Außerschulische Bildung 1/2022

„All that matters“

Demokratie und Rassismus als Themen im deutsch-amerikanischen Austausch

Welche Bilder haben wir voneinander? Wie beurteilen wir den Zustand der Demokratie in Deutschland und den USA? Wo müssen wir uns Rassismus im gesellschaftlichen Alltag stellen? Und welche Bedeutung hat der Blick in die Geschichte für unsere Zusammenarbeit? Diese Fragen umreißen den Inhalt dieses Beitrags und waren zugleich in zwei Fachprogrammen zentral, von denen im Folgenden die Rede sein wird. von Martin Kaiser

Die Verfassung weißer alter Männer

„Our German friends might not be aware of this”, sagt Nia, Teilnehmerin am Deutsch-Amerikanischen Fachprogramm 2020 und Black Lives Matter-Aktivistin, „but our constitution was drafted by white old men of Anglo-Saxon origin with protestant background, most of them were slaveholders and they certainly didn’t have a young Afro-American woman like me on their minds.” Damit benennt sie in einem Satz die Themen, um die es in diesem Beitrag geht und die in zwei Fachprogrammen, im August 2019 in Präsenz mit dem Titel „Choosing hope over fear. Democracy and diversity in the U.S. and Germany“, und im Oktober/November 2020 digital mit dem Titel „’The grapes of wrath.’ Racism and the crisis of democracy in the U.S. and Germany“ im Fokus standen. Diese wurden vom Gustav-Stresemann-Institut in Niedersachsen e. V. – Europäisches Bildungs- und Tagungshaus Bad Bevensen (GSI) zusammen mit der Arab American Community of Philadelphia realisiert.

Deutsche Berechenbarkeit und amerikanische Einzigartigkeit. Eigen- und Fremdbilder im Vergleich

In beiden Programmen beschäftigten wir uns zum Einstieg mit den Deutschland- und USA-Bildern der Teilnehmenden:

Merkel, Hitler und die Mauer. Zum Deutschlandbild der amerikanischen Gruppe

Beim Präsenzseminar im Sommer 2019 – wir befinden uns am Ende des dritten Jahres der Trump-Administration – erhalten die Teilnehmenden beider Gruppen auf DIN A3-Bögen eine Silhouette mit den Umrissen des anderen Landes. Ihre Aufgabe ist es, ihre Assoziationen und Vorstellungen in Form von Symbolen und Bildern auf das Papier zu zeichnen – ganz spontan, ohne lange nachzudenken, ohne intellektuellen Abgleich oder innere Schere. Wir wollen einfangen und in der Gruppe präsentieren, was die Einzelnen im Kopf haben.

Auf den Bildern der Amerikaner*innen zu Deutschland bestimmen neben den Symbolen der Automarken und den Zeichnungen zu Currywurst und Sauerkraut mehrere politische Themen den Eindruck: Auf fast allen durchzieht ein langer Mauerstreifen die Zeichnung. „Ihr wart so lange geteilt“, erläutert Noelle, Teilnehmerin aus Philadelphia. Grant zeichnet dunkle Gebäude und dunkle Menschen in der Osthälfte. „Ich vermute“, erklärt er dazu, „die im Osten Deutschlands sind ziemlich unglücklich.“ Hakenkreuze und Panzer erinnern an die Nazizeit und den zweiten Weltkrieg. Die Nazizeit sei ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte, „aber die habt ihr ja überwunden“, fügen sie hinzu. Darauf werden wir beim Thema Rechtsextremismus noch eingehen.

Beim Online-Format übertragen wir die Methode zu Eigen- und Fremdbildern ins Digitale. Diesmal erstellen die Teilnehmenden (über Mentimeter) mit Hilfe ihrer Smartphones Word Clouds; die Größe der Schrift gibt die Häufigkeit der Nennungen wieder. Zwei Namen dominieren das Bild: Merkel und Hitler. Einige andere Begriffe fallen ins Auge, die im Vorjahr kaum genannt wurden: immigration wird benannt, diversity, hate und refugees; weitere Stichworte verweisen auf die Nazizeit.

In der Diskussion fragen die amerikanischen Teilnehmenden, wie die Nazizeit in deutschen Schulen behandelt werde. „Ziemlich ausführlich“, antwortet Jonas, Teilnehmer aus München, „aber nicht immer in einer Form, die uns angesprochen hat.“ Er hätte sich Gespräche mit Zeitzeug*innen gewünscht, vielleicht auch eine Exkursion. Weitere Gesprächsthemen sind die deutsche Wirtschaft und die Kontroversen um das Thema Migration in Medien, Politik und Öffentlichkeit.

