Außerschulische Bildung 2/2020

Wenn sich alles verändert

Politische Bildung in Zeiten von Digitalisierung, Globalisierung, Klimawandel und einer Pandemie

Die großen Transformationen Globalisierung, Digitalisierung und die Klimakrise beeinflussen das Leben der Menschen dramatisch. Aber auch die weltweite Gesundheits- und Wirtschaftskrise infolge des neuartigen Coronavirus fordert die Politik und die Gesellschaften heraus. Zugleich ist die Politische Bildung gezwungen, sich inhaltlich und methodisch auf diese Veränderungen einzustellen und sich der Frage zu stellen, welchen Einfluss die globale Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die Globalisierung, der Klimawandel und vor allem die Digitalisierung auf die Demokratie hat. von Ursula Münch

Die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Migration, die Digitalisierung und die Erderwärmung besitzen das Potenzial, das Leben sehr vieler Menschen auf unserem Globus dramatisch zu beeinflussen (vgl. Friedman 2017). Jede dieser drei großen Transformationen, vor allem aber auch die Erfahrung einer weltweiten Gesundheits- und Wirtschaftskrise infolge des neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) (vgl. Münch 2020), zeigen bereits jetzt massive Auswirkungen auf die nationale wie die supranationale Politik, auf Ökonomien und Gesellschaften weltweit und führen dazu, dass „alte“ Fragen sich auf neue Weise stellen: die Fragen von Eigentum und Verteilung sowie der Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht. Fragen nach Gerechtigkeit, Teilhabe und Zugang gewinnen neue Bedeutung. Wir machen uns Gedanken (und viele auch Sorgen), welche Auswirkungen die Pandemie, die Digitalisierung, aber auch die Erderwärmung für den Industriestandort Deutschland und dessen Arbeitsplätze haben werden. Und so mancher fragt sich, wie es gelingen soll, die Erfordernisse des Klimaschutzes umweltverträglich zu meistern (vgl. Soentgen 2020). Der Blogger Sascha Lobo spricht in seinem Buch vom „Realitätsschock“ (2019), den alle westlichen Gesellschaften erlitten hätten – und meint damit: „Plötzlich müssen wir erkennen, dass die Welt anders ist als gedacht oder erhofft.“

Infragestellung des Primats der Politik

Die genannten Transformationen und Krisen fordern in erster Linie die Politik heraus – aber sie wirken sich zwangsläufig auch direkt auf die Politische Bildung aus. Schließlich stehen wir vor der wohl größten Herausforderung für den „Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit“, also für den gesellschaftlichen und politischen Konsens über die Notwendigkeit, globale Macht durch internationale Verträge und nationale Macht durch gewaltenteilende Mechanismen zu bändigen. Zu allem Überfluss beobachten wir gleichzeitig, dass die klassische staatliche Steuerung mittels Regulierung angesichts der Macht trans- und international agierender Akteure an Wirksamkeit verliert und die Bereitschaft, selbst innerhalb der Europäischen Union nach gemeinsamen Lösungen zu suchen und diese einheitlich umzusetzen, in dem Maße zurückging, in dem sich das Coronavirus ausbreitete.

Veranstaltung für Referendare über Populismus (Argumentationstraining) Foto: Akademie für Politische Bildung

Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Dimension der verschiedenen Transformationen sowie der Reichweite nationaler Politik stellt den Primat der Politik in Frage. Weite Teile der Bevölkerung hegen – durchaus zu Recht – Zweifel, ob die politischen Akteure dem Veränderungsdruck aufgrund der technischen und ökonomischen Umbrüche und den Auswirkungen einer Pandemie tatsächlich gewachsen sind. Gerade die Digitale Transformation wirkt einerseits zwar extrem beschleunigend, gleichzeitig gibt es aber Prozesse, deren Wirkungen mit einem deutlich über eine Legislaturperiode hinausgehenden zeitlichen Abstand auftreten. Die politisch Verantwortlichen müssen also nicht nur erkennen, welche Themen bereits heute reguliert werden müssen, damit weder Chancen verpasst noch Risiken vernachlässigt werden, sondern sie muss einschätzen können, welche Sachverhalte morgen und übermorgen zum Problem werden könnten. Gleichzeitig führen uns die Transformationen die beschränkte Reichweite nationaler Politik angesichts transnational agierender Internetunternehmen vor Augen.

Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Dimension der verschiedenen Transformationen sowie der Reichweite nationaler Politik stellt den Primat der Politik in Frage.

Wir sind Zeitzeugen eines radikalen Wandels des bisherigen marktwirtschaftlichen Systems. Bislang war die Warenproduktion auf den Konsumenten und dessen Nachfrage ausgerichtet. Neu ist die Entwicklung zu einem von Soshana Zuboff als „Überwachungskapitalismus“ bezeichneten neuen System. In diesem sogenannten „Überwachungskapitalismus“ gilt das Interesse der Unternehmen erst in zweiter Linie der Vermarktung ihrer Produkte. In erster Linie geht es ihnen um das Sammeln von Daten. Auch wenn wir uns als Kunden fühlen, so sind wir nicht einmal Nutzer. Die von uns im Überfluss erzeugten Daten stellen nämlich lediglich den Stoff dar, aus dem die Internetkonzerne Informationen über unser künftiges Verhalten ableiten. Zusätzlich wandelt sich die Geschäftswelt dadurch, dass Monopole quasi das Geschäftsmodell der Digitalen Transformation darstellen und damit auch die Unternehmenslandschaft dramatisch verändern. Die jeweilige „Nummer 2“ spielt selten eine Rolle, und die Gewinne fließen vollständig an den Marktführer. Blieben die digitalen Giganten ungezähmt und könnten sie ihre Geschäfte weiter nach dem zynischen Motto des deutschstämmigen US-Investors Peter Thiel betreiben: „Competition is for loosers“, dann geriete nicht nur unsere soziale Marktwirtschaft ins Abseits – sondern auch die Mechanismen unserer gesellschaftlichen und politischen Willensbildung (vgl. Münch 2019). Die Einschätzung, dass die nationale Politik in ihrer Reichweite durch die Marktmacht von Unternehmen beschränkt wird, ist nicht neu. Durch die Transformationen wird dieser fatale Eindruck, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seien den technologischen Veränderungen und ihren gesellschaftlichen Folgen passiv ausgeliefert, aber weiter genährt. In der Folge wuchs zumindest in vergangenen Jahren die Politikverdrossenheit der Bürger mit gravierenden Folgen für die Politische Bildung: Wie viel Aufmerksamkeit und Gehör kann man für die Erklärung zum Beispiel der Mechanismen parlamentarischer Politik erwarten, wenn so manche Wählerinnen und Wähler der festen Überzeugung sind, dass die „richtigen“ Entscheidungen ohnehin ganz woanders getroffen werden?

Folgen der Professionalisierung und Spezialisierung von Politik

Hinzu kommt, dass sich durch die Transformationen nicht nur die Aufgaben und die Rahmenbedingungen der Politik verändern, sondern dass die Transformationen auch Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Akteure haben. Diese reagieren mit Professionalisierung und Spezialisierung auf diese Trends, was wiederum mit einer gewissen Entfremdung von den zu Vertretenden oder den Adressaten des eigenen Tuns einhergeht: Sprache wird technischer, abgehobener und wirkt damit distanziert. Dass sich Erfahrungswelten von Bürgern und Politikern auseinander bewegen, hat verschiedene Ursachen. Erstens machen die Transformationen die Prozesse der Meinungs- und Willensbildung nicht nur vielschichtiger, sondern auch die Zahl der beteiligten Akteure (Experten) steigt und der Ort politischer Entscheidungen verlagert sich immer noch mehr hin zu den Regierungen und vor allem zu den Regierungschefs. „Krisenzeiten stärken die Exekutive“ (Korte 2017, S. 227). Gleichzeitig spielen Expertengremien und externe Berater eine zunehmend wichtige Rolle. Diese Trends schwächen die Bedeutung der Parlamente, sie verkommen immer mehr zu Akklamationsorganen. Das zerreißt die Legitimationskette demokratischer Entscheidungsprozesse, und es schmälert die Gemeinwohlorientierung. Zweitens verändern die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten die Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Politik. Angesichts der neuen vertikalen Kommunikationskanäle, die auf der Basis vermeintlicher oder tatsächlicher Gleichrangigkeit von Kommunikator und Empfänger ablaufen, geraten die klassischen – vertikal und damit hierarchisch aufgebauten – Kommunikationsformate wie Presse oder öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, in den Verdacht, selbst Elite zu sein, bzw. die Interessen des „Establishments“ zu vertreten. Drittens kontrastiert die Schnelligkeit der Transformationen zu den eher langwierigen Prozessen einer rechtsstaatlichen und föderalen Demokratie. Die Wählerschaft zeigt sich nicht nur ungeduldig, sondern weiß die eigentlich bewährten Strukturen und Prozesse nicht mehr zu schätzen.

