Außerschulische Bildung 2/2021

Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST): Erinnern und Vergessen

Psychosoziale Arbeit mit Überlebenden der Shoah und ihren Nachkommen

Leipzig 2020
Hentrich & Hentrich, 258 Seiten
 von Norbert Reichel

Zu den Skandalen der jüngeren politischen Entwicklung in Deutschland gehört die Forderung nach „einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“. Die Verfechter*innen dieser Parole verherrlichen oder verharmlosen die Täter*innen, verhöhnen die Opfer der Shoah und aktueller antisemitischer Attentate und Morde. Sie wollen nicht an die zwölf Jahre NS-Herrschaft erinnert werden und glorifizieren die deutsche Geschichte davor und danach (mit Ausnahme der DDR-Geschichte). Diese Einstellung ist ihr politisches Programm.

Als Gegenmittel wird in Festtagsreden, Leitartikeln und Appellen an Bildung und Kultur immer wieder die ständige Erinnerung an die Shoah angemahnt, doch die „Erinnerungskultur“, auf die Deutsche so stolz sind, wirkt offenbar nicht mehr, sofern sie das überhaupt jemals getan hat. Wie sie wirkt und wirkte, wissen wir kaum, denn es fehlen empirische Studien zur Wirksamkeit von Erinnerungskultur, Gedenkstättenpädagogik oder einem die Shoah thematisierenden Schulunterricht. „Erinnern und Vergessen“ enthält Beschreibungen der Ergebnisse der offensichtlich fehlenden Wirksamkeit.

In Deutschland wurde das Leid der Opfer der Shoah nur oberflächlich anerkannt. Richard von Weizsäcker hat in seiner bahnbrechenden Rede vom 8. Mai 1985 zwar den 8. Mai 1945 mit Recht als „Tag der Befreiung“ bezeichnet, aber auch die Deutschen pauschal in die Reihe der Opfer eingereiht und die Verantwortung für Krieg und Shoah auf eine einzige Person projiziert. Abgesehen davon war die Shoah keine Kriegshandlung. Sie vollzog sich unabhängig vom Krieg, obwohl der Krieg sie beschleunigte.

23 Autor*innen bieten ein Panorama der Erscheinungsformen und Wirkungen von „Erinnern und Vergessen“ in deutschen und jüdischen Gemeinschaften nach 1945. Die Botschaft des Buches: Wir müssen das Verhältnis zwischen Opfern und Täter*innen neu definieren, wir müssen die Traumata und Retraumatisierungen durch die Shoah verstehen, für die Überlebenden und Zeitzeug*innen wie für deren Kinder und Enkel*innen. Niemand kann sich auf die „Gnade der späten Geburt“ berufen. „Die Shoah hat die Welt grundlegend verändert.“ (S. 28)

Die Wirkung des am 4. April 2012 veröffentlichten Grass-Gedichts „Was gesagt werden muss“ muss niemanden wundern. Der Psychoanalytiker Kurt Grünberg berichtet von einem Patienten, der Günter Grass „fortan als potenziellen Mörder betrachtete. Als Angehöriger der Waffen-SS hätte Grass theoretisch doch auch ihn, Herrn L., erschießen können!“ (S. 46) So verknüpfen sich „Erfahrungen aus der Vergangenheit mit gegenwärtigem Erleben“ (S. 43). So erlebten es am 9. Oktober 2019 in Halle die in der Synagoge eingeschlossenen Menschen. Schon in den 1960er Jahren war bekannt, „dass auch Nachkommen von ehemals Verfolgten psychosoziale Spätfolgen der Verfolgung ihrer Eltern aufwiesen.“ (S. 44)

Ein innovativer Zugang für die Praxis historisch-politischer Bildung ist das „Zeitzeugentheater“, nicht zu verwechseln mit dem von Y. Michal Bodemann 1996 eingeführten Begriff „Gedächtnistheater“. „Zeitzeugentheater“ ist „ein multiperspektivischer Ansatz“ als Gegenmodell zur herrschenden pädagogischen Praxis. „Die gängige, oftmals moralisierende Praxis der Shoah-Education verhindert einen sensiblen und offenen Zugang der Schüler*innen zum Thema und kann Abwehrmechanismen begünstigen. (…) Die pädagogische Arbeit sollte neben der Erinnerungsarbeit immer auch eine selbstreflexive und dialogische Auseinandersetzung der Lernenden erlauben. Dies erfordert unausweichlich die Auseinandersetzung mit eigenen Ismen, Stereotypen und Vorurteilen wie auch eine oftmals schmerzliche Auseinandersetzung mit den eigenen familienbiographischen Bezügen.“ (Noemi Staszewski und Ricarda Theiss, S. 218)

Salomon Korn schrieb den vielleicht zentralen Essay des Buches. Er bezeichnet es als „Anmaßung (…) zu glauben, (…) Denkmäler und Mahnmale könnten wesentlich über die eigene Lebensspanne hinaus nachhaltig Wirkung auf zukünftige Generationen entfalten. (…) Erst der Verzicht auf fragwürdig ‚dauerhafte‘ Monumente eröffnet die Möglichkeit, Denkmäler und Mahnmale als transitorisch begriffene Gebilde stärker mit unserer alltäglich gelebten Gegenwart zu verknüpfen.“ (S. 115) Er analysiert „die enge Verzahnung zwischen Erinnern und Vergessen“, wie sie sich in Friedensverträgen spiegele. Allerdings ist „verordnetes Vergessen“ ebenso wenig nachhaltig wirksam wie verordnetes Erinnern (S. 106), übrigens auch eine Erfahrung der sogenannten „Wahrheitskommissionen“ in afrikanischen Staaten.

Friedensverträge und Erinnerungskultur versagen, solange es nicht gelingt, eine reflektierte Anerkennung der Täterschaft durch die Täter*innen und ihre Nachkommen zu schaffen. Anna-Patrizia Kahn benannte im Titel eines anderen sehr zu empfehlenden Buches die Quintessenz: „Die Sache zwischen uns“ (München 2007). Das ist sie und das bleibt sie.

Dr. Norbert Reichel, Literaturwissenschaftler und Pädagoge, betreibt seit 2019 als freier Autor den Blog „Demokratischer Salon“ (www.demokratischer-salon.de).