Utopische und dystopische Konjunkturen der Gegenwart
Hinter den hier aufgeworfenen Fragen steht das sehr grundsätzliche Problem einer begrenzten Vorhersehbar- und Gestaltbarkeit von Zukunft, die keineswegs gegenwartsspezifisch oder auf Umbruchphasen beschränkt ist. Vielmehr handelt es sich um eine grundlegende politiktheoretische und -praktische Frage: Wie lassen sich überhaupt plausible Zukunftsprognosen abschätzen, wie können Worst-Case-Szenarien verhindert werden und welche Funktion sollen umfassende, utopische Zukunftsvisionen erfüllen?
Gegenwärtige Szenarienüberlegungen, wie sie in der sogenannten Zukunftsforschung praktiziert werden, sind häufig planungs- und sicherheitsorientiert. Zum Hintergrund der Zukunftsforschung siehe Seefried 2015. Sie orientieren sich an Probabilitäten und zielen auf die Abschätzung von Unwägbarkeiten und die Minimierung von Risiken ab, weshalb sich ihr zeitlicher Horizont oft eher über Jahrzehnte als Jahrhunderte erstreckt. Damit einhergehende Zukunftsszenarien – Vorhersagen der Klimaerwärmung und möglicher Gegenmaßnahmen oder auch Migrationsszenarien – streben möglichst „realistische“ Projektionen auf Grundlage gegenwärtig verfügbarer Informationen an. Die Konjunktur dieser „Zukunftsforschung“ ist also keineswegs als Rückkehr des utopischen Denkens in die öffentliche Debatte misszuverstehen – sie entfaltet nur begrenzte utopische Energie. Die prognostisch ausgerichtete Variante der „Futurologie“ geht nicht zuletzt aus der Szenarienanalyse des Kalten Krieges hervor (vgl. Pias 2009). Was aber zeichnet demgegenüber genuin utopisches politisches Denken aus – und braucht Politik überhaupt Utopien?
Radikal ideale Räume und Zeiten
Politische Utopien im weiten Sinne sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass sie Idealzustände formulieren. Beide Komponenten dieses Begriffs sind gleichermaßen wichtig: Die dargestellte Konstellation wird nicht nur als besonders wünschbar, sondern auch als stabiler und tragfähiger Zustand konzipiert. Damit die Darstellung eines stabilen Zustandes gelingt, sind viele Utopien zweitens umfassend angelegt: Sie schildern das Zusammenwirken unterschiedlichster Aspekte menschlicher Realität – politisch-institutioneller, gesellschaftlicher, technologischer, ökologischer und ökonomischer Art – und beziehen aus dieser Schilderung eines komplexen Szenarios nicht nur Anschaulichkeit, sondern auch den Eindruck der Konsistenz und Tragfähigkeit. Drittens sind politische Utopien – und hier liegt eine wichtige Differenz zur aktuellen „Zukunftsforschung“ – typischerweise als schwer erreichbar oder sogar als unerreichbar dargestellt: Sie zeichnen sich durch eine radikale Abweichung vom Status Quo aus, um ebendiesen Status Quo aus einer größtmöglichen Ideendistanz zu kritisieren. Bereits den „klassischen“ Utopien der Frühen Neuzeit ist in ihrer Formulierung umfassender Idealzustände in funktionaler Hinsicht dieses zentrale Charakteristikum gemeinsam: Ihre „Zielprojektion zeichnet sich durch eine präzise Kritik bestehender Institutionen und sozio-politischer Verhältnisse“ aus (Saage 1991, S. 2).
Diese Grundsätze – Wünschbarkeit, Umfassendheit, radikale Gegenwartskritik – liegen auch der politischen Utopie im engeren Sinne, dem utopischen „Staatsroman“, zugrunde (vgl. Saage 1991). Was seit der Moderne unter „Utopie“ verstanden wird, speist sich aus diesem sehr spezifischen ideengeschichtlichen Genre; umgekehrt handelt es sich bei dieser sich in der Renaissance herausbildenden Textgattung um einen Ausdruck wiederkehrender Grundfragen der normativen Orientierung und Gestaltbarkeit politischer Gemeinwesen.
