Außerschulische Bildung 2/2022

Andere Zukünfte denken können?

Wege utopischer Überschreitung

Utopien sind die denkerische Vorarbeit und damit wesentliche Grundlage dafür, Gesellschaft zu gestalten. Sie sind tief im jeweiligen Jetzt verwurzelt und können ihre Ideen nur aus den jeweiligen Verhältnissen gewinnen, weil die Denkhorizonte gesellschaftlich begrenzt sind, aber zugleich immer ein Potenzial der Überschreitung, des Anders-Denkens gegeben ist. Im Beitrag werden Anlässe und Bedeutung von Utopien ebenso erkundet, wie gesellschaftliche Grenzen und zugleich Möglichkeiten, über das Vorhandene hinauszudenken. von Daniela Holzer

Ein großes Hindernis für die Verwirklichung einer Zukunft, die sich radikal vom Jetzt unterscheidet, ist unser Denken. Und zugleich ist unser Denken grundlegend dafür, eine solche Zukunft zu ermöglichen. Gesellschaftliche Entwicklungen sind nicht „natürlich“ und unausweichlich, sondern gemacht und damit auch gestaltbar und dennoch ist die Frage zu erkunden, inwiefern andere Zukünfte denk- und machbar sein könnten. Ich spreche dabei bewusst von Zukünften in der Mehrzahl, denn die Möglichkeiten sind vielfältig. Utopien spielen dabei die Rolle, anzustrebende andere Verhältnisse zu imaginieren, an denen sich konkrete Wege zu deren Erreichung abzeichnen können und sollen. Zugleich sind Utopien Kritik am Bestehenden und stoßen uns mit Nachdruck auf vorhandene Missstände und Notlagen. Utopien sind aber vor allem Ansätze der Überschreitung. Doch allzu schnell regt sich unser Verstand und pfeift uns von unserem Ausflug in Phantasien und wohliges Begehren zurück. Setzt diese Begrenzung nicht bereits in uns selbst ein, so meldet sich sogleich die gesellschaftlich breit verankerte Position zu Wort, die Utopien als unrealistisch und unerreichbar diffamiert und damit unser an sich zu Überschreitung fähiges Denken in Schranken verweist. Neben der Erkundung der Einbettung von Utopien in gesellschaftliche Verhältnisse und zugleich dessen Potenziale für die Überschreitung dieser, stelle ich auch die Frage, wie es denn überhaupt gelingen kann, bislang Undenkbares zu denken und Unmögliches zu versuchen.

Utopien: Möglichkeit eines Anderen und Kritik am Jetzt

Utopien sind Möglichkeiten eines Anderen, Besseren und zugleich Kritik am Jetzt. Unabhängig von der Darstellungsform – phantastischer Roman, technikorientierter Science-Fiction-Film, konkreter politischer Entwurf u.a.m. – bringen Utopien Vorstellungen von Alternativen zum Ausdruck, die auf der jeweils vorgefundenen Wirklichkeit beruhen. Ob geographische oder zeitliche Utopien (vgl. Bloch 1965–74/1980, S. 53), beiden bleibt der Vorwurf des Unerreichbaren, des Unrealistischen anhaften und entsprechend weitreichend und historisch tief verwurzelt sind Vorwürfe der Irrationalität, der Träumerei, der Unmöglichkeit. Allerdings finden Utopien, utopisches Denken und utopische Entwürfe und Vorstellungen auch Verteidiger*innen, die in ihnen wesentliche Elemente dafür entdecken, über das eingeschränkte und unzureichende Vorhandene hinauszuweisen und Utopieforschungen widmen sich einer differenzierten Betrachtung von Bedingungen und Möglichkeiten von Utopie, beispielsweise Ernst Bloch bereits ab den 1920er Jahren (vgl. Bloch 1959/1985; 1965–74/1980) oder aktueller unter anderem Richard Saage (2007) oder Oskar Negt (2012). In diesen Auseinandersetzungen stehen nicht unterhaltsame Science Fiction und schon gar nicht technokratische Fortschreibungen von Entwicklungen in Form von Zukunftsforschung im Mittelpunkt, sondern Sozialutopien, die zugleich Kritik am Bestehenden und Imagination des möglichen Anderen sind.

