Außerschulische Bildung 1/2020

„… auf echte Gerechtigkeit wagen wir nicht zu hoffen, aber wir wollen aufrichtige Solidarität“

Klimawandel und globale Solidarität

In Folge der Industrialisierung entstanden die modernen (bis heute meist national begrenzten) Solidarsysteme, die es ihren Mitgliedern erlaubten, Risiken gemeinsam abzufedern, ohne einander persönlich kennen zu müssen. Als Spätfolge der Industrialisierung erleben wir nun den globalen Klimawandel und fragen uns: Kann auch weltweite Solidarität gelingen? Der folgende Artikel will mit einigen Fragen zur weiteren Diskussion anregen: Warum sollte man dem Klimawandel solidarisch begegnen? Mit wem sollte man dabei solidarisch sein und wie könnte dies konkret aussehen? von Stefan Einsiedel

Der Grundgedanke der Solidarität

„In wie weit, glauben Sie, sind Ihre reichen Mitbürger mitschuldig an den Umweltproblemen und der Armut hier vor Ort? Oder sind es mehr die reichen Länder, die dafür verantwortlich sind?“ Diese durchaus heikle Frage (hier etwas vereinfacht wiedergegeben) war Teil eines umfangreichen Fragebogens, mit dem ich im Jahr 2015 in indischen Slums und Urwalddörfern mit denjenigen ins Gespräch zu kommen versuchte, die am stärksten von Klimawandel und globaler Ungleichheit betroffen sind: mit überschuldeten Bauern, Tagelöhnern und Vertreter*innen der Adivasi, der Ureinwohner des indischen Subkontinents. Im von Dürre und Überschwemmungen geplagten südwestlichen Bundesstaat Karnataka traf ich dabei auf eine Kleinbäuerin, deren Antwort erahnen lässt, wie vielschichtig das Themenfeld von Solidarität und Klimawandel sein kann: „Ob die Reichen schuld an meiner Misere sind, das weiß ich nicht – ich glaube zwar nicht, dass sie mein Unglück wollten, aber sie wollten es wohl auch nicht ernsthaft verhindern … Ich will aber glauben, dass die Reichen uns ebenso brauchen wie wir sie: Die Reichen würden menschlich verkümmern, wenn sie nicht helfen dürften. Und nur wir können deren Gelder so einsetzen, dass dieses Land grün und fruchtbar bleibt. Wir wollen keine Almosen, auf echte Gerechtigkeit wagen wir nicht zu hoffen, aber wir wollen aufrichtige Solidarität – so, wie auch wir bereit sind, mit den Reichen solidarisch zu sein!“

Diese (hier sinngemäß wiedergegebene) Antwort war durchaus repräsentativ für die Stimmung unter den Ärmsten der Armen: Auch wenn Solidarität Abgeleitet vom lateinischen solidus für „fest, unverbrüchlich“ weltweit sehr unterschiedlich definiert und von jedem Menschen anders gelebt wird, so sollte sie doch nie mit einseitiger Mildtätigkeit oder bedingungsloser Hilfe verwechselt werden, sondern beinhaltet immer auch den Grundgedanken einer angemessenen Reziprozität. Wer Solidarität erfährt, will dabei (im Regelfall) nicht bloß zum Hilfeempfänger reduziert werden, sondern empfindet sich selbst als Partner*in, der/die im richtigen Moment und im Rahmen der individuellen Möglichkeiten ebenfalls zur Hilfe bereit ist. Solidarität beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe im Krisenfall. Eine solidarische Feuer- oder Krankenversicherung etwa nivelliert nicht das unterschiedliche Einkommens- oder Leistungsniveau ihrer Teilnehmer*innen, aber erlaubt ihnen, durch einen fairen, begrenzten Lastenausgleich einen hoffentlich nicht eintretenden konkreten Notfall, der die Einzelnen weit überfordern würde, gemeinsam gut abzufedern. Dieses Grundprinzip der Solidarität wird durch die Herausforderungen des Klimawandels nicht verändert – es tritt hier sogar noch deutlicher zutage: Auch die globale Umweltkrise wird (ähnlich wie ein Unfall oder eine Krankheit) längst nicht alle Menschen gleichermaßen treffen, aber der zu befürchtende Gesamtschaden und die Zahl der potenziell Betroffenen sind derart hoch, dass globale Solidarität die einzig sinnvolle Antwort auf diese Herausforderung darstellt.