Zivilgesellschaft in shrinking spaces und Repression
Türkische NGO-Aktivist*innen arbeiten im Exil, belarussische zivilgesellschaftliche Akteure suchen Unterschlupf in NGO‘s im Ausland, russische NGO-Aktivist*innen suchen nun Unterschlupf in der Türkei. Foreign agents laws zwingen Organisationen, ihre Aktivitäten einzustellen und kriminalisieren zivilgesellschaftlich engagierte Bürger*innen. Themen wie Vielfalt, sexuelle Selbstbestimmung etc. können in verschiedenen Ländern gar nicht oder nur mit Vorsicht mit jungen Menschen bearbeitet werden, da die zugrundeliegende nationale Gesetzgebung bspw. die Behandlung bestimmter Aspekte gesellschaftlicher Vielfalt unter Strafe stellt, nicht mit dem Kinderschutz vereinbar macht oder schlicht und einfach bestehende Gesetze restriktiv ausgelegt und gehandhabt werden. Die vor 10 Jahren durch den Arab Spring romantisch aufkeimende Hoffnung eines weitergehenden weltweiten demokratischen Wandels erscheint ad acta gelegt.
Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine haben sich im Februar 2022 die Ausgangslagen für diesen Artikel grundlegend geändert, da vieles von dem, was bislang durch innerstaatliche Repression und Verfolgung gekennzeichnet war, sich insbesondere in Russland nochmals verschärft hat. Es bedeutet die nicht für möglich gehaltene grundlegende Negation europäischer politischer Friedens- und Menschenrechtspolitik und -prozesse, wie sie sich beispielsweise in der Helsinki Schlussakte, im OSZE-Prozess, in der Europäischen Konvention der Menschenrechte und in den EU-Verträgen niederschlägt. Das sind Grundlagen, auf denen das Selbstverständnis politischer Bildungsarbeit fußt. Wir lernen, dass die wirtschaftliche Kooperation mit autoritären Regimen ihren Preis hat: In einer „wertegeleiteten Außenpolitik“, als deren integraler Bestandteil u. a. auch internationale Begegnung und Zusammenarbeit zu verstehen ist, stellen sich vielfach Fragen nach der Verantwortlichkeit staatlichen Handelns. Was ist wichtiger: Menschenrechte und die Einhaltung demokratischer Prinzipien oder wirtschaftliche Interessen und irgendwie nebenbei Völkerverständigung? Den Wettbewerb mit China forcieren und das demokratisch orientierte hindu-nationalistische Indien unterstützen, wo Umwelt und Menschenrechts-NGO‘s schwer unter Druck sind? Das eine predigen, das andere tun, bedeutet auch für unser Arbeitsfeld einen permanenten Widerspruch, der in konkreter Bildungsarbeit schwer auszuhalten ist und Glaubwürdigkeit in Mitleidenschaft zieht.
Shrinking civil space, shrinking democratic spaces, contested spaces, narrowing or closing spaces – mit den Begriffen verbindet sich eine Entwicklung, die Einschränkungen von Menschenrechten für bestimmte Gruppen und von liberalen Grundrechten wie z. B. das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Organisationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht auf Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit betreffen. Es werden Vorgänge beschrieben, die sich in Europa nicht nur in Russland, Belarus, der Türkei ereignen, sondern auch innerhalb der Staaten des Europarats und der EU.
Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit Polens oder um die Ausgestaltung der ungarischen Medien- und NGO-Gesetze fällt ebenso darunter wie Restriktionen, welche die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren bspw. im Rahmen von Anti-Terror-Gesetzen, Geldwäsche-Gesetzen schleichend erschweren, weil beispielsweise Finanztransaktionen erschwert werden. Dazu gehören aber auch eine ganze Reihe von eher soften Instrumenten, die auf die Arbeit von civil society organisations (CSO’s) eher vom Rand her einwirken: Bildung, Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Minderheitenschutz.
Was ist wichtiger: Menschenrechte und die Einhaltung demokratischer Prinzipien oder wirtschaftliche Interessen und irgendwie nebenbei Völkerverständigung?
Kritisch angemerkt könnte man den Rückschluss ziehen, dass die ganzen europäischen Rechtsrahmen (rule of law, human rights, democracy) der Entwicklung bislang herzlich wenig entgegenzusetzen haben. Sie scheinen, wenn überhaupt, zu spät zu greifen und sind somit für die betroffenen Organisationen eigentlich unwirksam.
Unter anderem deswegen hat sich die EU-Grundrechteagentur der Frage des shrinking civic space seit einigen Jahren angenommen, indem sie ein EU-weites Monitoring betreibt und kontinuierliche Datenreports veröffentlicht. Die Analyse bezieht sich auf die vier Hauptkategorien von Einschränkungen: legal frameworks, finding and accessing financial resources, participation/consultation, sowie harassment, threats and attacks (vgl. EU-Grundrechteagentur 2021). Insbesondere bei letzterem wird ersichtlich, dass die Anfeindung des zivilgesellschaftlichen Raums beileibe nicht nur über staatliche Akteure stattfindet, sondern auch nichtstaatliche Akteure eine zunehmend gewichtige Rolle spielen, bspw. indem Lebensentwürfe einzelner und gesellschaftlicher Gruppen bedroht, diskreditiert oder auch offen angefeindet werden. Einem unter dem Slogan „Agenda Europe“ zusammengeschlossenen europaweiten extremistisch-christlichen Netzwerk verschiedenster Think Tanks, Bündnisse und Vereine, kommt dabei eine besonders perfide Rolle zu: Unter dem Deckmantel der Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten wird in mehreren europäischen Ländern vehement gegen sexuelle Vielfalt und Selbstbestimmung, gegen Abtreibung, gegen Frauenrechte und generell gegen gender based violence agitiert (vgl. Datta 2019). Entsprechende Bewegungen in Kroatien, Slowenien, Spanien, Frankreich sind aus Berichterstattung bekannt, auch in Deutschland haben in den vergangenen Jahren dementsprechend organisierte Bewegungen Aufmerksamkeit erregt.
Wie das wegweisende Urteil des US Supreme Courts zu Abtreibungen deutlich macht, muss angenommen werden, dass wir vor dem Versuch eines beispiellosen roll-back stehen, der bürgerliche Freiheiten und Grundrechte generell ins Visier nimmt.
Waltraud Heller von der Europäischen Grundrechteagentur verwies am Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag 2021 auf dem vom Fachausschuss Europa organisierten Panel „Shrinking Spaces“ darauf, dass es neben der konkreten Beschränkung vor allem um die Anfeindung und die Infragestellung des demokratischen Handlungs- und Gestaltungsraums von zivilgesellschaftlichen Akteuren geht. Diese ist vielschichtig und umfasst neben direkter politischer Einflussnahme und rechtlicher Gängelung weitere Felder: Neben der Nutzung von Sekundärwerkzeugen wie zum Beispiel des Gemeinnützigkeits- und Steuerrechts, geht es dabei zunehmend um das Kapern des gesellschaftspolitischen Diskurses, beispielsweise durch mediale Stimmungsmache auch von außen, durch Änderungen in Curricula, durch die Erschwerung von Kooperationen mit Schulen. Vor dem Hintergrund eines in vielen Ländern dysfunktionalen Medienmarktes, bewusst propagierter gesellschaftlicher Polarisation bspw. zu Themen wie Migration oder Vielfalt, finden sich Organisationen und Akteure, die für Demokratie und Menschenrechte arbeiten, unvermittelt in einer Außenseiterrolle. Ihre gesellschaftspolitischen Handlungs- und Gestaltungsräume sind zunehmend umstritten.
Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliche Organisationsformen blicken in den jeweiligen Ländern auf recht unterschiedliche historische Entwicklungen zurück. Sie sind sehr verschieden ausgeformt und nicht unbedingt vergleichbar. Dennoch lässt sich feststellen, dass sich in Europa eine europäische Zivilgesellschaft – europäisch vernetzt und organisiert – herausgebildet hat (vgl. Fischer et al. 2020). Sie ist mit den CSO‘s in den Mitgliedsstaaten jeweils eng vernetzt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Wirkmächtigkeit europäischer Programme wie Erasmus+, CERV und andere zu verstehen. Und es mag wenig wundern, dass es gerade die europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen sind, die sich dem Phänomen des civil space mit verstärktem Augenmerk widmen. Civil Liberties Europe veröffentlicht jährliche Trendberichte und länderspezifische Reports. Civil Society Europe kommentiert den jährlich erscheinenden Rule Of Law Report der Europäischen Kommission. Die shrinking spaces treffen – wie so oft – diejenigen Gruppen und Bereiche in der Gesellschaft, deren Lobby schwach ist: Frauen, Umwelt, Arbeit und Arbeitnehmerrechte, LGBTQI* und Jugend (vgl. CIVICUS Monitor 2022).
Jugend sitzt in Europa in einer demographischen Falle: Klima, wellbeing und mental health sind Mega-Herausforderungen im Jetzt. Die Möglichkeiten politischer Selbstwirksamkeitserfahrung divergieren für junge Menschen stark. Junge Menschen sind gegenüber einer immer älter werdenden Gesellschaftsmehrheit benachteiligt. Sich positive Gestaltungsräume aufzubauen, ist stark von Determinanten wie Einkommen des Elternhauses, Bildung, der Verfügbarkeit von Arbeit und Infrastruktur abhängig. Die Corona-Erfahrung hat diese Entwicklungen wie unter einem Brennglas fokussiert. Es geht nicht nur darum Resilienz zu entwickeln, sondern auch darum, in den eingeschränkten Spielräumen einer stark dystopischen Gegenwart positive Gestaltungsnarrative neu auszudeklinieren. Wer anderes als eine Zivilgesellschaft des „Now“ soll dies bewerkstelligen können?
Will man es im Bereich der Jugendarbeit in Deutschland engführen, so könnte man dem Trugschluss verfallen, dass es vornehmlich internationale Kooperationen und Begegnungen sind, die einer strapazierten und indifferenten Politik stärker ausgeliefert sind, da nun mal die Wirkung auf Partner im Ausland unmittelbarer ist, als auf die Arbeit im nationalen Kontext. Um einige Beispiele zu nennen:
Kann man noch Jugendaustausch mit Partnern in China betreiben? China ist ein Land in dem weite Teile der uigurischen Minderheitsbevölkerung in Lagern kaserniert, umerzogen und brutal unterdrückt werden.
Kann man mit Partnern in Russland, wo NGO‘s die zu Themen von politischer Bildung arbeiten seit Jahren kriminalisiert wurden, ernsthaft zusammenarbeiten? Der mit dem Wegfall der staatlichen Struktur auf der Gegenseite begründete Stopp der Kooperationen der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA) mit der russischen Seite nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine kam viel zu spät und ist nach wie vor halbherzig: Welche konkreten Hilfestellungen gab es in den vergangenen 10 Jahren für Organisationen und deren Partner, die als foreign agents unter Druck gerieten? Die Konsequenzen der stufenweisen Verschärfung des foreign agents act seit 2009 ist in einem Bericht des russischen Exilportals Meduza detailliert nachgezeichnet. Die Regelung greift mittlerweile allumfassend und bis in die Sprache einzelner Menschen ein (vgl. Meduza 2020; Todd 2021; Kim 2021). Sie ist, wie auch der russische Angriffskrieg, gegen die russische Verfassung. Mit der Schließung der Menschenrechtsorganisation Memorial im Dezember 2021 hat der Act in den Vortagen des Angriffs auf die Ukraine einen traurigen wie prominenten Höhepunkt erfahren. Wie viele kleine Organisationen haben jedoch seit Langem aufgegeben, ohne politisches Aufsehen zu erregen, und wie viele zivilgesellschaftlich Engagierte haben seit vielen Jahren das Land verlassen, weil die Arbeit vor Ort schlicht zu gefährlich wurde? Viele dieser Menschen und Organisationen waren Partner, die Austausch und Begegnungen getragen haben und sich stark gemacht haben, jungen Menschen eine alternative Form von Aufwachsen und Begegnung mit der Welt zu ermöglichen.
Die gewalttätige Niederschlagung der Protestbewegungen nach der gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus (2021) resultierte nicht nur in der Verhaftung und dem Exil zahlreicher Unterstützer*innen der Opposition, sondern in einer beispiellosen Schließungswelle von Nichtregierungsorganisationen (vgl. OEEC 2021 f.) – mittlerweile deutlich mehr als 400. Diese sind beileibe nicht nur politisch tätig, sondern sozial und karitativ, im Umweltbereich, im Informationsbereich, sind engagiert für Vielfalt und Minderheiten und in der konkreten Unterstützung von Menschen. Das Ausmaß der Repression traf und trifft, das sei angemerkt, diejenigen, die noch übrig waren. Gleichzeitig zeigt es die Beliebigkeit, nach der die Regime die verschiedensten Gruppen in der Bevölkerung zum Objekt von Repression machen. Es untermauert deutlich, dass es eben nicht nur um den Einsatz für Menschenrechte geht, sondern das jegliche Organisationsform und jegliches Engagement zum Ziel von Repression werden kann.
Alles weit, weit weg? Welche Auswirkungen hat das auf politische Bildung – und: Muss sich politische Bildung in Deutschland kritisch hinterfragen und dem stellen? Menschenrechte sind unteilbar und universell. Wenn wir uns darauf einlassen, sie als westliches Modell zu diskutieren, haben wir bereits aufgegeben.
Um es vorweg zu nehmen, die shrinking space-Entwicklung sollte uns nicht dazu verleiten, Austausche und Kooperationen mit Partnern in diesen Ländern zu beenden. Jedoch sollten wir uns als Träger bewusstwerden, dass wir uns in einem hochpolitisierten Kontext bewegen, der für Partner riskant ist und für den wir ungenügend fachlich-inhaltlich und politisch qualifiziert sind, sowie schlecht unterstützt werden.
Internationale Jugendarbeit (IJA) ist nach SGB VIII ein Kernbestandteil von Jugendarbeit in Deutschland. Herausforderungen die sich der IJA stellen, sind auch Herausforderungen an Jugendarbeit in Deutschland, zumal in einem hochintegrierten europäischen Kontext.
Shrinking civic space bedeutet nicht nur erschwerte partnerschaftliche Bedingungen und ständige Sorge um Kolleg*innen vor Ort, sondern mehr noch: Die shrinking spaces gestalten maßgeblich den europäischen zivilgesellschaftlichen Diskurs und auch die Diskurs- und Gestaltungsräume, die in der europäischen Jugendpolitik und bildungspolitischen Zusammenarbeit wirkmächtig verankert sind. Diese Gestaltungsräume sind allgemein in Gefahr.
Die shrinking space-Entwicklung sollte uns nicht dazu verleiten, Austausche und Kooperationen mit Partnern in diesen Ländern zu beenden. Jedoch sollten wir uns als Träger bewusstwerden, dass wir uns in einem hochpolitisierten Kontext bewegen, der für Partner riskant ist und für den wir ungenügend fachlich-inhaltlich und politisch qualifiziert sind, sowie schlecht unterstützt werden.
Wäre es nicht angebracht, vor diesem Hintergrund politisch Schwerpunkte zu setzen und für eine Qualifizierung der Förderwerke, Förderstrukturen und administrativen Ebenen zum Thema Menschenrechte, Global- und Außenpolitik zu sorgen? So haben beispielsweise die Nationalagenturen E+ Jugend im Projekt Youth for Human Rights (vgl. Jugend für Europa 2017 ff.) Angebote der menschenrechtlichen Qualifizierung für Träger und Trainer*innen beispielhaft angestoßen. In Zeiten globaler Verunsicherung und extremer Herausforderungen für Demokratie wäre es wohl angeraten, dementsprechende Qualifizierungen und Unterstützungsangebote zu verstetigen und vor allem die Mitarbeitenden in Mittlerstellen umfassend zu schulen.
Kritisch nachgehakt: Demokratiebildung ist in Deutschland genauso nötig wie anderswo. Einrichtungen und Träger der politischen Bildung wie der AdB und seine Mitglieder stehen für eine Praxis, die beispielhaft sein kann. Der Aufbau solcher Strukturen sollte eigentlich gefördert werden. Dass das größte Demokratieförderprogramm in Osteuropa in den letzten drei Jahrzehnten von einem US-amerikanischen Milliardär bezahlt wurde, kann auch als ein Versagen der europäischen und auch der deutschen Außenpolitik interpretiert werden. Das Demokratieförderprogramm Deutschlands war die Finanzierung politischer Stiftungen in Osteuropa. Was hat das gebracht? Und wo bleibt jetzt die Zivilgesellschaft?
Im europäischen Kontext findet gegenwärtig eine Umdeutung des Begriffs Zivilgesellschaft statt. Weg vom liberalen Modell einer Zivilgesellschaft in Übernahme staatlichen Rückzugs aus öffentlichen Aufgabenfeldern, hin zu einem Narrativ des Schutzes von Zivilgesellschaft in shrinking spaces als Nachweis von Demokratie. Die einschränkenden Institutionen und Akteure sind dabei Teil des Diskurses und man muss aufpassen, dass Zivilgesellschaft in ihrer Begründung nicht zum europäischen und national förderungswürdigen Care-Puppet oder Feigenblatt als Nachweis von Demokratie verkommt. Vielmehr sollten wir uns unserer eigenen Begründung als unabhängige Watchdogs und Honest Broker gesellschaftlichen Wandels vergewissern. Dass Zivilgesellschaft dies kann, hat sie in der Bürgerrechtsbewegung und in der Umweltbewegung nachdrücklich unter Beweis gestellt.
Zum Autor
pirker@adb.de