Dies wird im Beispiel der kanonischen Schrift „Utopia“ des englischen Regierungsbeamten und Humanisten Thomas Morus von 1516 besonders deutlich (vgl. More 1966). Die Schrift besteht in ihrem Kernkapitel aus einem Reisebericht der fiktiven Person Raphael Hythlodeus auf die Insel „Utopia“ – ein abgeschotteter Staat auf einer künstlichen, weit entfernten Insel. Hythlodeus beschreibt ausführlich seine Erkundung der utopischen, ganz auf Stabilität ausgelegten Gesellschaftsordnung – einer Ordnung ohne Privateigentum und mit einer starken Betonung gemeinschaftlichen Teilens, ohne privilegierten Adel oder Klerus, mit einer ausgedehnten Religionsfreiheit und dennoch klaren politischen und administrativen Strukturen und hohen moralischen Standards. Die Beschreibung ist gerahmt von einer zweiten Erzählebene, in der ein literarisierter Thomas Morus mit Hythlodeus über die politische Lage in England debattiert: Die Defizite der englischen Gegenwart werden hier einer scharfen Kritik unterzogen, vor deren Hintergrund der präsentierte Idealstaat Utopia als fast schon übersteigerte Phantasie der Perfektion erscheint.
Morus‘ Schrift wurde nicht nur prägend für andere utopische Staatsromane der frühen Neuzeit – unter anderem Tommaso Campanellas „Sonnenstaat“ (1602) und Francis Bacons „Nova Atlantis“ (1627) – sondern für den oben skizzierten breiten Utopiebegriff selbst. Der griechischstämmige Terminus „Utopie“, der die buchstäbliche Bedeutung „Nicht-Ort“ trägt, überführt Morus‘ Imagination der entrückten Insel in die feststehende Konzeption der räumlich weit entfernten und unmöglich erreichbaren Alternativgesellschaft. Zur begrifflichen Herkunft und weiteren (literarischen) Entwicklung siehe Vieira 2010. Die räumliche Alterität stellt einerseits Anknüpfungspunkte zur jeweils eigenen Gegenwartsgesellschaft her, wonach die Utopie zwar nicht hier, aber doch schon jetzt existiere; andererseits aber markiert sie durch den topographischen Bruch, der typischerweise Inselform annimmt, dass der beschriebene Staat komplett separiert und radikal anders ist. Bacons „neues Atlantis“ nimmt dieses Motiv mythisch-räumlicher Entrückung auf und spitzt es weiter zu, indem die Insel „Bensalem“, die Schauplatz einer wissenschaftlich orientierten Idealgesellschaft ist, nur zufällig durch Schiffbrüchige in den Weiten des Pazifik entdeckt wird und für den Rest der Welt unauffindbar bleibt (vgl. Bacon 1643; Saage 1998).
Auf den ersten Blick verräumlichen die „Sozialutopien“, die ab dem frühen 19. Jahrhundert in Umlauf kommen, die Utopie in ähnlicher Weise: Die Idealgesellschaften, die die Frühsozialisten Charles Fourier und Robert Owen konzipieren, sind ebenfalls als Alternativräume imaginiert – und sogar versuchsweise an konkreten Orten realisiert. Das Projekt der Idealstadt „New Harmony“, das Owen von 1825 bis 1827 in Pennsylvania leitete, veranschaulicht aber, dass es sich hier nicht mehr um „Raumutopien“ in Reinform wie im Falle Morus‘ und Bacons handelt: Der utopische Gehalt erwächst nicht aus der Verlagerung an einen nicht erreichbaren Ort, sondern die Utopie rückt im Gegenteil geographisch in Reichweite (auch wenn sie von der Status-Quo-Realität räumlich separiert wird). An die Stelle der Raumutopie rückt ab dem 18. Jahrhundert stattdessen zunehmend die Zeitutopie: Der Idealzustand wird als in ferner Zukunft liegend imaginiert. Als bahnbrechend gilt hier der Roman Louis-Sébastien Merciers „Das Jahr 2440. Der Traum aller Träume“ aus dem Jahr 1771 (vgl. Koselleck 2006).
Die modernen Zeitutopien betonen die politische Gestaltbarkeit und Offenheit der Zukunft, aber auch die Notwendigkeit tiefgreifender politscher Veränderung. Die zukünftig denkbare Idealgesellschaft ist aus ihrer Sicht nur dann erreichbar, wenn tiefgreifende Umgestaltungen erfolgen.
