Außerschulische Bildung 2/2023

Auf Studienreise in der Türkei

Ein persönlicher Reisebericht über einen Feldversuch

Studienreisen nach Israel bedürfen keiner besonderen Begründung. Es ist selbsterklärend, dass die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb solche Fahrten seit nunmehr sechzig Jahren anbietet. Ich selbst konnte schon zwei Mal daran teilnehmen. Beide Reisen waren unfassbar prägende Erlebnisse, sehr gut organisiert und mit Gelegenheiten, Orte und Menschen kennenzulernen, denen man selbst als interessierter Tourist nie die Chance gehabt hätte zu begegnen. Nach Hause gekommen bin ich jedes Mal mit einem Koffer gefüllt mit neuen Erfahrungen, interessanten Gesprächen, tollen Begegnungen, verstörenden Einblicken, erschütterten Gewissheiten und neu gewonnenen Erkenntnissen. Die neu erlangten Perspektiven helfen bis heute, die unglaubliche Komplexität und Vielschichtigkeit des Landes, seiner (und unserer) Geschichte und der Gegenwart besser und niemals eindimensional betrachten zu können. Politische Bildung also wie sie sein sollte.

Studienreisen nach Israel durchgeführt von der bpb – an diesen Arbeitsauftrag kann man also getrost einen Haken machen. Was aber ist eigentlich mit anderen Ländern? Zum Beispiel mit der Türkei? In Deutschland leben mittlerweile fast vier Millionen Menschen, die familiäre Wurzeln in der Türkei haben. Ungefähr die Hälfte davon besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Rund vier Millionen Menschen, die in Deutschland leben, arbeiten, zur Schule gehen und hoffentlich auch von den Angeboten der politischen Bildung adressiert werden. Wäre nicht das alleine ein wirklich triftiger Grund, Studienreisen in die Türkei anzubieten, um das Land, seine Geschichte, die Menschen, die gesellschaftliche und politische Situation besser kennen und verstehen zu lernen? Diese Frage hat sich die bpb auch gestellt und hat einen Testballon gestartet: eine Studienreise nach Istanbul und Ankara unter dem Titel „Deutsch-türkische Beziehungen“, durchgeführt vom 4. bis 11. März 2023. Diese Reise war nicht frei ausgeschrieben, sondern die Teilnehmer*innen wurden gezielt angesprochen, um Vertreter*innen der verschiedenen Zielgruppen, die ein auf Dauer gestelltes Angebote nach Möglichkeit erreichen soll, einzubinden. So fanden sich dann am Vorbereitungstag insgesamt 19 Menschen ein, darunter Journalist*innen, eine Soldatin, eine Angehörige der Bundespolizei, ein Vertreter des BMI, der Vertreter eines Lehrerverbandes, Vertreter*innen von Stiftungen, Wissenschaftler*innen, Mitarbeiter*innen der bpb selbst und natürlich Vertreter*innen der zivilgesellschaftlichen politischen Bildung. Was sich im Laufe der Reise als großer Vorteil herausstellen sollte, waren die familiären Verbindungen in die Türkei einiger Teilnehmer*innen, ein Zugewinn an Informationen und Kenntnissen, die die Kolleg*innen für alle fruchtbar zu machen wussten.

Der Vorbereitungstag stimmte dann auf das ein, was in der darauf folgenden Woche kommen sollte. Interessante und kenntnisreiche Referent*innen informierten über die Türkei, die Geschichte des Landes, die deutsch-türkischen Beziehungen, über die Kurdenfragen, über Frauenbewegungen in der Türkei, über Migration in die Türkei und weiteres mehr. Aber sieben (!) Mal Vortrag – Diskussion von 9.00 Uhr morgens bis 19.30 Uhr am Abend – das hat selbst diese Gruppe aus wissbegierigen Testteilnehmenden an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit gebracht. Etwas mehr Flexibilität und Methodenvielfalt hätte dem Ganzen in jedem Fall gutgetan – eine Empfehlung schon jetzt für den nächsten Vorbereitungstag!

Moschee am Taksim-Platz Foto: Ina Bielenberg

Am nächsten Morgen um 7.30 Uhr ging es los zum Flughafen, pünktlicher Abflug vom BER, am Nachmittag Ankunft in Istanbul, Fahrt zum Hotel, Check-in und Abendessen und dann, man ahnt es schon, Vortrag und Diskussion zum Thema „Die Türkei als Einwanderungsland“. In dieser Taktung und Dichte ging es weiter. In den nächsten beiden Tagen Besuche im Atatürk Kultur Zentrum, durch das uns der Architekt und Sohn des Erbauers führte. Danach Besuch und Kennenlernen der Stiftung des ermordeten Journalisten Hrant Dink und der von ihm gegründeten Zeitungsredaktion Agos, die auf Türkisch und Armenisch erscheint. Weitere Besuche mit Gesprächen und Vorträgen beim Deutschen Orientinstitut, beim Goethe-Institut, bei der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer und bei einer deutschen Buchhandlung mit angeschlossenem Café. Hier gab es nicht nur hervorragenden Kaffee und fantastischen Kuchen, sondern vor allem den Austausch mit dem in Deutschland aufgewachsenen Besitzer. Der konnte unglaublich eindrücklich und interessant aus dem Leben eines Buchhändlers berichten, der zuweilen gut überlegen muss, welches Buch bei ihm auf dem Verkaufstisch landet.

