsetzungen in der Unterrichtspraxis gelingt und welche Wirkungen dies hat (vgl. ebd., S. 110). Der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung bilanziert schonungslos, was überhaupt empirisch greifbar ist (vgl. BMFSFJ 2020, S. 200 f.):

  1. unzureichende Berücksichtigung in Richtlinien und Schulbüchern;
  2. wenig Verbindung von fachdidaktischen Konzeptionen und Bildungsplänen;
  3. Vernachlässigung der Thematik in den einschlägigen Veröffentlichungen;
  4. Bevorzugung der naturwissenschaftlichen, historischen und geografischen Bildung;
  5. Randständigkeit der Didaktik politischer Bildung in der Grundschule;
  6. geringe Partizipationsmöglichkeiten der Schüler*innen in der Schule;
  7. Scheu der meisten Lehrkräfte, Politik im Unterricht zu thematisieren;
  8. Bevorzugung des sozialen Lernens;
  9. Ausbildungsdefizite bei der überwiegenden Zahl von Lehrkräften im Sachunterricht.

Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen

Wir können erstens festhalten, dass als theoretisch gut begründbar gelten kann, dass schon junge Kinder im Vorschul- und erst recht im Grundschulalter Politik wahrnehmen und in ihre Weltvorstellungen integrieren. Allerdings ist die empirische Evidenz gering. Zweitens wird demokratische und politische Bildung bildungspolitisch als möglich angesehen und gehört zu den fundamentalen Zielen schon der Vor- und Grundschulen. Drittens haben wir aber kaum valide Erkenntnisse darüber, wie sie in den Schulen oder in außerschulischen Bildungsangeboten tatsächlich angeboten und verwirklicht wird – und das, was wir wissen, ist wenig erfreulich.

Was also wäre zu tun? Auswege können sich aus der Bearbeitung und Verbesserung der aufgedeckten Schwachstellen ergeben und aus neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit z. B. von schulischer und außerschulischer politischer Bildung, wozu der Ganztag Chancen bietet (vgl. GEMINI 2021, S. 32 f.). Dies alles ist jedoch gleichermaßen ausbaufähig wie voraussetzungsvoll:

Professionalisierung sichern

Ausgangspunkt aller Überlegungen zu politischer und demokratischer Bildung in der Kindheit und insbesondere zur Sicherung einer gewinnbringenden Kooperation der beteiligten Professionen ist, dass in die Ausbildung pädagogischer Fachkräfte und schulischer Lehrkräften anders als bislang der Bereich der Förderung von demokratischen Kompetenzen systematisch aufgenommen und entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen aufgebaut werden (vgl. vbw 2020, S. 115 f.; BMFSFJ 2020, S. 176).

Es braucht ein bildungsinstitutionenübergreifendes Modell demokratischer und politischer Kompetenzen, das einerseits die zu vermittelnden Facetten eindeutig beschreibt und andererseits dabei die Entwicklungs- und Lernvoraussetzungen der Kinder berücksichtigt.

Klarheit herstellen

Da in den Bildungseinrichtungen eine Fülle von Erziehungs- und Bildungsanliegen verfolgt werden muss, sollten sich alle Beteiligten auf „den substanziellen Kern von Demokratie“ fokussieren (vgl. BMFSFJ 2020, S. 175), Zielklarheit herstellen und Konzepte für die Implementation verbindlich entwickeln (vgl. vbw 2020, S. 114). Anders ausgedrückt: Es braucht ein bildungsinstitutionenübergreifendes Modell demokratischer und politischer Kompetenzen, das einerseits die zu vermittelnden Facetten eindeutig beschreibt und andererseits dabei die Entwicklungs- und Lernvoraussetzungen der Kinder berücksichtigt.