Mein Bild von Deutschland. Foto: Martin Kaiser

Rassismus, Wirtschaftskraft und Polarisierung. Zum USA-Bild der deutschen Gruppe

Und wie sehen die deutschen Teilnehmenden die USA? Im Präsenzseminar vom Sommer 2019 dominieren die unter Trump kontrovers diskutierten Themen: Boote, die über den Atlantik kommen, stehen für die Geschichte der Einwanderung; Stacheldraht und Mauer an der Grenze zu Mexiko fallen ins Auge. Menschen in unterschiedlichen Farben symbolisieren Vielfalt; zwei Halbkreise in Schwarz und Weiß stehen für die Trennung von Weißen und Persons of Color. „Und für die subtilen Strukturen von Rassismus, die in den USA immer bestehen“ fügt Melina, Teilnehmerin aus Hamburg, hinzu. Ein riesiger Dollarschein, die Firmenlogos von Google und Microsoft symbolisieren die Bedeutung des Geldes, des Kapitalismus und der Technikgläubigkeit. Auf mehreren Bildern fliegt eine Passagiermaschine in einen Wolkenkratzer – 9-11 gehört zu den festen Bestandteilen der USA-Bilder. Gibt es auch etwas Positives? Jemand hat Bücher gemalt, „die stehen für die hervorragende amerikanische Literatur“. Und die landschaftliche Schönheit ist zu sehen.

Ein gutes Jahr später, in der Word Cloud der deutschen Teilnehmenden, wird freedom am häufigsten genannt. Aber andere Begriffe wie division, polarization, colonialism, imperialism und inequality häufen sich. Die amerikanischen Teilnehmenden sind nicht überrascht. Sie hadern mit dem gegenwärtigen Erscheinungsbild ihrer Politik. „No surprise that we have such a negative image“, beklagt sich Mya, amerikanische Teilnehmerin aus West Chester und Aktivistin bei Black Lives Matter. „We need a change.” Zwei Dinge stören sie vor allem: „You cannot trust politicians. And in present-day America it is okay again to be racist.” Ihre Äußerung bleibt nicht unwidersprochen, aber die meisten ihrer Landsleute pflichten ihr bei.

American Exceptionalism und deutsche Berechenbarkeit. Zwei Ergänzungen

Wenn ihr das Bild eures Landes in der anderen Gruppe betrachtet, fragen wir die Teilnehmenden in einer Breakout Session, welche Begriffe vermisst ihr? Beide Gruppen haben dazu einiges beizutragen. „Was mir fehlt“, sagt Mya, „ist was zur amerikanischen Scheinheiligkeit. Wir haben den Anspruch, der strahlende Leuchtturm von Freiheit und Demokratie zu sein – und gleichzeitig führen wir alle möglichen Kriege, unterstützen undemokratische Regime, verletzen Bürgerrechte in der Innen- und Außenpolitik …“

Gleich mehrere möchten das Stichwort American Exceptionalism hinzufügen – ein Begriff, eine Einstellung, an die die Deutschen nicht gedacht hätten, wie sie zugeben. Es ist dieses Gefühl, etwas Besonderes zu sein, versuchen die Amerikaner*innen zu erklären, diese Vorstellung von einer besonderen Bestimmung. Einige möchten klarstellen, dass sie diese Begriffe nicht deshalb erwähnen, weil sie mit den Vorstellungen, für die sie stehen, übereinstimmen, sondern nur, weil ihnen bewusst ist, dass sie in der amerikanischen Gesellschaft eine prominente Rolle spielen.

Und die Deutschen, welche Stichworte möchten sie hinzufügen? Sie benennen „Berechenbarkeit“. Diese habe etwas mit Verantwortungsübernahme zu tun für das, was in Politik und Gesellschaft geschehe; aber es bedeutet auch, dass man sich auf den Lauf der Dinge verlassen kann.

Polarisierung und fehlende Repräsentation: zur Krise der Demokratie in beiden Ländern

Im Herbst 2020 greifen wir das Thema „Krise der Demokratie“ auf. Die Präsidentschaftswahlen in den USA und die kritischen Analysen zur Regierbarkeit in Deutschland geben ausreichend Stoff für die Auseinandersetzung mit dieser Frage.