Foto: Akademie für Politische Bildung

Wenn Überforderung zu „Basta-Sehnsucht“ führt

Der Regierungsstil des früheren Bundeskanzlers (1998–2005) Gerhard Schröder (SPD) wurde in den Medien als „Basta“-Stil beschrieben. Die Bedingungen, unter denen Politik heute entsteht, sind definitiv nicht mehr „Basta-tauglich“. Irritierenderweise führt aber genau der Umstand, dass die Aufgaben so groß, die Zuständigkeiten auf so viele politische Ebenen verteilt, die Technologien sich rapide entwickeln, die Interessen so heterogen und die parlamentarischen Mehrheiten prekär sind, gleichzeitig zu etwas, was man als „wachsende Basta-Sehnsucht“ bezeichnen kann (Dausend/Pausch 2019). Alle Versuche der nationalen und der supranationalen Politik, die Folgen der großen Transformationen zu gestalten, werden von der Wählerschaft also auch an Maßstäben gemessen, die dieser „Basta-Sehnsucht“ entspringen. So bieten die digitale Transformation, die Globalisierung, die Klimapolitik und vor allem auch das Coronavirus Menschen mit Neigung zur populistischen Argumentation Anknüpfungspunkte, um sowohl Unzufriedenheit und Katastrophenängste zu schüren und Aversionen gegen Funktionseliten und Intellektualität zu pflegen. Wir leben in einer Zeit, in der eine Pandemie uns alle für die Nachteile der Globalisierung sensibilisiert und in der wir noch nicht absehen können, ob sie geeignet ist, die bestehende Vertrauenskrise in das repräsentative System zu verstärken oder womöglich sogar zu überwinden. In der Nach-Corona-Phase wird sich zeigen, ob nicht nur staatliche Institutionen und politische Führungskräfte etwas aus der Pandemie gelernt haben, sondern auch die Bürgerschaft: Nämlich, dass wir ein widerstands- und handlungsfähiges politisches System haben, das nicht nur in der Krise besser funktioniert, wenn ihm Vertrauen entgegengebracht wird und das dieses Vertrauen zudem verdient.

