(Post-)Coronale Verwerfungslinien
Anderthalb Jahre Corona-Pandemie haben Deutschland nicht nur einen neuen Sprachschatz beschert (vgl. Leibniz Institut für deutsche Sprache 2006 ff.), sie haben auch allen Bürger*innen – dank eines grundlegend unerwünschten Gegenstandes – eine aus Erfahrungen, Wissen und Mutmaßungen gespeiste Horizonterweiterung aufgezwungen. „R-Wert“, „Inzidenzzahl“ und „FFP2-Maske“ gehen heute allen so problemlos von den Lippen wie vordem „Urlaub“, „Einkaufen“ und „Feierabend“. Ob „Lockdown“, „Homeoffice“, „Impfstrategie“ oder „Drosten“, „Lauterbach“, „Spahn“ – niemand wird heute noch fragen, was oder wer das ist. Das in dieser Zeit erworbene gemeinsame Grundwissen sollte jedoch nicht über ein weiteres Kennzeichen der Situation hinwegtäuschen: Die Corona-Pandemie hat einerseits eine globale, unentrinnbare und kollektive Situation geschaffen, andererseits und gleichzeitig sehr ungleiche, überall individualisierte und teilweise auch extrem einsame Erfahrungen erzeugt. Beides – die Kollektivität der Betroffenheit und die Individualität der Erfahrungen – macht das sozialwissenschaftliche Einordnen der Krise zu einer Gratwanderung: Was kann heute noch gesagt werden, was nicht schon von vielen gesagt wurde? Und was kann geschrieben werden, das die individuellen Deutungen der Pandemie weder einfach leugnet noch schlicht übernimmt?
Ich werde mich der Aufgabe im Folgenden so stellen, dass ich den Pandemieverlauf, Kerndebatten der letzten Monate und auch die getroffenen Maßnahmen als prinzipiell bekannt unterstelle und nur dort auf diese eingehe, wo sie mir um meiner Argumente willen erläuterungsbedürftig scheinen. Stattdessen werde ich im Folgenden zunächst die Pandemie am Kreuzungspunkt ganz unterschiedlicher Dimensionen verorten. Anschließend wende ich mich den politischen Folgen zu und versuche, einen Blick auf das wahrscheinliche politische und soziale Erbe der Pandemie vorauszuwerfen.