Das Vertrauen in die Politik wiederherstellen

„Was ist eurer Meinung nach die dringendste Aufgabe für den nächsten Präsidenten?“, fragen wir die Teilnehmenden beider Länder zu Beginn der dritten Sitzung, nur sechs Tage nach den Wahlen, als die Auszählung noch läuft, Trump und seine Anhängerschaft von Wahlbetrug und gestohlenem Sieg sprechen.

Viele Antworten sind ähnlich: eine Anstrengung unternehmen, um internationalen Respekt wieder aufzubauen; Amerika wieder einen; die am häufigsten wiederholte Aufgabe: das Vertrauen in Regierung und Politik wiederherstellen; rassistische Spannungen reduzieren, den racial divide überwinden.

In der folgenden Einheit präsentieren die Teilnehmenden ihre Stichworte zur Krise der Demokratie in beiden Ländern.

Einschüchterung von Wähler*innen und Gerrymandering

In ihrer Präsentation hebt die amerikanische Gruppe vier Aspekte hervor:

  • Einschüchterung von Wähler*innen: Sogenannte „Freiwillige Wahlbeobachter*innen“ („volunteer poll watchers“) bedrohten Leute, die ihre Stimme vorzeitig abgeben wollten, überwiegend in Wahlbezirken mit einem hohen Anteil an afro- und latino-amerikanischen Wähler*innen, die traditionell mehrheitlich demokratisch wählen.
  • Restriktive Wahlgesetze: In einigen Staaten werden Lichtbildausweise zur Wahl gefordert; bis zu 25 % der Afroamerikaner*innen haben keinen Lichtbildausweis – im Vergleich zu nur 8 % weißen Amerikaner*innen. Diese restriktive Wahlgesetzgebung habe beispielsweise 2016 dafür gesorgt, dass der Staat Wisconsin an Trump gegangen sei (vgl. Horst et. al. 2019, S. 125)
  • Gerrymandering: Die amerikanische Gruppe präsentiert ein Beispiel aus North Carolina, in dem die Grenzen eines demokratisch wählenden Bezirks mit Student*innen und die von danebenliegenden, überwiegend republikanisch wählenden Wohnbezirken so neu gezogen wurden, sodass sich die Mehrheitsverhältnisse änderten (vgl. Daley 2019).
  • Polarisierung: Es gehe gar nicht mehr um Inhalte. Der gesamte Wahlkampf habe die Menschen polarisiert. Es gehe nur noch darum, die jeweilige Partei mit ihren Kandidat*innen zu unterstützen; Inhalte spielten beinahe ausschließlich aufgrund ihrer Zuordnung zu Parteipositionen eine Rolle.

Weitere Aspekte, die als Faktoren der amerikanischen Demokratie-Krise zur Sprache kommen, betreffen vor allem das Wahlsystem mit seinem „Winner-take-all“-System, in dem viele Stimmen unberücksichtigt bleiben.

Wie demokratisch ist die Demokratie in Deutschland? Eine kritische Analyse

Gibt es eine Krise der Demokratie in Deutschland? Der deutschen Teilnehmenden sind der Meinung: Sie gibt es. Diese Behauptung untermauern sie mit mehreren Beispielen:

  • Die Krise der politischen Parteien: Hier führt die Gruppe einige Zahlen an. Die großen Volksparteien SPD und CDU hatten zu Beginn der 1980er Jahre beide ca. eine Million Mitglieder. Bis zum Jahr 2015 sank diese Zahl auf jeweils weniger als die Hälfte. Werterevolution, Pluralismus von Lebensstilen, Protestkulturen führten zu massiver Sozialkritik und politischer Selbstorganisation; politische Bewegungen und Bürgerinitiativen entstanden. Politische Parteien wurden immer unwichtiger, die Wahlbeteiligung sank.
  • Die Krise der Regierungsbildung: Es wird immer schwieriger in Deutschland eine Regierung zu bilden. Bis in die 1980er Jahre erhielten die Volksparteien jeweils mehr als 80 % der Stimmen. Regierungsfähige Koalitionen konnten aus zwei Parteien gebildet werden. Bei den Bundestagswahlen 2017 kamen die beiden großen Parteien nur noch auf 53 %, die AfD erhielt 12,6 % der Stimmen. Das bedeutete auch, dass außer im Falle einer großen Koalition zwischen CDU und SPD keine Zweiparteienkoalition eine Regierung bilden konnte. Drei- oder Vierparteienkoalitionen erforderten sehr viele Kompromisse im Gesetzgebungsverfahren und machten das Regieren nicht leicht.
  • Die Krise der politischen Repräsentation: Viele Menschen fühlen sich im politischen System nicht repräsentiert. Besonders die letzten Jahre seien geprägt von populistischen Bewegungen mit „besorgten Bürgern“ und der Behauptung, für die schweigende Mehrheit zu sprechen und für diejenigen, die sich abgehängt fühlten. In all diesen Fällen wurden Bürger*innen aktiv, weil sie sich nicht repräsentiert fühlten.

