Außerschulische Bildung 1/2024

Bildung als Mittel gegen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit

Oskar Negt (1934–2024)

Am 2. Februar 2024 ist der Soziologe, Sozialphilosoph und überzeugte Demokrat Oskar Negt im Alter von 89 Jahren in Hannover gestorben. Ein Nachruf. von Christine Zeuner

Dieser bekannte Satz des Soziologen, Sozialphilosophen und überzeugten Demokraten Oskar Negt, der am 2. Februar 2024 im Alter von 89 Jahren in Hannover gestorben ist, sollte als eindringliche Mahnung verstanden werden, eine Demokratie als Lebens- und als Staatsform nicht als selbstverständlich vorauszusetzen. Seiner Auffassung nach garantiert die Demokratie als einziges politisches System ein menschenwürdiges und solidarisches Leben. Negt sah die Demokratie in ihrer Existenz aber immer auch als bedroht an. Bedroht – so widersprüchlich dies auch klingt – durch ihre Offenheit. Auch wenn Demokratien in der Regel so konstruiert werden, dass sie politische Gegensätze verkraften und Räume zur Entfaltung bieten, ist ihre Stabilität gefährdet, wenn extremistische Kräfte sie unter Ausnutzung demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten unterlaufen. – Eine in der Gegenwart real gewordene Gefahr, vor der Negt in Vorträgen und Schriften immer wieder warnte und der er Zeit seines Lebens durch theoretische Einflussnahme und Unterstützung der Bildungspraxis entgegensteuerte.

Geboren 1934 in Kapkeim in Ostpreußen, war seine Jugend geprägt von Erfahrungen wie Vertreibung, Flucht und Flüchtlingsdasein. Entwurzelung und Orientierungslosigkeit. Von 1947 bis 1951 lebte er mit seiner Familie in der DDR, bis die politischen Ansichten des Vaters, der als Sozialdemokrat nicht mit dem SED-Regime übereinstimmte, sie zu unerwünschten Personen machte. Die Familie verließ die DDR und hielt sich kurze Zeit in West-Berlin auf, um sich dann in Oldenburg in Norddeutschland niederzulassen. Dort besuchte Negt das Gymnasium und bestand 1955 das Abitur. Er begann ein Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen und wechselte aber nach einem Jahr an die Universität Frankfurt, um bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Philosophie und Soziologie zu studieren. Das Studium schloss er mit einem Diplom ab und promovierte anschließend bei Theodor W. Adorno. Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Assistent bei Jürgen Habermas erhielt er 1970 einen Ruf auf eine Professur für Soziologie an der Universität Hannover, die er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 innehatte.

Oskar Negt setzte sich als Soziologe und Philosoph kritisch mit der gesellschaftlichen Gegenwart auseinander. In einem breiten Spektrum von Themen bestimmten von Beginn an Überlegungen zur Bildung im Allgemeinen und zur politischen Bildung im Besonderen sein Denken. Er verstand sie als unabdingbare Dimensionen für die menschliche Entwicklung, die personale Entfaltung und das demokratische Zusammenleben. Geprägt von der Kritischen Theorie ebenso wie von Kants Idee der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnet Negt Bildung als ein Mittel gegen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, die bei Menschen in einer sich ständig verändernden komplexen Welt zu Bindungslosigkeit führen können (Negt 2016, S. 10). Als Ursache für diese Entwicklungen identifiziert er u. a. eine fortschreitende „kulturellen Erosionskrise“, die „sich dadurch auszeichnet, dass alte Werte, Haltungen, Normen nicht mehr unbesehen gelten, neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden“ (Negt 2016a, S. 11).