Dieser Trend von der Raum- hin zur Zeitutopie ist keine Nebensächlichkeit, sondern er verändert die politischen Implikationen nachhaltig (vgl. Voßkamp 2016, S. 135 ff.). Wird nämlich der Idealzustand nicht mehr als räumlich entrückt und unerreichbar, sondern als zukünftig vorgestellt, liegt er direkt im Bereich des künftig auch Möglichen. Wo aber liegt dann bei der Zeitutopie der radikale Alternativcharakter? Anders als ein prognostisches Szenario behauptet die Zeitutopie nicht, dass der Idealzustand künftig sicher eintritt, sondern lediglich, dass er theoretisch erreichbar ist – und zwar unter der Voraussetzung, dass die Pfadabhängigkeit des Status Quo verlassen wird. Mit der Zeitutopie ist ein radikaler Handlungsimperativ verbunden.
Die modernen Zeitutopien betonen also einerseits die politische Gestaltbarkeit und Offenheit der Zukunft, andererseits aber auch die Notwendigkeit tiefgreifender politscher Veränderung. Die zukünftig denkbare Idealgesellschaft ist aus ihrer Sicht nur dann erreichbar, wenn tiefgreifende Umgestaltungen erfolgen.
Ein Beispiel für diese Form der Zeitutopie ist der Roman des amerikanischen Sozialisten Edward Bellamy „Looking Backward: 2000–1887“, der nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1888 jahrzehntelang soziale Bewegungen und zukunftspolitische Debatten anheizte. Der Blick in die Zukunft gelingt hier, indem der Protagonist des Romans in einen jahrhundertlangen Hypnoseschlaf in seinem Bostoner Haus verfällt – und somit im Jahr 2000 am selben Ort, aber in einer anderen Welt erwacht, die er sukzessive erkundet: ein sozialistisches, extrem effizient organisiertes Gemeinwesen mit verstaatlichten Produktionsstätten, genossenschaftlichem Vertrieb und einer fairen, auf freier Wahl basierenden Verteilung der Arbeitslast. Dass in derselben Stadt eine völlig andere Gesellschaftsordnung möglich ist, lässt das Ideal politisch erreichbar, aber auch radikal alternativ zum industriekapitalistischen Status Quo Bostons Ende des 19. Jahrhunderts erscheinen (vgl. Bellamy 1890). In „Looking Backward“ wird der dies ermöglichende revolutionäre Bruch zwar nicht erzählt; in anderen utopischen Szenarien wie etwa Joanna Russ‘ feministischer Utopie „The Female Man“ (1975) aber wird er explizit gemacht.
Zeitutopien sind in der politischen Moderne darum besonders attraktiv, weil sie mit revolutionären Programmatiken, die die Veränderbarkeit von Politik durch einschneidende Brüche sichtbar machen, besonders wirkungsvolle Allianzen eingehen können.
Aktuell sind Utopien fast ausschließlich als Zeitutopien konfiguriert – und zwar nicht etwa aufgrund der umfassenden Erkundung der Erdoberfläche, die die Existenz unentdeckter Inseln zu unwahrscheinlich erscheinen lässt; weltraumorientierte Science Fiction, die teilweise Züge gehaltvoller politischer Utopik trägt, beschreibt durchaus gelegentlich räumlich unerreichbare, extraterrestrische Idealgesellschaften. So zum Beispiel in Ursula LeGuins multiplanetarischem Szenario „The Dispossessed“ (1974), das allerdings sowohl zeitlich als auch räumlich der terrestrischen Gegenwart enthoben ist. Zeitutopien sind vielmehr in der politischen Moderne darum besonders attraktiv, weil sie mit revolutionären Programmatiken, die die Veränderbarkeit von Politik durch einschneidende Brüche sichtbar machen, besonders wirkungsvolle Allianzen eingehen können. Nicht umsonst sind viele moderne Utopien klar auf der Landkarte ideologischer -ismen verortbar. Dies gilt nicht nur für die unzähligen anarchistischen und sozialistischen Utopien; mit Ayn Rands Oeuvre ist eines der berühmtesten utopischen Szenarien dem Libertarianismus zuzuordnen. Utopien, die in der Zukunft verortet sind, tragen das Versprechen ihrer Verwirklichbarkeit in sich.
Narrative und dystopische Konjunkturen
Im 20. Jahrhundert sind zwei Verschiebungen im Utopienhaushalt politischen Denkens festzustellen: Eine Intensivierung der narrativen Anstrengungen der Autor*innen sowie ein Trend hin zur „Anti-Utopie“ oder, geläufiger: zur Dystopie. Beide Trends sind heute so eng miteinander verbunden, dass viele besonders einflussreiche utopische Szenarien in Form dystopischer Erzählungen, also als Worst-Case-Szenarien in belletristischer, filmischer oder Videospiel-Form verfasst sind.