Gesellschaftlicher Wandel und der Wunsch nach Zugehörigkeit

Zu all dem kommt hinzu, dass wir Zeitzeugen eines enormen gesellschaftlichen Wandels sind. Der demografische Wandel, also der Umstand, dass die Gesellschaft bzw. ihre Mitglieder älter, weniger und „bunter“ werden und die Vielfalt an Lebensformen deutlich zugenommen hat, führt auch dazu, dass die Prozesse der Willensbildung anspruchsvoller werden. Die Herausforderung, sehr unterschiedliche Gruppen in die Gesellschaft zu integrieren oder zu verbindlichen politischen Entscheidungen zu kommen, bringt nicht nur die politischen Akteure oder auch die Massenmedien unter Druck, sondern auch die Politische Bildung. Zudem geht die wachsende Heterogenität der Gesellschaft mit einer der größeren Bedeutung der sogenannten Identitätspolitik einher: „America First“, Protektionismus heimischer Wirtschaften gegenüber bspw. China, die Abgrenzung von Einheimischen und Migranten sowie der Versuch, das „ausländische Virus“ (Donald Trump) mittels Grenzschließungen fernzuhalten, können als Beispiele für diesen Trend zur Betonung von Unterschieden angeführt werden. Die Bereitschaft, das eigene Land bzw. die eigene Nation zum Wohle Europas, also des Gemeinwohls, hintanzustellen, wird von den zwar kleinen, aber dafür lauten Teilen der nationalen Wählerschaft nicht mehr hingenommen und sogar massiv bekämpft. In unserer moralisch aufgeladenen Welt führt das Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien schnell in einen Kampfmodus und damit in die Polarisierung. Gerade in der Politischen Bildung kann und darf Polarisierung nicht unterstützt werden. Differenzierung ist angebracht. Klüger als reflexartig „Populisten“ zu rufen, wäre es, zu unterscheiden zwischen übler Demagogie und berechtigten Kritikpunkten, aus denen die politisch Verantwortlichen, aber auch die Multiplikatoren der Politischen Bildung lernen können und müssen. So erschiene es falsch, jede Kritik an bspw. der Europäischen Union oder der Flüchtlingspolitik in Demokratieskepsis oder womöglich Nationalismus und sogar Rassismus umzudeuten. Fehlende Differenzierung, voreilige Pauschalierungen und Verurteilungen machen es den wirklichen Gegnern einer pluralistischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung zu einfach.

Veränderungen im Medienkonsum

Eine funktionierende rechtsstaatliche Demokratie wie die bundesdeutsche ist in dem Sinne eine „eingebettete Demokratie“ (Merkel 2016), als dass sie weit mehr umfasst als nur die demokratische Legitimation von Mandatsträgern und Amtsinhabern. Unverzichtbar ist vor allem eine „Arena der Öffentlichkeit“, in der Medien unter anderem die Aufgabe der informellen Gewaltenkontrolle übernehmen. Gleichzeitig wird den Medien auch eine andere Funktion zugeschrieben, nämlich die eines Frühwarnsystems für gesellschaftliche Entwicklungen. Zeitungen und andere Qualitätsmedien tragen zum Verständnis bei, weshalb politische Entscheidungen so und nicht anders getroffen werden und wurden; sie verhelfen zu Transparenz über staatliche Strukturen und politische Interessenlagen. Wem nun dagegen das Wissen über die Zusammenhänge fehlt, der ist empfänglich für Lügen („Fake News“), für Verschwörungstheorien, für Hetze. Die Gesetzmäßigkeiten der digitalen Kommunikation setzen etablierte Prozesse und Strukturen der politischen Meinungsbildung unter Druck. Diejenigen im In- und Ausland, die von der Vertrauenskrise unserer etablierten Institutionen profitieren wollen, besitzen nun Werkzeuge der Skandalisierung, der Fälschung und der Mobilisierung, von denen wir vor nur 15 Jahren noch keine Vorstellung hatten (vgl. Pörksen 2018). Heutzutage bieten die digitalen Netzwerke die Möglichkeit, ein Anliegen ohne Umweg womöglich sogar „viral“ zu verbreiten. Auch wenn im Umfeld der Coronakrise zu beobachten ist, dass die Nachfrage nach den Informationsangeboten gerade der öffentlich-rechtlichen Sender sowie der Qualitätspresse in allen Altersgruppen steigt (vgl. Dobusch 2020): Tageszeitungen und öffentlich-rechtlicher Rundfunk spielen im Leben gerade von Jüngeren kaum mehr eine Rolle (vgl. Feierabend/Rathgeb/Reutter 2018). Es bleibt abzuwarten, ob Journalisten und Redaktionen ihre frühere Deutungshoheit, also ihre weitgehende Monopolstellung als Gatekeeper, nochmals zurückgewinnen können oder ob diese unwiederbringlich verloren geht.