In der Diskussion zeigen beide Gruppen großes Interesse an zwei Aspekten: Wie konnten die Grünen im politischen Kontext der 70er Jahre entstehen? Der deutsche Koordinator weist darauf hin, dass sich in diesem Fall eine Bewegung zu einer Partei entwickelt habe, die zunächst in Parlamenten vertreten und dann auch an Regierungen beteiligt gewesen sei. Der zweite Aspekt: Wie schaff(t)en es die populistischen Parteien in die Parlamente? Das wird Thema einer gesonderten Sitzung im Seminar sein.

Der Eindruck der Teilnehmenden, dass das politische Klima viel rauer geworden und die demokratische Kultur in beiden Ländern beschädigt worden sei, wird von Analytiker*innen beider Seiten bestätigt: In Deutschland beschreiben sie die Erosion der Volksparteien (vgl. Koß 2021), den Aufstieg des Populismus auch in der demokratischen Mitte (vgl. Zick/Küpper 2021), den Vertrauensverlust in das Funktionieren der Demokratie (vgl. Decker et al. 2019) und die wachsende Unzufriedenheit mit den politischen Entscheidungsträger*innen (vgl. Merkel 2015). In den USA beklagen sie die Vernachlässigung demokratischer Normen und der ungeschriebenen Gesetze politischen Verhaltens (vgl. Levitsky/Ziblatt 2018, S. 100 f.), die von den Teilnehmenden angesprochene wachsende Polarisation und Parteilichkeit in der amerikanischen Wählerschaft (vgl. Klein 2020, S. xiv) und die Defizite im amerikanischen Wahlsystem (vgl. Hils/Wilzewski 2006).

Viel Stoff für die Diskussion.

The danger of a single story. Multiperspektivität und Rassismus als Thema

Im Sommer 2019 war das Thema Rassismus bereits beim Betrachten der USA- und Deutschland-Bilder präsent. Wir vertiefen es während des Programms mit Informationseinheiten, praktischen Übungen, Literatur und Projektbesuchen.

Peptalk: Getrennt, aber gleich? Gerichtsurteile in Zeiten der Segregation

In einem peptalk fasst Marwan K., Leiter der amerikanischen Gruppe, wichtige Ereignisse aus der Geschichte des Rassismus in den USA zusammen. Er spricht von den Kontroversen der Gründungsväter, die sich nicht auf die Abschaffung der Sklaverei einigen konnten; vom Bürgerkrieg, der die Sklaven zwar offiziell befreite, aber ihnen keine wirkliche Gleichberechtigung verschaffte. Die Jim Crow Laws finden Erwähnung, die die Rassentrennung auf legalem Wege sicherstellten und die weiße Vorherrschaft festigten. Als Marwan zwei berühmte Urteile des Obersten Gerichtshof erwähnt, nicken die amerikanischen Teilnehmenden: 1896 (Fall Plessy gegen Ferguson) bestätigte das Gericht implizit die „getrennt aber gleich“-Doktrin, indem es Regelungen wie getrennte Bahnabteile, Toiletten oder Freibäder als verfassungskonform erklärte. 1954 hingegen (Fall Brown gegen Board of Education of Topeka) erklärte das Gericht die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig und kippte damit die vorgenannte Doktrin. Weitere Stichworte betreffen die Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner*innen nach Pearl Harbor, die Bürgerrechtsbewegung und die Demonstrationen von Black Lives Matter.

When thinking of the U.S. the following keywords come up … Foto: Martin Kaiser

„There is still a lot to do”, erklärt Nye. Sie weiß, dass sich unmittelbar nach dem Bürgerkrieg über 92 % der African Americans im amerikanischen Süden zum Wählen registrieren ließen. In den Jahren nach 1945 war diese Zahl auf gut 5 % zurückgegangen. Dies bestätigen auch die Ergebnisse aktueller Analysen (vgl. z. B. Klein 2020, S. 24 f.). „Laws and court verdicts are not enough“, sagt Nye. „We need a change in our society, in daily life, in schools, universities, on the job market, in voter registration. Everywhere.”