Erstens sind zwar bereits frühe utopische Staatsromane wie jener Morus‘ – z. B als lebendiger Reisebericht – narrativ angelegt, Hierin besteht ein Unterschied zu antiken Idealstaatsideen wie jener Platons, die zwar dialogisch dargelegt wird, aber ohne temporale Handlungselemente (emplotment) auskommt. doch die Narrativität des Utopischen gewinnt im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend an Stellenwert (vgl. Voßkamp 2016). In Romanen wie jenem Bellamys oder in den Werken H. G. Wells‘ handelt es sich nicht um eine lediglich erzählerisch gerahmte, theoretische Zustandsbeschreibung, sondern die Darlegung der Utopie selbst ist narrativ durchdrungen und folgt einem erzählerischen Plot. Die Folge ist eine stärkere erzählerische Verdichtung und Lebendigkeit, die zu emotionalisieren vermag und damit der Utopien häufig eigenen Normativität besonderen Nachdruck zu verleihen versucht. Hinzu kommt die größere Reichweite belletristischer Texte: Die erfolgreichsten utopischen Schriften des 19. und 20. Jahrhunderts – darunter Bellamys „Looking Backward“, H. G. Wells‘ „Time Machine“ und George Orwells „1984“, sind packende Romane und keine nüchtern argumentierenden Abhandlungen.
Weshalb aber sind – zweitens – diese belletristischen Zukunftsvisionen zunehmend negativ, also: anti-utopisch bzw. dystopisch, als Schreckbilder möglicher Zukunft angelegt? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick in die Ideengeschichte der Dystopie aufschlussreich. Als wegweisend für das utopische Genre gilt Jewgenij Zamjatins Roman „Wir“ aus dem Jahr 1920 – ein im Kern antikollektivistisches und antikommunistisches Plädoyer, das mittels einer tragischen Heldenerzählung vor den enthumanisierenden und freiheitsschädigenden Folgen des zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre alten bolschewistischen Projekts warnt. Nicht umsonst handelt es sich um das erste in der Sowjetunion verbotene Buch. George Orwells „1984“ aus dem Jahr 1949 wendet sich gegen einen ideologisierten totalitären Überwachungsstaat, Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ aus dem Jahr 1985 gegen theokratischen Konservatismus. Dystopien imaginieren Extremszenarien gesellschaftlicher Fehlentwicklung, die typischerweise auf ideologischen Triebkräften beruht; nur in den seltensten Fällen wird inkohärentes Chaos beschrieben. So etwa in Octavia Butlers „Parable of the Sower” (1993). Die ideologischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts werden in den genannten Beispielen extrapoliert und konsequent „zu Ende gedacht“.
Dystopien imaginieren Extremszenarien gesellschaftlicher Fehlentwicklung, die typischerweise auf ideologischen Triebkräften beruht; nur in den seltensten Fällen wird inkohärentes Chaos beschrieben.
Die politische Brisanz des Dystopischen ergibt sich genau aus dieser Kritik ideologisch ambitionierter politischer Programmatiken – also genau jener Programmatiken, die in der Moderne weitreichende Utopien zur Umsetzung empfahlen: Viele Dystopien versuchen, ideologiekritisch die Gefahren von Utopien zu entlarven – und zwar, indem sie eine „utopia gone wrong“ ausbuchstabieren (Vieira 2010, S. 16): „Was einst als ideeller Fluchtpunkt der Befreiung der Menschheit von Elend und Ausbeutung gedacht war, wird nun zu ihrem Verhängnis.“ (Saage 1991, S. 270 f.) Dass im Laufe des 20. Jahrhunderts die Beliebtheit der Utopie einer Hochkonjunktur der Dystopie weicht, hat also direkt damit zu tun, dass sich negative Erfahrungen mit ideologisch weitreichenden, also: utopischen Gesellschaftsentwürfen häuften. Freilich richten sich bis heute dystopische Warnungen nicht ausschließlich gegen bereits realisierte Utopien: Gehen Utopien besonders weit in ihrer Imagination perfekter Gesellschaften – und zwar deutlich über alle realen Idealzustände hinaus –, so skizzieren Dystopien ihrerseits gefährlich gewordene Utopien drastischer und pejorativer als die Wirklichkeit gewordenen gesellschaftlichen Missstände.
