Eine empirische Studie der aktuellen, permanenten Bildungsangebote von KZ-Gedenkstätten in Deutschland
Die Globalisierung, verstanden als „multidirektionale(r) Prozess“ mit „ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen“ (Georgi 2019, S. 51), stellt die historisch-politische Bildungsarbeit an den KZ-Gedenkstätten in Deutschland aktuell vor Herausforderungen. So werden in einer zunehmend durch Diversität und von transnationaler und -kultureller Vernetzung gekennzeichneten Gesellschaft, die Zugänge, Perspektiven und Haltungen zu Geschichte vielfältiger und entkoppeln sich vom nationalstaatlichen Referenzrahmen (vgl. ebd.). Eine historisch-politische Bildung, die eine Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen mit einem nationalen und identitätsstiften Narrativ verknüpft, erscheint damit nicht mehr zeitgemäß. Welche Konsequenzen haben die KZ-Gedenkstätten, die als „Institutionen des kulturellen Gedächtnisses“ (Knoch 2020, S. 23) gelten können, aus diesen gesellschaftlichen und geschichtskulturellen Transformationsprozessen für ihre historisch-politische Bildungsarbeit vor Ort gezogen? Dieser Frage wurde im Rahmen einer empirischen Studie nachgegangen, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden sollen.
Zum Aufbau der empirischen Studie
Analysiert wurden die Bildungsangebote der acht größten KZ-Gedenkstätten in Deutschland, die sich an den historischen Orten befinden, an denen die SS große Konzentrationslager errichtet hatte. Es handelt sich um die Gedenkstätten Neuengamme, Bergen-Belsen, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Sachsenhausen, Ravensbrück, Flossenbürg und Dachau (vgl. Lutz/Schulze 2017). Sie eint – neben dem Ortsbezug –, dass sie aktuell über eine professionalisierte pädagogische Abteilung verfügen. Als Datenbasis für die Analyse dienten die Webauftritte der Gedenkstätten bzw. die jeweiligen Unterseiten, auf denen die Gedenkstätten ihr permanentes pädagogisches Angebot darstellen. Temporäre Bildungsveranstaltungen, zeitlich begrenzte Bildungsprojekte und Bildungsmaterialien sind hier nicht einbezogen worden. Auch internationale Begegnungen, die in Kooperation mit Partnern der Gedenkstätte organisiert und durchgeführt werden, wurden nicht einbezogen. Die Analysedaten wurden am 19. Juli 2022 lokal gespeichert, in Textdateien umgewandelt und über das Programm MAXQDA mit Hilfe der strukturierenden-qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (2018) ausgewertet. Verweise auf die Analysedaten werden im Folgenden abgekürzt. Ein Beispiel dafür ist die Angabe „B-B_4.1., Pos. 2“. Die erste Angabe (hier „B-B“) verweist mit dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Ortes auf die zitierte Gedenkstätte (hier „Bergen-Belsen“). Die folgende Ziffernangabe (hier „1.4.“) verweist auf die Ebene der Seite und die Position, in der die Seite im Strukturbaum (von oben nach unten und von links nach rechts) angegeben wird (4 steht für die Seite „Bildung & Begegnung“ auf der ersten Ebene; 1 bedeutet, dass sich die Seite auf der ersten Position der zweiten Ebene befindet, das ist hier die Seite „Digitale Bildungsangebote“). Mit „Pos.“ und der nachfolgenden Ziffer wird auf die zitierte Absatznummer auf der analysierten Webseite verwiesen. Wird an dieser Stelle keine Angabe gemacht, bezieht sich der Verweis auf die gesamte Seite.
Aktueller Diskurs um außerschulische historisch-politische Bildung in Zeiten von Globalisierung
Wie vor dem Hintergrund der skizzierten Transformationen eine zeitgemäße historisch-politische Bildung aussehen sollte, wird bereits seit einigen Jahren diskutiert. Für die KZ-Gedenkstätten geht es darum, die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Individuen wahrzunehmen, sich für diese Diversität zu öffnen und gleichzeitig den Kern ihrer historisch-politischen Bildungsarbeit nicht aus dem Fokus zu verlieren – die Auseinandersetzung mit dem historischen Ort, den dort begangenen nationalsozialistischen Verbrechen und den Schicksalen der davon betroffenen Häftlinge. In der Literatur werden verschiedene Vorschläge präsentiert. So wird von manchen Autor*innen vorgeschlagen, die Geschichte des Nationalsozialismus und der NS-Verbrechen in einer transnationalen Perspektive zu thematisieren und auch verflechtungsgeschichtliche Aspekte aufzuzeigen (vgl. von Wrochem 2019; Gryglewski 2020). Noch weiter geht der Vorschlag, die NS-Geschichte auch in Relation zu anderen Formen von Gewalt und Verbrechen zu setzen (vgl. von Wrochem 2019). Besonders intensiv wird in diesem Zusammenhang das Konzept der „multidirektionalen Erinnerung“ von Michael Rothberg (2021) diskutiert. Dem Konzept liegt der Gedanke zugrunde, den Nationalsozialismus in einem Verhältnis zum Kolonialismus zu betrachten, da in der Gegenwart unterschiedliche Geschichtsbezüge und -beziehungen vorhanden sind, die auch miteinander verwoben sein können. In der gegenwärtigen Diskussion um dieses Konzept geht es um die Fragen, inwieweit ein Vergleich zulässig ist und inwiefern die Singularität des nationalsozialistischen Massenmords an den europäischen Jüdinnen und Juden damit in Frage gestellt ist. Daran anknüpfend wird, bezogen auf den Aspekt des Gegenwartsbezuges von historisch-politischer Bildung an Gedenkstätten, vor allem über den Einbezug einer rassismuskritischen und postkolonialen Perspektive diskutiert. In der Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen sollen Lernende dazu befähigt werden, die Kontinuitäten, Veränderungen und die Tragweite rassistischer, aber auch antisemitischer, antiziganistischer und antislawistischer sowie kolonialer Denkstrukturen in der Gegenwart zu erkennen (vgl. von Wrochem 2019; Messerschmidt 2019).