Widersprüche verringern

Der Alltag in den Bildungseinrichtungen muss so gestaltet werden, dass es zu einer „Verminderung von Widerspruchserfahrungen zwischen postulierter und tatsächlich erlebter Demokratie“ kommt (BMFSFJ 2020, S. 175). D. h., die „Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ muss effektiv abgebaut und „(d)en formulierten Zielsetzungen müssen konkrete Maßnahmen für die Umsetzung in den Schulen folgen. Bildung zu demokratischer Kompetenz und ein Selbstverständnis als (junge) Bürgerin beziehungsweise (junger) Bürger müssen an den Schulen explizit und aktiv vermittelt werden.“ (vbw 2020, S. 114)

Qualität sichern

Alle Zielformulierungen und Kompetenzmodellierungen bleiben wirkungslos, wenn sie nicht in die Realität der Bildungseinrichtungen eingebunden sind. D. h., schon ab der Kindertagesbetreuung sollte „insbesondere die Partizipationsqualität im Fokus stehen“ (BMFSFJ 2020, S. 176) und erst recht in den Grundschulen „als Evaluationskriterium erfolgreicher Grundschulen etabliert werden“ (vbw 2020, S. 115).

Forschungsbasierung stärken

Die gerade formulierten Handlungsempfehlungen können ihre Wirkung über Absichtserklärungen hinaus nur dann entfalten, wenn sie empirisch fundiert sind. Denn nur so ist es möglich, „zu realistischen Erwartungen zu kommen und überhöhte Zielvorstellungen zu vermeiden“ (vbw 2020, S. 97). Das betrifft neben der Formulierung von Bildungsplänen und der Konstruktion von Kompetenzmodellen vor allem auch die „Klärung der Wirksamkeit“: „Wissenschaftliche Evaluationen, welche Konzepte (auch mittel- und langfristig) wirken und welche Rahmenbedingungen die Wirksamkeit begünstigen, sind notwendig (…).“ (Ebd., S. 115)

Zur Autorin/zum Autor

Prof. Dr. Sabina Pauen ist Inhaberin des Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie an der Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Denk- und Sozialentwicklung der frühen Kindheit.
sabina.pauen@psychologie.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Thomas Goll ist Inhaber des Lehrstuhls für integrative Fachdidaktik Sachunterricht und Sozialwissenschaften an der TU Dortmund. Der Fokus seiner Forschung liegt u. a. auf der Förderung von politischer Bildung von Anfang an.
thomas.goll@tu-dortmund.de

Literatur

BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2020): Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin: BMFSFJ
Erikson, Erik. H. (1966): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp
GEMINI – Gemeinsame Initiative der Träger Politischer Jugendbildung im Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e. V. (Hrsg.) (2021): Team up! Außerschulische politische Jugendbildung in Kooperation mit Schule. Wuppertal: bap
GDSU – Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (Hrsg.) (2013): Perspektivrahmen Sachunterricht. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Goll, Thomas (2011): Einführung: Demokratie- und/oder Politik-Lernen. Die Debatte. In: Ders. (Hrsg.): Bildung für die Demokratie. Beiträge von Politikdidaktik und Demokratiepädagogik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 5–11
KMK – Kultusministerkonferenz (2015): Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 02.07.1970 i. d. F. vom 11.06.2015; www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1970/1970_07_02_Empfehlungen_Grundschule.pdf (Zugriff: 17.03.2021)
KMK – Kultusministerkonferenz (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018; www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf (Zugriff: 17.03.2021)
Lotzin, Annett/Romer, Georg/Schiborr, Julia/Noga, Berit/Schulte-Markwort, Michael/Ramsauer, Brigitte (2015): Gaze Synchrony between Mothers with Mood Disorders and Their Infants: Maternal Emotion Dysregulation Matters. In: PLoS One. DOI: 10.1371/journal.pone.0144417
Sodian, Beate/Perst, Hannah/Meinhardt, Jörg (2012): Entwicklung der Theory of Mind in der Kindheit. In: Förstl, Hans (Hrsg.): Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. Berlin/Heidelberg: Springer, S. 61–77
Szagun, Gisela/Steinbrink, Claudia/Franik, Melanie/Stumper Barbara (2006): Development of vocabulary and grammar in young German-speaking children assessed with a German language development inventory. In: First Language, 26/3, S. 259–280; DOI:10.1177/0142723706056475
Tomasello, Michael (2018): The Normative Turn in Early Moral Development. In: Human Development 61, S. 248–263; DOI: 10.1159/000492802
vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (Hrsg.) (2020): Bildung zu demokratischer Kompetenz. Gutachten. Münster: Waxmann