Utopien sind insofern Kritik an den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen, als sie das Gegenbild dessen sind, was in der aktuellen Realität als falsch wahrgenommen wird (vgl. z. B. Holzer 2017, S. 133 ff.). Utopie und Kritik sind also nicht voneinander zu trennen, denn sie tragen gleiche Interessen in sich und treten sogar gleichsam im Gleichklang auf, nur die Blickrichtung ist eine andere: Utopie richtet den Blick – aufgeladen von der wahrgenommenen Realität – auf das wünschbare Andere. Und falls das Andere besser ist, muss das Jetzige unzureichend sein. Kritik richtet ihren Blick auf die Unzulänglichkeiten des Jetzigen, kann die Urteile aber nur fällen, wenn zumindest die Ahnung eines Besseren dahinterliegt. Besonders eindrücklich wird diese Verbindung in einem Gespräch zwischen Ernst Bloch, dem Utopiker, und Theodor W. Adorno, dem radikalen Negativisten. Bloch pocht auf das Potenzial der Phantasie, räumt aber deren kritische Bedeutung ein, während Adorno auf der Kritik und Negation des Bestehenden beharrt, auch wenn darin zugleich ein mögliches Anderes durchschimmert (vgl. Markard 2005, S. 154; vgl. Holzer 2017, S. 133 ff.).

Ein großes Hindernis für die Verwirklichung einer Zukunft, die sich radikal vom Jetzt unterscheidet, ist unser Denken. Und zugleich ist unser Denken grundlegend dafür, eine solche Zukunft zu ermöglichen.

Die Diffamierung von Utopien als irrational oder – so ein weiterer Vorwurf – als dogmatische Starrheit – ist allerdings nicht einfach wegzuwischen, sondern ihr ist konkret mit alternativen Utopieverständnissen zu begegnen, die deutlich machen, dass die ablehnende Haltung allzu häufig undifferenziert bleibt, offenere Verständnisse von Utopien ausschließt und nicht zuletzt politische Positionierungen repräsentiert, in denen das, was das eigene Interesse gefährdet, ins Lächerliche gezogen wird. Ernst Bloch arbeitet beispielsweise heraus, dass die Diffamierung linker, sozialistischer Gesellschaftsvorstellungen als „utopisch“ und als unrealistisch, hingegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als unveränderbar erscheinen lassen soll (vgl. Bloch 1965–74/1980, S. 78 f.). Der Vorwurf des Dogmatischen und totalisierender Erstarrung ist hingegen dahingehend ernst zu nehmen, als zurecht auf die Problematik verwiesen wird, dass insbesondere in sich geschlossene, absolut gesetzte Entwürfe totalitäre Momente in sich bergen, wenn schon von vornherein das einzig Richtige in ihnen festgeschrieben wird, das vielleicht zudem mit repressiven Ordnungs- und Zwangsphantasien einhergeht (vgl. z. B. Schwendter 1994). Aber selbst hehre Ziele drohen jederzeit in ihr Gegenteil zu kippen, wenn sie absolut gesetzt werden und damit einer reflexiven Entwicklung entzogen werden (vgl. z. B. Angehrn 2001).