Die Demokratie und die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze hängen keinesfalls alleine von der Qualität der Mandats- und Amtsinhaber, nicht einmal von gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Gewährleistungen ab. Die Wichtigkeit und Bedeutung intermediärer Organisationen in Zeiten großer gesellschaftlicher Transformationen sind nicht zu vernachlässigen. Das sogenannte intermediäre System gewährleistet die lebendige Verbindung zwischen den staatlichen Institutionen und dem Staatsvolk – bzw. besser gesagt, der Gesellschaft. Sie üben – im Idealfall – eine höchst relevante Vermittlungsfunktion zwischen diesen beiden Entitäten aus. Wenn die Strukturierungsfähigkeit der intermediären Institutionen weniger nachgefragt wird, dann sind Bürger und Bürgerinnen bei der Suche nach Einordnung und Orientierung stärker als bisher auf sich selbst gestellt. Wer verhindern will, dass hier ein Vakuum entsteht, in dem sich digital verbreitete Botschaften und Falschmeldungen der Anti-Pluralisten unterschiedlicher Couleur festsetzen und ausbreiten, muss die Bevölkerung in ihrer Rolle als gemeinsinnorientierte und verantwortungsbewusste Bürger stärken. Besonders problematisch ist die anti-liberale Haltung zum Aufstand gegen das Establishment, gegen die Eliten, die vor allem Jüngere anspricht. Verlieren diese „Leitplanken“ an Bedeutung, dann schlägt – eigentlich – die Stunde der Politischen Bildung. Dabei gilt aber auch: Die Politische Bildung muss sich inhaltlich und methodisch auf diese Veränderungen einstellen, und sie muss verständlich machen, warum eine globale Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die Globalisierung, der Klimawandel und vor allem die Digitalisierung auch einen Einfluss auf die Demokratie haben. Die Frage ist nur – wie? Schließlich wird das zur politischen Urteilsbildung unabdingbare Orientierungs- und vor allem Deutungswissen gerade nicht durch die bloße Verfügbarkeit von Informationen erreicht (vgl. Ziegler/Waldis 2018).

Die Herausforderungen für die Politische Bildung

Unter anderem muss Politische Bildung sichtbar machen, dass es immer um unterschiedliche Interessen geht, sie muss anschaulich machen, warum Menschen oder Gruppen von Personen unterschiedliche Interessen haben. Dazu stehen unter anderem didaktische Werkzeuge zur Verfügung, die nachvollziehbar machen, worauf zum Beispiel Interessensunterschiede beruhen. Politiksimulationen oder Formate wie „Jugend debattiert“ haben sich dabei bewährt. Diese Vermittlungsformen können aufzeigen, dass wir über Methoden und Prozesse verfügen (Spielregeln), um Konflikte zu lösen. Dadurch kann sowohl das Einnehmen unterschiedlicher inhaltlicher Positionen eingeübt als auch Wissen mittels Erleben, Austausch und Spaß vermittelt werden. Zentral ist zudem die Auseinandersetzung mit dem „warum“ der anderen Einschätzung, die der Meinungspolarisierung entgegenwirkt. Auch aus diesem Grund spricht sehr viel dafür, die verschiedenen Formate ressourcenintensiver bürgerzentrierter Beteiligung (wie zum Beispiel Bürgerhaushalte, Minipublics) auf lokaler und regionaler Ebene durch politische Bildungsarbeit zu begleiten. Diese Begleitfunktion könnte und sollte durch Evaluierung flankiert werden, aus der die Politische Bildung wiederum neue Erkenntnisse gewinnen könnte.

Die Politische Bildung muss sich inhaltlich und methodisch auf diese Veränderungen einstellen, und sie muss verständlich machen, warum eine globale Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die Globalisierung, der Klimawandel und vor allem die Digitalisierung auch einen Einfluss auf die Demokratie haben.

Politische Bildung allein wird allerdings nicht genügen. Bürger müssen auch befähigt sein, die Mechanismen der digitalen Kommunikation und der digitalen Wirtschaft zu durchschauen (vgl. Deichmann/May 2019). Der Erwerb algorithmischen Grundverständnisses ist dafür erforderlich (vgl. Meeh 2019). Im Zeitalter der Digitalisierung sollen mündige Bürger auch diejenigen Prozesse verstehen, die dazu führen, dass „Nutzer“ nicht Kunden, sondern eher Produkte von Internetkonzernen sind, die aus unseren Daten für das Maschinenlernen bzw. die Künstliche Intelligenz benötigten Informationen gewinnen. Selbst Profis fällt es in Zeiten der Bild- und Videofälschung („Deepfake“) oder der gekauften Trolle und Social Bots schwer, wahr und falsch angemessen schnell zu unterscheiden. Diese Überforderung begünstigt die Nachfrage nach den Botschaften der Vereinfacher und Populisten ebenso wie übertriebenes Bestätigungsdenken in „gatekeeperfreien Zonen“. Angesichts dieser Herausforderung reicht der erhobene Zeigefinger der Medienpädagogen schon lange nicht mehr.