Woraus aber beziehen die Dystopien des 20. und 21. Jahrhunderts ihre Popularität – und zwar nicht allein in der Massenkultur, sondern auch in der politischen Debatte? Neben der erwähnten narrativen Aufbereitung dystopischer Szenarien, die ihnen eine höhere Reichweite ermöglicht, ist es die implizite Botschaft der politischen Gestaltbarkeit der Zukunft, die Dystopien so attraktiv macht. Dystopien – selbst eine Form der Zeitutopie – warnen vor Worst-Case-Szenarien, indem sie Fehlentwicklungen der Gegenwart extrapolieren (vgl. Claeys 2017; Thaler 2021). Dieses Fortdenken der Gegenwart erklärt, weshalb viele Dystopien near-future-Szenarien behandeln, also nicht etwa Jahrtausende, sondern eher Jahrzehnte oder nur wenige Jahrhunderte entfernt liegen. Dies gilt zum Beispiel für Atwoods „Handmaid’s Tale“ oder Butlers „Parable of the Sower“. Die zeitliche Entfernung zur Gegenwart lässt sich in diesen Fällen nicht allein aus chronologischen Angaben, sondern auch aus technologischen und ökologischen Markern deduzieren. Allzu „zukünftige“ Szenarien würden die implizite Behauptung unterminieren, die Dystopie ergebe sich direkt und erkennbar aus der Gegenwart. Da die fortgedachte Gegenwart allerdings stark negativ bewertet wird, erwächst aus der dystopischen Beschreibung keine abstrakte Warnung, sondern ein direkter Aufruf zur Verhinderung dieser Zukunft. Die dystopische Zukunft wird also als möglich und vielleicht sogar – sofern sie nicht aktiv verhindert wird – als wahrscheinlich dargestellt, nicht aber als unvermeidlich. Hieraus ergibt sich die in Dystopien implizierte Behauptung politischer Gestaltungsmacht: Das Eintreffen der schlechtestmöglichen Zukunft kann, so die Botschaft, noch verhindert werden. Diese Behauptung ist in den seltensten Fällen abstrakt: Werke wie Zamjatins „Wir“ oder Ayn Rands „Anthem“ sind als politische Schriften mit konkreter Programmatik einzuordnen, die versuchen, ihre Leser*innen zu mobilisieren. Allerdings sind vermutlich besonders populäre Dystopien, insbesondere in Videospielen und Filmen, eher kommerziell als politisch motiviert – und beziehen sich dennoch auf das eingeübte Repertoire politischer Warnungs- und Mobilisierungsgesten. Nicht umsonst stellen zahlreiche dystopische Werke nicht nur das schließliche Worst-Case-Szenario dar, sondern zeigen auch konkreter – etwa in Rückblenden –, wie die Katastrophe eintreten konnte – beispielsweise durch einen theokratischen Coup oder eine Umweltkatastrophe. Gehen also sowohl Utopien als auch Dystopien von der politischen Gestaltbarkeit der Geschicke aus – im Unterschied zu apokalyptischen Visionen oder Weissagungen, die den Blick in eine unvermeidlich eintreffende Zukunft richten –, so ist der politische Mobilisierungsanspruch deutlich ausgeprägter: Dystopische Gegenwartskritik ist direkter und alarmistischer als utopische Gegenwartskritik. Diese enge Bindung an die Gegenwart schränkt potenziell auch die Möglichkeiten kreativer Zukunftsimagination ein.
Utopische Restbestände oder Revivals?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wirkmächtige Zukunftsszenarien gegenwärtig tatsächlich entweder warnend-gegenwartsskeptische Dystopien oder (wie eingangs erwähnt) futurologische Planungsszenarien sind. Ist die Utopieernüchterung des 20. Jahrhunderts in ihrer Kombination mit dem aktuellen ökologischen Krisenbefund so wirkmächtig, dass die utopischen Energien – die Jürgen Habermas schon 1985 im Prinzip erschöpft sah (vgl. Habermas 1985) – nun komplett passé sind? Habermas‘ fast vierzig Jahre zurückliegender Befund richtete sich kritisch gegen ein Residuum des Utopischen in der Bonner Republik: den Sozialstaat, der den viele ältere Sozialutopien, bis hin zu Marx und Engels motivierenden Klassenantagonimsus auszuräumen versprach. Es scheint, als sei dieses nunmehr sehr bescheidene utopische Versprechen – die Bändigung des prinzipiell als problematisch erkannten Kapitalismus – weiterhin relativ wirkmächtig, allerdings unter nunmehr nostalgischen Vorzeichen: Wenn in der breiteren öffentlichen Debatte etwa bezüglich der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens die Rede von „Realutopien“ ist – so im Oeuvre des populären Journalisten Rutger Bregman, der etwa von „Utopien für Realisten“ spricht (Bregman 2018) –, so ist die Frage, inwieweit der Utopiebegriff hier überhaupt noch sinnvoll Verwendung findet, ambivalent zu beantworten.