Wege utopischer Überschreitung Foto: AdB

Dem treten nun Verständnisse entgegen, die darauf pochen, Utopien als konkrete, offene, prozessuale Entwürfe zu verstehen. Konkrete Utopien sind – so Bloch – solche, die grundsätzlich möglich wären, die in der jeweiligen historischen Wirklichkeit verwurzelt sind und das dort bereits angelegte Potenzial weiterdenken (vgl. Bloch 1965–74/1980). Offene und prozessuale Utopien sind solche, in denen Zieldimensionen zwar angedacht werden, ein „fertiger“ Entwurf aber weder möglich noch wünschenswert ist, weil sich die Realisierungsmöglichkeiten erst auf dem Weg nach und nach erschließen können und die Ziele und Wege stetig reflexiv überprüft werden müssen (vgl. z. B. Schwendter 1994, S. 24 ff.). Ein solches Utopieverständnis speist sich nicht zuletzt aus dem Wissen, dass unser Denken, unsere Möglichkeiten im Jetzt noch beschränkt sind – worauf ich gleich noch zurückkommen werde. Der Verwirklichungsstruktur von Utopien als konkret, offen und prozessual sind aber zuletzt auch noch inhaltliche Konkretisierungen hinzuzustellen, denn was das „Bessere“ sei, ist nicht von vornherein festgelegt. Ordnungsutopien sehen dieses in einer von oben regulierten, nur durch Repressionen und Gewalt herstellbaren gesellschaftlichen Strukturierung, während Freiheitsutopien an gleichwertigen Gesellschaftsmitgliedern, Berücksichtigung von Bedürfnissen und Wünschen aller und an einer kollektiven Organisation eines guten Lebens für alle orientiert sind (vgl. Bloch 1965–74/1980; Schwendter 1994). Ich schlage mich leidenschaftlich auf die Seite von Freiheitsutopien.

Krisen und Ängste als Anstoß und Nahrung für Utopie

Utopien, Phantasien oder die für Ernst Bloch für Utopien so bedeutsamen Tagträume und Hoffnungen brauchen Anstoß und Nahrung. Eine für alle Menschen perfekte Welt – die es wohl gar nicht geben kann – bräuchte keine Utopien mehr. Krisen und Ängste sind nach Ansicht von Oskar Negt (2012) ein bedeutsamer Impuls und Rohstoff für die Entwicklung von Utopien und für die Entfaltung von Kräften der Veränderung. Oskar Negt spricht in seinem Buch „Nur noch Utopien sind realistisch“ von Krisen als Lern- und Erkenntniszeiten (vgl. ebd., S. 133) und sie fördern seiner Ansicht nach Entwurfsphantasien. Krisen fordern Kreativität und das Denken von Neuartigem heraus und bieten daher die Gelegenheit – vielleicht sogar die Notwendigkeit –, sich Gedanken zu widmen, aus denen konkrete Utopien hervorgehen können. Eva Kreisky formuliert ähnlich: „Gesellschaftliche Fehlentwicklungen, Krisensymptome und ein gehöriges Maß an Problemdruck generieren Verlangen nach Innovation und stimulieren die Suche nach Alternativen“ (Kreisky 2000, S. 17 f.). Ernst Bloch spricht etwas pathetischer und größer gedacht von Zeitwenden als eine der „Gegenden“, wo Utopien besonders gut zu gedeihen scheinen (vgl. Bloch 1965–74/1980, S. 48).

Krisen stellen auch unsere Souveränität in Frage, Gewohntes funktioniert nicht mehr und Neues steht noch nicht zur Verfügung – hier ließe sich eine Parallele zur aktuellen Covid-19-Pandemie herstellen. Das Ringen nach Wiedererlangung von Souveränität, die Rückkehr aus der Irritation (vgl. Schäfer 2017, S. 167 ff.) können nun sowohl in Ignoranz der Veränderung und Wiederherstellung des Gewohnten münden, aber auch in „bildenden Erfahrungen“, wie Alfred Schäfer Bezug nehmend auf Adorno formuliert. In bildenden Erfahrungen bleibt eine gewisse Irritation und Fremdheit erhalten, aber gerade dadurch der Blick für mögliches Anderes sensibilisiert.

Krisen fordern Kreativität und das Denken von Neuartigem heraus und bieten daher die Gelegenheit – vielleicht sogar die Notwendigkeit –, sich Gedanken zu widmen, aus denen konkrete Utopien hervorgehen können.