Unsere Bürgerschaft hat ein hohes Selbstbild. Die Multi-Optionalität, also die Vielzahl konkurrierender Möglichkeiten, Freizeit zu gestalten, zwingt die Anbieter Politischer Bildung, ihre Angebote besonders attraktiv zu gestalten. Gelingt das nicht, wird zumindest die außerschulische Politische Bildung kaum mehr Abnehmer finden. Die Transformationen sind also nicht nur für die politisch Verantwortlichen immens, sondern auch für Politische Bildung.

Zur Autorin

Dr. Ursula Münch ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München (derzeit beurlaubt) und Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Föderalismus- und Parteienforschung, Politikfeldanalysen sowie Fragen der gesellschaftlichen Integration. Sie ist u. a. Mitglied des Wissenschaftsrates, des Hochschulrats der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation (bidt) an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
U.Muench@apb-tutzing.de

Literatur

Dausend, Peter/Pausch, Robert (2019): Niemand will. Die Erwartungen an Politik wachsen, ihr Einfluss aber schrumpft – nicht nur in der SPD scheuen immer mehr Spitzenleute Verantwortung. In: Die Zeit, Nr. 26/2019, 19. Juni 2019; www.zeit.de/2019/26/politik-verantwortung-sofortismus-demontage/komplettansicht (Zugriff: 08.04.2020)
Deichmann, Carl/May, Michael (Hrsg.) (2019): Orientierungen politischer Bildung im „postfaktischen Zeitalter“. Wiesbaden: Springer VS
Dobusch, Leonhard (2020): Beweist Corona die Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Medien? In: Netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2020/beweist-corona-die-notwendigkeit-oeffentlich-rechtlicher-medien (Zugriff: 08.04.2020)
Feierabend, Sabine/Rathgeb, Thomas/Reutter, Theresa (2018): Jugend, Information, Medien. Ergebnisse der JIM-Studie 2018. In: Media Perspektiven 12/2018, S. 587–600
Friedman, Thomas L. (2017): Thank you for being late. Ein optimistisches Handbuch für das Zeitalter der Beschleunigung. Köln: Bastei Lübbe
Korte, Karl-Rudolf (2017): Der Sog der Mitte: Die Repolitisierung der Wähler im Wahljahr 2017. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 2017, S. 221–231
Lobo, Sascha (2019): Realitätsschock: Zehn Lehren aus der Gegenwart. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Meeh, Holger (2019): Digitale Werkzeuge für die politische Bildung. In: Politik & Unterricht. Zeitschrift für Praxis der politischen Bildung 2–3/2019, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg; Themenheft: Digital ist besser? Die Leitperspektive Medienbildung in Schule und Unterricht
Merkel, Wolfgang (2016): Krise der Demokratie? Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40–42/2016, S. 4–11
Münch, Ursula (2019): Digitale Transformation: Mehr als eine Herausforderung – eine Gestaltungsaufgabe. Akademie-Kurzanalyse 1/2019, August 2019; www.apb-tutzing.de/download/publikationen/kurzanalysen/Akademie-Kurzanalyse_2019_01.pdf (Zugriff: 08.04.2020)
Münch, Ursula (2020): Die Demokratie in Zeiten der Pandemie. In: Rotary Magazin 4/2020; https://rotary.de/gesellschaft/demokratie-unter-quarantaene-a-15749.html (Zugriff: 08.04.2020)
Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Hanser
Soentgen, Jens (2020): Das Ende des Zwei-Grad-Ziels. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Heft 849/2020, S. 22–33
Ziegler, Béatrice/Waldis, Monika (Hrsg.) (2018): Politische Bildung in der Demokratie. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS