Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben
Paul Zsolnay Verlag 191 Seiten
Auch wenn dieses Buch schon im Titel die „Schule“ aufführt, mit zahllosen Beispielen aus der Schule operiert und Forderungen an das Bildungssystem stellt, geht das Anliegen des Buches weit darüber hinaus – und ist deshalb auch für die außerschulische Jugendbildung von Interesse. Und wenn dann die Autorin schon im Vorwort (S. 12) feststellt, dass Bildung nicht den Schlüssel zur gelungenen Integration darstellt, ist man doch etwas überrascht, aber auch gespannt.
Vom Genre her ist dieses Buch sowohl Sachbuch als auch Autobiografie. Als rhetorische Figur führt die Autorin in doppelter Gestalt durch dieses Buch: als geflohenes muslimischen Mädchen aus Bosnien und als Lehrerin. Somit ist dieses Buch nicht nur authentisch und anschaulich, sondern beschreibt die Schule aus einer Doppelperspektive: aus Sicht der Schülerin wie aus Sicht der Lehrerin.
Dreh- und Angelpunkt sind die Erfahrungen der antimuslimischen Diskriminierung aus weiblicher Sicht. In vielen Facetten beschreibt sie den Verlust von Heimat (= Sicherheit): nicht nur die Sprache ist fremd, auch die Texte, der Umgang und vor allem die doppelten Erwartungen an Migrantenkinder. Die Eltern wollen, dass sie sich anpassen und Erfolg haben, gleichzeitig wollen sie aber nicht, dass die Kinder sich von ihnen entfremden, z. B. indem sie die Heimatsprache verlernen. Sie wachsen ohne Einbettung in anerkannte Rituale und Umgangsformen auf, oft ohne Bücher und meist ohne Zugang zur neuen Kultur. Gemessen und verglichen werden diese Kinder dann an Erfolgen einer Schulkultur, die eine Form der Aneignung von Wissen honoriert, aber keinen Blick dafür hat, was diese Kinder allein für die Bewältigung des Alltags leisten müssen.
Eine Anpassung an diese Form der Leistung vergeudet einen guten Teil der Ressourcen der Kinder und Jugendlichen, wenn sie denn überhaupt erreicht werden. „Was weiß denn eine Lehrkraft von diesen Kindern, die nur gelernt hat, Annas und Pauls zu unterrichten!“, so ihre Klage zur Ausbildung der Lehrkräfte. „Das Studium ist das Gleiche wie vor 50 Jahren, aber die Schüler und Schülerinnen sind andere.“ (S. 109) Was diese Kinder und Jugendlichen eher benötigen, wäre ein „safe space“ (S. 73), ein Raum ohne Diskriminierung und Integrationsdruck, der allzu oft lediglich Anpassung meint. Entfaltung und Empowerment aber ausschließt. Vor allem der Deutschunterricht müsste sich ändern, was nach Erkurts Auffassung vor allem zweierlei bedeutet: Kindern, die ohne Bücher aufwachsen, das Lesen beibringen (nicht das ABC), und unbedingt um einen Sprechunterricht, ein Sprechtraining erweitern.
Neben der Kritik an Schule als Institution gibt es aber eine Fülle von kleinen Handreichungen, wie ein Lernen dieser Jugendlichen gefördert werden kann. Einige Beispiele:
- diese ernstnehmen, indem man ihre Namen lernt und richtig ausspricht;
- ihnen Gelegenheit geben, Fragen zu stellen;
- Lebenswelten ernstnehmen (statt klassischer Lektüre auch mal Texte von Deutsch-Rappern besprechen);
- Humor als Brücke zur Verständigung nutzen.
Was sich hier als etwas banale Herausforderungen anhört (zumindest für den außerschulischen Bildner), wirkt aber im Buch selbst durch die Fülle der anschaulichen und empathischen Bespiele alles andere als banal. Es ist überhaupt diese Multiperspektivität, wie die Autorin immer wieder die Blickrichtung zwischen Schüler*in und Lehrer*in wechselt, die darauf hinweist, wie sehr ein Bildungsprozess ein aktiver Kommunikationsprozess ist, der beide Seiten als Aktive zum Erfolg benötigt. Indem sie die Schule nicht nur als Bildungsinstitution beschreibt, sondern auch als Teil der Lebenswelt, ist die Lektüre so gewinnbringend.
Und gleichzeitig ist das Anliegen von Melisa Erkurt alles andere als unpolitisch: Immer wieder beschreibt sie Diskriminierungserfahrungen in Beispielen, hält der Mehrheitsgesellschaft einen Spiegel hin und klagt politisch Verantwortliche an. So löst sich das Rätsel aus dem Vorwort, dass Bildung nicht der Schlüssel zur Integration sei: Solange es Diskriminierung gibt, müssen sich Migrantenkinder doppelt anstrengen, weil sie vielfältigen Formen des Rassismus ausgesetzt sind – und gegen Rassismus hilft keine Bildung, „sondern nur der Kampf gegen Rassismus“.
Albert Fußmann, Diplompädagoge und Schreiner, 1998–2019 Leiter des Instituts für Jugendarbeit in Gauting, der Fortbildungseinrichtung des Bayerischen Jugendring