Krisen produzieren aber auch – so die Formulierung von Oskar Negt – „Angstrohstoff“ (Negt 2012, S. 29). Angst ist für Negt ein Rohstoff, mit dem Neues hergestellt und genährt werden kann, den aber sowohl rechte und rechtsradikale Positionen geschickt zu verwerten wissen, wie beispielsweise die aktuelle Pandemie vor Augen führt, aber ebenso für linke und befreiungsorientierte Utopien produktiv werden kann. Für Alfred Schäfer und Christiane Thompson (2018) hat Angst unter anderem die gesellschaftliche Funktion, Verhaltensweisen zu beeinflussen und aktuell Menschen dazu zu bringen, sich den Leistungsimperativen kapitalistischer Gesellschaften zu unterwerfen. In eine ähnliche Kerbe schlägt Heinz Bude (2014), der – noch weit von der aktuellen Corona-Pandemie entfernt – von unserer Gesellschaft als einer „Gesellschaft der Angst“ spricht: Angst vor sozialem Abstieg oder unzureichendem Aufstieg, Angst vor Statusverlust, Angst vor brüchigen Beziehungen und einer brüchigen Identität. Damit Angst aber nicht in Resignation und Verbitterung umschlage, werden Erfolgsbeispiele schillernd gefeiert und so die Hoffnung, der Angst und der sozialen Situation zu entkommen, genährt (vgl. Bude 2014, S. 59). So wird Angst zu einer treibenden Kraft, die Willigkeit aufrechtzuerhalten. Aber sie birgt auch – wie Ernst Bloch oder Oskar Negt sagen würden – potenzielle Keime von Veränderungswillen und damit von Utopien. Oskar Negt sehr konkret: Angst kann auch Rohstoff für linke Politik und für freiheitsorientierte Utopien sein, aber jedenfalls seien bei einer Zunahme des Angstrohstoffes Utopien umso bedeutsamer und notwendiger.

Gefangen in der Realität?

Wie aber soll nun Überschreitung möglich sein, wenn doch Utopien – und in gleicher Weise das negative Pendant, die Kritik – immer im Jetzt verhaftet sind? Wir kehren also von Hoffnungsschimmern wieder in Begrenzungen zurück, die zugleich die Rahmenbedingungen für Möglichkeiten und Unmöglichkeiten überschreitenden Denkens sind.

An dieser Stelle treffen sich wiederum Utopie und Kritik, denn die Rahmungen und Begrenzungen sind dieselben. Ich greife lediglich zwei Aspekte heraus, die für die Überlegungen zum Über-etwas-Hinausdenken besonders relevant sind: Begrenzungen des „Über-etwas-Sprechen-Dürfens“ und Begrenzungen innerhalb des Denkens selbst. Sowohl Utopien als auch der Kritik wird in sozialen Zusammenhängen häufig rasch versucht, einen Maulkorb umzulegen, insbesondere dann, wenn sie eingespielte Verhältnisse und von Herrschaftsinteressen geprägte Normen grundlegend in Frage stellen. Das, was als sagbar gilt, und das, was möglichst unhinterfragt bleiben soll, ist eine durchgesetzte Deutungshoheit anhand von Diskursen, Sprechnormalitäten, Handlungsnormativen, nicht zuletzt auch von Sozialisation und Erziehung. „Normal“ wird, was den jeweiligen Herrschaftsinteressen dient (vgl. z. B. Gramsci 1929–35/2004; Foucault 2013).

Wie aber soll nun Überschreitung möglich sein, wenn doch Utopien – und in gleicher Weise das negative Pendant, die Kritik – immer im Jetzt verhaftet sind?

