Außerschulische Bildung 3/2023

Auflösung von Gewissheiten

Welche politischen Folgen hat der Krieg in der Ukraine?

Nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Grundlagen für Sicherheit, Stabilität und Prosperität Deutschlands in Frage gestellt, aber der Krieg hat den Prozess beschleunigt und sehr deutlich gezeigt, dass eine Epoche zu Ende ist. Das internationale System verändert sich und macht einer neuen Ordnung Platz, ohne dass bereits heute alle Konturen erkennbar sind. Dies erfordert Anpassungsprozesse und die Transformation der internationalen Sicherheitspolitik. Da die Anpassungsnotwendigkeiten im deutschen Fall besonders hoch sind, werden in diesem Beitrag die Entwicklungslinien anhand Deutschlands nachgezeichnet und verschiedene „transformative Dimensionen“ der internationalen Sicherheitspolitik in den Blick genommen. von Markus Kaim

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte mit seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg im Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 große Erwartungen geweckt. Seine Ansprache stellte nicht weniger als einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel in Aussicht: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“ (Scholz 2022)

Damit gab der Bundeskanzler zum einen dem in Deutschland weit verbreiteten, zumeist jedoch lediglich vage formulierten Eindruck Form und Titel, dass nämlich die Epoche nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, die mit ihren sicherheitspolitischen Weichenstellungen die Grundlage für die Sicherheit, Stabilität und Prosperität Deutschlands seit dem Beginn der 1990er Jahre gewesen ist, endgültig und unwiderruflich vorbei sei. Dies war von anderen Politiker*innen bereits zuvor mit anderen Worten und in anderen Bildern beschworen worden, aber die Rede beglaubigte diese Wahrnehmung vor der bundesdeutschen Öffentlichkeit gleichermaßen. Selbstverständlich ist, dass diese Entwicklung nicht allein auf den russischen Angriff auf die Ukraine zurückgeht, aber dieser hat sie erheblich beschleunigt und verstärkt. Ohne dass bereits alle Konturen erkennbar sind, verändert sich langfristig das internationale System, macht einer neuen Ordnung Platz und erfordert von der deutschen sowie europäischen Politik entsprechende Anpassungsprozesse. Noch trägt diese Ordnung keinen Namen und die wenigen Versuche, sie als „Post-Post-Cold War Era“ zu titulieren, wirken unbeholfen (vgl. z. B. Friedberg 2023). Zudem zieht dies umgehend die Frage nach den Kriterien für den Epochenbruch nach sich, denn exakt dieser Terminus hat bereits früher Anwendung gefunden (vgl. Haass 2002; Friedman 2006; Averre/Wolczuk 2016).

Zum anderen deutete Scholz bereits einige erste Schritte an, die für die Transformation der internationalen Sicherheitspolitik seit dem und durch den russischen Angriff auf die Ukraine stünden. Diese bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen und sind bei weitem nicht vollständig. Sie öffnen jedoch den Blick auf die verschiedenen „transformativen Dimensionen“ der internationalen Sicherheitspolitik. Zwar erfasst dieser Wandlungsprozess viele Staaten des internationalen Systems zu unterschiedlichen Graden, aber die Anpassungsnotwendigkeiten sind im deutschen Fall besonders hoch. Daher lässt sich dieser besonders gut zur Illustration der Entwicklungslinie nutzen.