The danger of a single story

In einer Seminareinheit arbeiten wir mit Texten und Videoclips der in Nigeria geborenen Autorin Chimananda Ngozi Adichie. Einer ihrer zentralen Ansätze, mit denen sie Alltagsrassismus erklärt, ist „the danger of a single story“. In einer Szene beschreibt Adichie das erste Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin im Dormitory: Die fragte sie nach ihrer Stammesmusik und war höchst erstaunt, das junge Leute in Nigeria Mariah Carey hörten. Afrika – und das genau war die Gefahr der „single story“ – bestand für sie aus Safaris, aus Hungersnot, Aids und unverständlichen Stammesfehden. Eine andere Wahrnehmung hatte sie nicht.

Wir nutzen das Buch, um rassismuskritische Verhaltensweisen herauszuarbeiten. Adichie nennt das „Friendly tips for the American Non-Black how to react to an American Black Talking about Blackness”: Sucht nicht schnell nach Entschuldigungen für das Geschehene. Sagt nicht: „Ich bin farbenblind“, denn dann müsst ihr zum Arzt. Sagt nicht: „Wir sind‘s leid über race zu reden“, das sind Schwarze auch. Du kannst schwarze Freunde haben und trotzdem rassistische Scheiße bauen. Schlagt keinen Lasst-uns-fair-sein-Tonfall an und sagt nicht: „Aber Schwarze sind auch Rassisten.“ Klar, wir alle haben Vorurteile (Adichie 2013, S. 322 ff).

Sehr schnell arbeiten die Teilnehmenden heraus, was nach all diesen „Don’ts“ die „Dos“ sind, die Verhaltensweisen, die wirklich helfen, eine Atmosphäre zu schaffen, die frei von Rassismus ist: „Zuhören; hört genau, was gesagt wird“, fasst Jonas zusammen. Und Alicia fügt hinzu: „Denkt daran, es geht nicht um euch; schwarze Amerikanerinnen wie ich sagen niemandem, ‚du bist schuld‘.“ Und für Nye ist klar: „Wenn du was nicht verstehst, frag nach; sag, wenn dir was unangenehm ist; sei einfach offen.“ Und ein letzter Hinweis von Adichie: Sucht Gesprächssituationen. Manchmal wollen Leute einfach gehört werden (ebd., S. 326).

„Discover diversity.“ Besuche antirassistischer Projekte in Berlin

Taugen diese Ratschläge Adichies für die Praxis? Das wollen wir überprüfen, als wir in Berlin Projekte mit antirassistischer Bildungsarbeit besuchen. Sie sollen den Teilnehmenden Anregungen für die Folge-Projekte geben, die sie selbst in den letzten beiden Seminartagen entwickeln und dann vor Ort, in ihrem lebensweltlichen Umfeld, umsetzen. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg sprechen wir mit einer deutsch-türkischen Diversity-Trainerin der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Sie hat Konzepte zur Arbeit gegen muslim-feindliche Diskriminierung und zur Prävention von politischem und religiösem Extremismus entwickelt. „Discover Diversity“ heißt ihr neuestes Projekt, das für Projekttage in Schulen zugeschnitten ist. „Wir fragen die Jugendlichen, was sie über andere wissen, über andere Kulturen, andere Religionen, andere Weltanschauungen.“ Schnell kommen sie „single stories“ dabei auf die Spur. Sie gehen zu Orten, die die Jugendlichen zuvor niemals besucht haben, Moscheen oder Synagogen, Museen und historische Denkmäler – an denen sich oft Geschichten über Diskriminierung festmachen lassen. „Wir hören genau hin“, sagt sie, „was sie zu sagen haben. Wir nehmen sie ernst. Wir verstehen, warum sie sich nicht wahrgenommen fühlen, nicht gehört, manchmal auch abgehängt. Und das ist genau der Punkt, an dem Anti-Diskriminierungsarbeit beginnt; an dem wir anfangen, Radikalisierung zu verhindern.“

Die USA und die deutsche Einheit – USA und das geteilte Deutschland

In den Deutschlandbildern der amerikanischen Gruppe vom Sommer 2019 spielten die Mauer, die deutsche Teilung und Vereinigung eine wichtige Rolle. Was sollten Teilnehmer*innen eines bilateralen Fachprogramms über diese Geschichte wissen – und was interessiert sie? Wir beginnen mit einem Blick in die Geschichte, besuchen das Mauerdenkmal in der Bernauer Straße und sprechen mit Zeitzeug*innen aus Ost und West.