Abweichungen, radikale Infragestellungen – sei es in Form von Utopien oder von Kritik – werden umso rascher diffamiert. Utopien werden als unmöglich, unrealistisch, träumerisch und irrational abgestempelt. Einer unnachgiebig negativen Kritik wird hingegen umgekehrt vorgeworfen, sie biete keine Alternativen und Lösungsmöglichkeiten an. Theodor W. Adorno begegnet diesem Vorwurf kämpferisch: „Aber von außen die Forderung heranzubringen: ja, wenn er ein negatives Prinzip hat oder wenn er die Negativität für ein wesentliches Medium hält, dann darf er doch eigentlich überhaupt nichts sagen, – darauf ist im Grunde nur zu antworten mit dem: das würde jenen so passen!“ (Adorno 1965–66/2003, S. 45 f.) Ernst Bloch aber sieht auch in manchen Utopien selbst bereits das Potenzial der Diffamierung angelegt, insbesondere dann, wenn sie abstrakt und damit zu weit von der Wirklichkeit entfernt sind. Gerade die Einbettung in das Jetzt, das Aufgreifen von im Jetzt vorhandenen Ideen und bereits angelegten Möglichkeiten, machen konkrete Utopien aus und geben ihnen Kraft, in Handlungen zu münden. Für Bloch sind abstrakte Utopien auf die „Fern-Antizipation“ gerichtet, die zwar unentbehrlich ist, aber mit „Nah-Antizipationen“ zusammenfallen muss, um nicht als gänzlich unrealistisch diffamierbar zu sein (vgl. Bloch 1965–74/1980, S. 110).

Ein weiteres Problem, sowohl von Utopie als auch von Kritik als die zwei Blickrichtungen auf dasselbe, besteht allerdings auch darin, dass unser Denken, Fühlen und Wollen so eng an gesellschaftliche Rahmungen gebunden ist, sodass ein gänzliches Heraustreten, ein vollständiges Überschreiten des Horizonts nicht möglich ist. Kritiker*innen können ebenso wenig aus diesem Gefüge heraustreten wie Utopiker*innen. Kritik kann ihre Urteile nur aus den jeweiligen Verhältnissen heraus fällen, stellt diese Verhältnisse aber grundlegend in Frage, was zugleich nie vollständig gelingen kann (vgl. z. B. Adorno 1966/2003, S. 183; Holzer 2017, S. 84 ff.). In der Frage der Möglichkeit utopischen Denkens stellt sich hingegen besonders das Grundproblem, dass sich das Neue, das Andere schlichtweg noch nicht vollständig denken lässt, weil unser Denken „kontaminiert“ (Adorno 1966/2003, S. 52) ist, weil es im Jetzt geformt und begrenzt ist. Und doch gibt es Brüche, in denen Utopisches durchblitzen kann.

In Bewegung geraten

„Noch-Nicht“, damit charakterisiert Ernst Bloch Utopien. „Noch-Nicht ist weder Nicht, noch Nichts, noch Alles.“ (Bloch 1965–74/1980, S. 47) Für Bloch bewegen sich Utopien zwischen den Möglichkeiten im Jetzt und den darin angelegten Potenzialen zur Veränderung. „Verändern“ – so Ernst Bloch – „setzt ein Veränderbares voraus, in der Silbe ‚bares‘ ist Mögliches gemeint, Erhofftes, Erleidbares, wie man will, auch Negatives.“ (Ebd., S. 107) Ausgangspunkt jeder Utopie – und jeder Kritik – ist also die grundlegende Erkenntnis, dass das Vorhandene historisch gemacht worden ist und dass daher das, was ist, auch ganz anders sein könnte. Und die Grundlagen dafür stecken bereits im Jetzt: „Was ist, ist mehr, als es ist.“ (Adorno 1966/2003, S. 164)

Um vom Träumen auch in Aktivität zu kommen, bedarf es laut Bloch nun sowohl Fernziele als auch Nahziele, denn „nichts glückt, wenn man keine Fernziele hat. Die Spannung fehlt, die Erregung fehlt, der Wille, die Begeisterung, die Leidenschaft fehlen, um sich für Nahziele einfachster, praktischer Art einzusetzen (…). Jedenfalls: nichts in der Nähe kann geschehen ohne ein Fernziel.“ (Bloch 1965–74/1980, S. 80) Oder in anderen Worten: „Man muß in so großen Angelegenheiten über das Ziel hinausschießen können, um es zu treffen.“ (Ebd., S. 112) Oskar Negt spricht hingegen – auf Robert Musil Bezug nehmend – dass im Utopischen ein Wirklichkeitssinn und ein Möglichkeitssinn zu vereinen ist, ein Sinn für Machbares und Vorhandenes und einer für Überschreitendes (vgl. Negt 2012, S. 30 ff.; S. 117). Die für Überschreitung nötige Phantasie kann bei Oskar Negt schließlich kritische und politische Kraft entfalten, sie „wird zur materialen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift“ (ebd., S. 40), sie bringt die Verhältnisse zum Tanzen, indem sie ihnen die eigene Melodie vorspielt (vgl. ebd.) – der Bezug zu Marx ist unverkennbar. Richard Saage wird aber deutlich, dass nicht jede Utopie notwendigerweise politisch oder gar gesellschaftskritisch sei, denn Utopien, die nur noch subjektive Befindlichkeiten verbessern wollen, statt sozialkritisch zu sein, verlieren den Blick auf das Ganze und die in solchen Ansätzen angestrebten kleinen Verbesserungen führen nicht zu grundlegenden Veränderungen (vgl. Saage 2007). Und auch Oskar Negt warnt davor, dass jede Phantasie, jeder Überschreitungsversuch – wie auch jede Kritik – in der kapitalistischen Gesellschaft jederzeit Gefahr läuft, vereinnahmt und profitabel verwertet, Motor kapitalistischer Entwicklung zu werden (vgl. Negt 2012, S. 82 ff.).

In Bewegung geraten Foto: AdB

Wir stoßen also wiederum auf Begrenzungen, auf Zusammenhänge, die großer kritischer Achtsamkeit bedürfen, um nicht ihres Anliegens beraubt und profitabel vermarktet zu werden. Weitere Begrenzungen liegen aber auch darin, keine Kraft zur Umsetzung entwickeln zu können, denn selbst wenn das Begehren da ist, heißt es nicht, dass es automatisch Aktivität in Gang setzt. Die aktuelle Pandemie-Situation zeigt beispielsweise, dass zwar auch Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen von sozialen Verhältnissen aufgekeimt sind, aber in weiten Teilen der Welt jede Aktivität zugleich regulativ verunmöglicht wurde, was anfänglich gehegte Träume auch rasch in sich zusammenfallen ließ. Gelingt es aber, Utopien zu entwickeln und zu erhalten, so können diese wiederum die Verhältnisse selbst in Schwingung versetzen, denn – so Alex Demirović – die Utopie „schafft Unruhe, sie setzt die gegenwärtigen Verhältnisse unter Druck der Veränderung, sie schafft Unzufriedenheit“ (Demirović 2005, S. 144) und selbst wenn Utopien nicht fertig „ausgepinselt“ werden sollen (vgl. Steinert 2007, S. 17), um prozessual zu bleiben, so können sie doch politisches Handeln motivieren (vgl. ebd.; Negt 2012; jour fixe initiative berlin 2013, S. 7).

Allerdings konstatiert Eva Kreisky (2000) bereits im Titel ihrer Diskussion: „Die Phantasie ist nicht an der Macht.“ Und Oskar Negt kritisiert, dass die „Gegenwart (…) an chronischer Unterernährung der produktiven Phantasie“ leidet (Negt 2012, S. 27). Das heißt, dass auch das Denken, das Begehren, das Wünschen überhaupt erst in Bewegung geraten muss, um Kraft zu entfalten.

Denken(d) überschreiten

Wie aber soll über Vorhandenes hinausgedacht werden, wenn schon im alltäglichen Sprachgebrauch Phantasien diffamiert werden, wir also gleich sozial „zurückgepfiffen“ werden, wenn wir mehr erreichen wollen? Wie Überschreitungen wünschen, wenn unser Denken gar nicht vollständig aus dem Gegebenen hinaustreten kann?

Überschreitendes Denken ist möglich und unmöglich zugleich. Im bereits Vorhandenen stecken bereits Möglichkeiten des Anderen. Die Gegenwart ist von zahlreichen Brüchen durchzogen, durch die Neues zumindest als Ahnung hervorschimmert. Sogar Adorno spricht vom „utopischen Vertrauen“ darauf, dass anderes Denken möglich sei (Adorno 1965–66/2003, S. 111). Auf der Suche nach radikal kritischem Denken habe ich zahlreiche Ansätze gefunden, die nun auch für die Utopie als Pendant der Kritik hilfreiche Hinweise geben können.

Zunächst muss nochmals das Bewusstsein der Gestaltbarkeit und damit Veränderbarkeit überhaupt genährt werden. Davon ausgehend ist nach Möglichkeit gegen jede Schranke anzudenken. Theodor W. Adorno spricht davon, dass sich das Denken verflüssigen muss, es muss so weit gegen die Fassaden angehen, wie es nur möglich ist (vgl. Adorno 1966/2003, S. 243). Es ist spekulativ zu denken, trotz der Gefahr des falschen Gedankens (vgl. Adorno 1965–66/2003, S. 131; Adorno 1966/2003, S. 45). Solches Denken arbeitet mit Umkehrungen, mit hypothetischen Vorbehalten, mit Metaphern und anderem mehr (vgl. Holzer 2017). Das alles ist einfacher gesagt, als getan, aber der Versuch ist dennoch unverzichtbar.

Möglichkeiten lassen sich beispielsweise mit spekulativen Vermutungen erkunden. Stellen wir uns z. B. Fragen: Was wäre, wenn …? Und wir beengen dabei unsere Phantasie möglichst nicht. Oder wir kehren den Gedanken um und „tun so, als ob …“ Um nicht unseren internalisierten Begrenzungen des Denkens aufzusitzen, müssen wir aber zugleich sogar versuchen, gegen uns selbst zu denken (vgl. Adorno 1966/2003, S. 358), uns selbst sogar zu misstrauen. Wo pfeifen wir uns selbst sogleich zurück? Wo haben wir nicht weit genug anders gedacht? Wo ist unser Denken kontaminiert und damit eingeengt? Erforderlich ist eine Sichtbarmachung von gesellschaftlich und ökonomisch erzeugten „Selbsttäuschungen“ (Pongratz 2010, S. 33), eine „Kritik des konstitutiven Bewußtseins selbst“ (Adorno 1966/2003, S. 151), radikale Selbstkritik und ständige Reflexion, auch der Utopie. Inspirierend finde ich auch den von Adorno geforderten „langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand“ (Adorno 1969/1977, S. 602), der wohl nötig ist, um nicht zu wenig weit zu denken und vor allem, um auch im neuen Gedanken die Verstrickungen und Fallen nicht zu übersehen. Heinz Steinert nennt das: „Genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen.“ (Steinert 1998, S. 46)

Überschreitendes Denken ist möglich und unmöglich zugleich. Im bereits Vorhandenen stecken bereits Möglichkeiten des Anderen.

Für Ernst Bloch gilt: „Denken heißt Überschreiten.“ (Bloch 1959/1985, S. 2) Aber er fordert sogleich ein, dass dabei „Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird“ (ebd.), sondern vielmehr das Utopische immer mit dem Jetzt verbunden wird und zugleich diese Verbundenheit kritisch reflektiert wird. Im Versuch des überschreitenden Denkens bedeutet dies eben auch, Wunschträume und Utopien darauf zu überprüfen, ob sie in der Möglichkeit weit genug reichen oder erst wieder in vorhandenen Systematiken verhaftet bleiben. Werden auch Grundlagen der Gesellschaft, beispielweise die kapitalistische Ökonomie, in Frage gestellt? Wird überprüft, ob und wie das Neue vielleicht erst wieder in bestehenden Logiken von Fortschritt und Leistung eingewoben bleiben? Warum nicht auch diese überschreiten? Aktuelle Visionen von Nachhaltigkeit oder Digitalisierung reichen beispielweise selten über diese Grenze hinaus. Aber möglich wäre es, diese Grenzen zu „über-denken“.