Erstens erweitert die Orientierung an „Realutopien“ kaum den Horizont des politisch-gesellschaftlich Denkbaren, denn sie bestehen ja genau in den bereits realisierten Keimzellen des Utopischen – etwa in partizipativen Stadtbudgets in Porto Alegre als demokratische Realutopie oder Wikipedia als gemeinfreie Wissensutopie (vgl. Wright 2010). Diese Beispiele veranschaulichen, dass Realutopien zwar durchaus ähnlichen Normen verpflichtet sein können wie klassische politische Utopien – im Falle Wrights: sozialistischen Gerechtigkeitsvorstellungen –, dass sie aber das Kriterium der realistischen Erreichbarkeit betonen (vgl. ebd., S. 24), anstatt es zurückweisen. In dieser Suche nach utopischer Inspiration in bereits bestehenden Praktiken orientiert sich die Realutopie zwar nicht am gesamtgesellschaftlichen Status Quo (so wird die kapitalistische Gegenwart bei Wright durchaus scharfer Kritik unterzogen); doch die Gegenwartskritik speist sich ihrerseits aus alternativen Praktiken der Gegenwart. Das radikal Utopische – das bisher Ortlose, noch nie Erprobte und allenfalls Imaginierte – spielt hier keine Rolle; punktuell bereits praktizierte Gegenprogramme werden lediglich ausgeweitet. Das für Karl Mannheim maßgebliche Merkmal der „Seinstranszendez“ (Saage 1991, S. 2), also: das Fiktionale der Utopie, ist hier also nicht mehr gegeben.
Realutopien sind das, was übrigbleibt, wenn die Sorge vor Dystopien die klassische Utopie diskreditiert hat.
Zweitens führt diese Orientierung an realen idealen Elementen der Gegenwart zu einem Abrücken vom utopischen Großentwurf, also einer kohärenten, umfassenden Beschreibung eines stabilen Idealzustandes. Rutger Bregman rechtfertigt dies mit der undemokratischen Qualität der „großen Narrative“, also des Potenzials des Umschlagens von „Träumen“ in „Albträume“, das sich gerade in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erwiesen habe; dagegen führt er einen demokratischen Pluralismus „sich widersprechender“ utopischer Elemente an (Bregman 2018, S. 22; S. 28). Sicherlich kann die Auflösung kohärenter Staatsutopien ihr dystopisches Potenzial entschärfen – allerdings nur auf Kosten der Stimmigkeit, die Wright eigentlich selbst einfordert: Eine „Realutopie“, die nur einen einzelnen ökonomischen Aspekt imaginiert – etwa: ein bedingungsloses Grundeinkommen –, bietet keinen konsistenten Gegenentwurf, der nach der Interdependenz von Politik, Ökonomie, Gesellschaft, Ökologie und Technologie fragt.
Dass die „utopische Energie“ einerseits in Dystopien, andererseits in Realutopien diffundiert, ist also durchaus stimmig. Realutopien sind das, was übrigbleibt, wenn die Sorge vor Dystopien die klassische Utopie diskreditiert hat. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen es auf die politische Vorstellungskraft – und damit das Bewusstsein politischer Gestaltbarkeit – hat, wenn das Hauptziel der Zukunftsimagination konservative Risikominimierung ist. Angesichts ökologischer und demokratiepolitischer Krisen und ihrer Einbettung in einen offenkundig extrem anpassungsfähigen und reformresistenten Kapitalismus ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis sich die bescheidene Orientierung an inkrementellen Entschärfungsschritten als politisch nicht motivierend und mobilisierend genug erweist.
Zur Autorin
eva.hausteiner@uni-passau.de
Foto: Minda de Gunzburg Center, Harvard University