Die Wirkung eines Besuchs vor Ort: George W. Bush in „Little Berlin“

Nach einem Überblick über die Nachkriegsgeschichte betrachten wir die Jahre 1989/90: Während Thatcher und Mitterand hinter den Kulissen dagegen opponierten (vgl. z. B. Rice/Zelikow 2002), unterstützte Bush die deutsche Einheit. Im November 1983, als Vizepräsident, hatte er zusammen mit dem damaligen Verteidigungsminister Wörner den kleinen geteilten Ort Mödlareuth – in amerikanischen Quellen häufig als „Little Berlin“ bezeichnet – besucht. Später, in seinen Memoiren, schreibt er, dass er an diesem Ort und in dieser Situation den Einfluss des Kalten Krieges auf Deutschland und die Bedeutung der Teilung verstanden habe (vgl. Bush 1999, S. 326). Seine Unterstützung für die deutsche Einheit ist allerdings an eine klare Forderung gebunden: Das geeinte Deutschland muss der NATO beitreten.

Nye: „I learned that not everything is black or white. There is so much in between. We have to look at things very carefully, before we judge.“

Besonders die Geschichte seines Besuchs im Dorf Mödlareuth, den der Referent mit dokumentarischen Fotos untermauert, beschäftigt die Teilnehmenden. Sie sehen die großen Linien amerikanischer Deutschlandpolitik; die Frage von Teilung und Vereinigung im Kontext globaler Entwicklungen; die Strategie der Westintegration und der Interessen amerikanischer Sicherheitspolitik; und die Bedeutung eines persönlichen Besuchs vor Ort.

Mauersprünge: wie ein Zeitzeuge aus dem Westen die Teilung erlebt

Wir arbeiten die Geschichte der Teilung und Vereinigung anhand von zwei Zeitzeug*innenberichten auf. Martin K., geboren im Rheinland, wuchs in einer Zeit auf, die geprägt war vom Kalten Krieg und den bipolaren Machtverhältnissen, die die Welt und auch sein Land in Ost und West teilten. Als er Ende der 70er Jahre die Möglichkeit hatte, jungen Leuten in der DDR zu begegnen, nahm er an, er würde nur überzeugte Kommunisten treffen. Umso überraschter war er, als er Menschen traf, die gar nicht so anders waren als er selbst: Sie trugen Jeans wie er; sie liebten die gleiche Musik und sie träumten, genau wie er, von Reisen in ferne Länder. Natürlich erlebten sie auch die Einschränkungen, sie konnten nicht in die USA fliegen, nicht die Schallplatten kaufen, die sie wollten, in vielen Fällen nicht den Beruf ergreifen, den sie sich vorstellten. Der Bericht beschreibt die Seminare der politischen Bildung, die in Berliner Kirchengemeinden stattfanden; Geschichten von Grenzkontrollen; den plötzlichen Schock, als sie herausfanden, dass jemand aus der Gruppe an die Stasi berichtet haben musste; die Herausforderungen, als sich zwei aus Ost und West ineinander verlieben.

In den Deutschlandbildern der amerikanischen Gruppe vom Sommer 2019 spielten die Mauer, die deutsche Teilung und Vereinigung eine wichtige Rolle. Foto: Martin Kaiser

Die deutschen und amerikanischen Teilnehmenden haben viele Fragen: nach der Grenze, dem Schießbefehl, dem Alltag in der DDR, den autoritären Strukturen des SED-Staats, dem Widerstand und der friedlichen Revolution. Alicia aus den USA beschäftigt seine Vorstellung von der DDR: „Why did you expect to meet only hardcore communists?“ Die Antwort scheint einfach: „Ich wuchs im Kalten Krieg auf. Schulbücher, meine Lehrer*innen, meine Eltern, selbst die Medien waren geprägt von einer Art antikommunistischer Grundeinstellung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Innenperspektive aus der DDR.“ Alicia nickt: „You only had a single story.“

Veränderung von innen bewirken. Gespräch mit Heidi B.