Zur Autorin

Daniela Holzer, Assoz. Prof.in Dr.in, Assoziierte Professorin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Fachbereich Erwachsenen- und Weiterbildung; Lehr- und Forschungsschwerpunkte: kritische Bildungstheorie, kritische Erwachsenenbildung, Weiterbildungswiderstand.
daniela.holzer@uni-graz.at

Literatur

Adorno, Theodor W. (1965–66/2003): Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Nachgelassene Schriften, Abteilung IV, Vorlesungen, Band 16. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Adorno, Theodor W. (1966/2003): Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Band 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Adorno, Theodor W. (1969/1977): Anmerkungen zum philosophischen Denken. In: Ders. (1977): Kulturkritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften, Band 10.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 599–607
Angehrn, Emil (2001): Dialektik der Utopie: von der Unverzichtbarkeit und Fragwürdigkeit utopischen Denkens. In: Hofmann-Riedinger, Monika/Thurnherr, Urs (Hrsg.): Anerkennung. Eine philosophische Propädeutik (Festschrift für Annemarie Pieper). Freiburg/München: Alber, S. 186–199
Bloch, Ernst (1959/1985): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Bloch, Ernst (1965–74/1980): Zum Begriff der Utopie. In: Ders. (1980): Abschied von der Utopie? Vorträge. Herausgegeben von Hanna Gelke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 41–115
Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition
Demirović, Alex (2005): Zur Dialektik von Utopie und bestimmter Negation. Eine Diskussionsbemerkung. In: Kaindl, Christina (Hrsg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Marburg: BdWi-Verlag, S. 143–147
Foucault, Michel (2013): Analytik der Macht. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Gramsci, Antonio (1929–35/2012): Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug und Klaus Bochmann. 10 Bände. Hamburg: Argument
Holzer, Daniela (2017): Weiterbildungswiderstand. Eine kritische Theorie der Verweigerung. Bielefeld: transcript
jour fixe initative berlin (2013): Einleitung. In: jour fixe initiative berlin (Hrsg.): „etwas fehlt“. Utopie, Kritik und Glücksversprechen. Münster: Edition Assemblage, S. 7–12
Kreisky, Eva (2000): „Die Phantasie ist nicht an der Macht …“ Vom Verschleiß des Utopischen im 20. Jahrhundert. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 29. Jg., Heft 1, S. 7–28; www.oezp.at/pdfs/2000-1-01.pdf (Zugriff: 15.02.2022)
Markard, Morus (2005): Die Rolle der Utopie für kritische Theorie. In: Kaindl, Christina (Hrsg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Marburg: BdWi-Verlag, S. 153–160
Negt, Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen: Steidl
Pongratz, Ludwig A. (2010): Kritische Erwachsenenbildung. Analysen und Anstöße. Wiesbaden: VS Verlag
Saage, Richard (2007): Renaissance der Utopie? In: UTOPIE kreativ, 201–202/2007, S. 605–617
Schäfer, Alfred (2017): Einführung in die Erziehungsphilosophie. Weinheim/Basel: Beltz Juventa
Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (2018): Angst – eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Angst. Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 7–36
Schwendter, Rolf (1994): Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Berlin: Edition ID-Archiv
Steinert, Heinz (1998): Kulturindustrie. Münster: Westfälisches Dampfboot
Steinert, Heinz (2007): Das Verhängnis der Gesellschaft und das Glück der Erkenntnis: Dialektik der Aufklärung als Forschungsprogramm. Münster: Westfälisches Dampfboot