Dazwischen eingeschoben gab es ein Treffen mit Vertreter*innen von Selbsthilfeorganisationen, die sich um geflüchtete Menschen kümmern. Das Engagement: absolut beeindruckend. Die Notwendigkeit: „Turkey ist the most refugee hosting country!“ Es sind Menschen u. a. aus Afghanistan und Russland, die in die Türkei fliehen, die größte Gruppe sind aber Syrer*innen. Niemand weiß, wie viele Geflüchtete tatsächlich in der Türkei leben, man geht von ca. 4 Millionen aus. Die Migrationsbewegungen werden zunehmend zu sozialem Sprengstoff, so berichteten die Aktivist*innen, zumal sich eine sehr große Gruppe von Menschen irregulär im Land aufhält und es in der Türkei keine organisierte Einbürgerungspolitik gibt.

Vor der Abfahrt nach Ankara dann noch einen Vormittag lang Vorträge und Gespräche mit beeindruckenden Frauen: zwei Journalistinnen, eine Menschenrechtsaktivistin und Theologin, eine Frauenrechtlerin, eine zivilgesellschaftliche Akteurin. Es ging um die großen politischen Themen: die anstehenden Wahlen in der Türkei, das Wählerpotenzial der AKP, der Zusammenschluss der Oppositionsparteien und die Frage: Was kommt nach Erdoğan? Der kleinste gemeinsame Nenner des Sechser-Bündnisses der Oppositionsparteien, davon sind alle Anwesenden überzeugt, heißt: „Erdoğan soll verlieren!“ Wie lange trägt ein so dünnes Fundament?

Und es ging am Internationalen Frauentag um die Frauen in der Türkei, ihre Rolle, ihre Hoffnungen, ihre Rechte. Der 2021 erfolgte Austritt der Türkei aus dem Istanbul Vertrag (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) hat, so die Einschätzung der Akteurinnen, die gesetzlichen Grundlagen zuungunsten der Frauen verschoben. Der zivilgesellschaftliche Einsatz (nicht nur für die Anliegen von Frauen) wurde deutlich erschwert. Was das bedeutet, konnten wir dann leider am selben Tag miterleben: Frauen, die für ihre Rechte in Istanbul auf die Straßen gingen, wurden verhaftet, ihr Anliegen kriminalisiert, später vom Abgeordneten der AKP im Gespräch mit der Reisegruppe sogar in die Nähe des Terrorismus gerückt.

In der Hauptstadt der Türkei ging es dann in gewohntem Tempo und gewohnter Input-Dichte weiter. Besichtigung der Zitadelle von Ankara, Führung durch das archäologische Museum, Stadtführung durch das vorrepublikanische Ankara, Museumsbesuche, Vorträge, Besuch in der Deutschen Botschaft und Gespräch mit dem deutschen Botschafter Jürgen Schulz. Besonders eindrücklich auch: der Besuch des Parlaments, Gespräche mit Abgeordneten aus fünf Parteien sowie der Besuch des Mausoleums des Staatsgründers Atatürk.

Das türkische Parlament Foto: Ina Bielenberg

Eine Woche Türkei also: prall gefüllt, viel gesehen, noch mehr gehört, manches Mal war es „too much“, aber: Es hat sich gelohnt! Was besonders hängen geblieben ist? Dass es ganz viel Gemeinsames und Verbindendes gibt zwischen der Türkei und Deutschland – nicht nur die engen Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch die rege wissenschaftliche Zusammenarbeit beider Länder, und, als Basis, eine lange und verbindende gemeinsame Historie. Viel Stoff also für die politische Bildung! Was uns trennt? Rechtsunsicherheit und Willkür. In der Türkei ist der allergrößte Teil der Medien unter staatlicher Kontrolle, Journalist*innen müssen sehr genau überlegen, was sie sagen und schreiben, Aktivist*innen werden mit Terrorverdacht belegt, Frauen verhaftet, wenn sie für ihre Rechte demonstrieren. Noch mehr Stoff also für die politische Bildung!

Wofür das alles spricht? Für eine Verstetigung des Pilotprojektes und für eine Aufnahme von Studienreisen in die Türkei durch die bpb! Die sollten auf jeden Fall etwas länger sein als eine Woche, sie sollten im Sinne der Kontroversität die Vielfalt an Perspektiven auf das Land und im Land wie in der Pilotwoche ebenso beibehalten wie die Unterschiedlichkeit der Orte, die besucht werden. Sie sollten ein wenig mehr Reflexionsräume zwischendurch bieten und den Teilnehmer*innen auch einmal eine Pause gönnen – eben politische Bildung wie sie sein sollte!

Zur Autorin

Ina Bielenberg ist seit 2007 Geschäftsführerin des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e. V.
bielenberg@adb.de