Heidi B. treffen wir einige Tage später in Berlin. Die Teilnehmenden waren sehr beeindruckt von der Führung am Denkmal zur Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Sie hatten die Reste der Mauer gesehen, sich über die Sperranlagen informiert, die Geschichten von gelungenen und gescheiterten Fluchtversuchen gehört. Jetzt wollen sie mehr über die Situation in Ostdeutschland vor und nach dem Fall der Mauer erfahren.

Die Politik griff erstmals in ihr Leben ein, als 1961 ihre geliebte Tante Frieda aus Kreuzberg nicht mehr zu Besuch kommen konnte: Die Mauer war gebaut worden. Sie wuchs in der DDR auf, studierte entgegen allen Ratschlägen Literaturwissenschaft und fand eine Stelle als Lektorin beim Verlag Volk und Welt. Sie übersetzte Bücher und musste mit der Zensur kämpfen. Ein zähes Ringen, aber manchmal konnte sie einen guten Roman durchboxen, der nicht ganz auf der ideologischen Linie war. Camus zum Beispiel. Der Kompromiss, den sie für ihren Traumjob und für die Möglichkeit einging, von innen etwas zu verändern: Sie wurde Parteimitglied.

Die Diskussion verläuft kontrovers. Vor allem die Tatsache, dass sie Mitglied der SED war, erregt die Gemüter der deutschen Teilnehmenden. Im Herbst 1989 habe sie ihr Parteibuch zurückgeschickt, berichtet sie. Sie sei den Weg derer gegangen, die im System DDR versucht hätten, von innen Veränderungen herbeizuführen. „Ich wollte etwas bewirken. Die DDR war ein Literaturland. Wenn die Leute schon nicht in die Welt reisen konnten, dann wollte ich die Welt mit den Büchern, die ich gemacht habe, zu ihnen bringen.“

Bei den amerikanischen Teilnehmenden wirken diese Sätze noch lange nach. Durch die Beschäftigung mit dem geteilten Deutschland, sagen sie, hätten sie eine Menge gelernt. „I learned“, erklärt Nye, „that not everything is black or white. There is so much in between. We have to look at things very carefully, before we judge.“ Das fasste sehr präzise zusammen, was wir mit unseren Seminaren erreichen wollten.

Zum Autor

Martin Kaiser ist Leiter des Gustav Stresemann Instituts in Niedersachsen e. V. Seit 1996 arbeitet er mit unterschiedlichen Partnerorganisationen in den USA, darunter die Arab American Community und das Office of Multicultural Affairs in Philadelphia, zusammen. Zu seinen thematischen Schwerpunkten gehören Demokratie-Bildung, Umgang mit Vielfalt, Multiperspektivität und historische Narrative. Von 2007–2021 war er Mitglied im AdB-Vorstand.
martin.kaiser@gsi-bevensen.de
Foto: Jochen Quast

Literatur

Adichie, Chimananda Ngozi (2013): Americanah. London: Harper Collins Publ.
Bush, George (1999): All the Best. My Life in Letters and Other Writings. New York: Scribner
Daley, David (2019): The Secret Files of the Master of Modern Republican Gerrymandering. In: Newyorker vom 06.09.2019; www.newyorker.com/news/news-desk/the-secret-files-of-the-master-of-modern-republican-gerrymandering (Zugriff: 25.01.2022)
Decker, Frank/Best, Volker/Fischer, Sandra/Küppers, Anne (2019): Vertrauen in die Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? Bonn: Dietz
Diangelo, Robin (2018): White Fragility. Why It’s so Hard for White People to Talk About Racism, Boston: Beacon Press
Hils, Jochen/Wilzewski, Jürgen (Hrsg.) (2006): Defekte Demokratie – Crusader State? Die Weltpolitik der USA in der Ära Bush. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag
Horst, Patrick/Adorf, Philipp/Decker, Frank (Hrsg.) (2019): Die USA – eine scheiternde Demokratie? Bonn: bpb
Klein, Ezra (2020): Why We‘re Polarized. London: Avid Reader Press
Koß, Michael (2021): Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen. München: dtv
Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel (2018): How Democracies Die. New York: Crown
Merkel, Wolfgang (Hrsg.) (2015): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS
Rice, Condoleezza/Zelikow, Philip (2002): Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft. Cambridge: Harvard University Press (6th printing)
Zick, Andreas/Küpper, Beate (Hrsg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn: Dietz-Verlag