Eine historisch-politische Bildung, die eine Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen mit einem nationalen und identitätsstiften Narrativ verknüpft, erscheint nicht mehr zeitgemäß.
Zusammenfassung der Ergebnisse der empirischen Studien
Vor dem Hintergrund dieser kurzen Zusammenfassung der aktuellen Diskussionen, stellt sich die Frage, welche dieser Vorschläge nun tatsächlich in den historisch-politischen Bildungsangeboten aufgegriffen wurden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gedenkstättenmitarbeiter*innen in der Gestaltung der Bildungsangebote zwar einerseits über eine gewisse Handlungskompetenz verfügen (vgl. Georgi et al. 2022), aber Gedenkstätten gleichzeitig auch unter politischem Einfluss und gesellschaftlichem Druck stehen.
Betrachtet man die Ergebnisse der Analyse der permanenten Bildungsangebote, wie sie auf den Webseiten der KZ-Gedenkstätten veröffentlicht wurden, zeigt sich, dass die KZ-Gedenkstätten Neuengamme, Sachsenhausen, Buchenwald und Flossenbürg den Vorschlag, eine transnationale Perspektive auf die NS-Geschichte einzunehmen und globale Bezüge aufzuzeigen, aufgegriffen haben. Im Bildungsprogramm der Gedenkstätte Neuengamme finden sich solche Angebote vor allem für Erwachsenengruppen. Ein Beispiel ist der Studientag „Die Rettung der skandinavischen Häftlinge durch die Aktion ‚Weiße Busse‘“, der auch die Nachwirkungen der historischen Ereignisse in den an der Rettung der Häftlinge beteiligten Länder aufzeigen will (vgl. N_4.3.2., Pos. 13–14). In der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ist die Zielgruppe eines solchen Angebotes offener gehalten. Im Mehrtagesangebot „History Maps Online“ sollen die Teilnehmer*innen Stationen aus dem Leben der Verfolgten, Arbeitskommandos und Außenlager des KZs in einer multimedialen Karte verorten und erkennen, „dass die Geschichte des KZ Sachsenhausen nicht auf das Gelände der heutigen Gedenkstätte beschränkt ist, sondern weit darüber hinaus nach Deutschland und ganz Europa reicht“ (S_3.3., Pos. 14-16). In der KZ-Gedenkstätte Buchenwald lässt sich der Online-Workshop „Infektionskrankheiten und Nationalsozialismus“, der für ältere Jugendliche und Erwachsene konzipiert ist, als Beispiel finden. Im Rahmen des Angebotes befassen sich die Teilnehmer*innen unter anderem auch mit der NS-Besatzungspolitik in Osteuropa (vgl. B_5.3.2., Pos. 11). Und auch in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg wird ein Bildungsangebot für Jugendliche und junge Erwachsene gemacht, das eine geografisch breitere Perspektive einnimmt. Es befasst sich thematisch mit einem Zugtransport aus dem Außenlager Leitmeritz im April 1945 und ist als Projekttag mit Rollenspiel buchbar. Die Teilnehmer*innen sollen sich im Rahmen dieses Angebotes mit der Perspektive der tschechischen Zivilbevölkerung auf den Transport auseinandersetzen (vgl. F_4.2.2.10).
In einer zunehmend durch Diversität und von transnationaler und -kultureller Vernetzung gekennzeichneten Gesellschaft werden die Zugänge, Perspektiven und Haltungen zu Geschichte vielfältiger und entkoppeln sich vom nationalstaatlichen Referenzrahmen.
Bemerkenswert ist, dass sich für den Untersuchungszeitraum und auf Basis der Webseitendaten in keiner der untersuchten Gedenkstätten ein permanentes Angebot finden ließ, das die Geschichte des Nationalsozialismus in Relation zu anderen Verbrechen setzt. Lediglich in dem Programm der Gedenkstätte Sachsenhausen lässt sich ein möglicher Hinweis auf ein solches Angebot finden, das allerdings nicht näher beschrieben wird. Dort wird ein Studientag mit dem Titel „Zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus – Mohamed Husen im KZ Sachsenhausen“ angegeben (vgl. S_3.2., Pos. 22), was darauf hindeuten kann, dass der Nationalsozialismus hier in Relation zum Kolonialismus betrachtet wird.
Eine rassismuskritische Perspektive wird jedoch wieder in Angeboten von verschiedenen KZ-Gedenkstätten aufgeworfen. So gibt es in Neuengamme zwei Seminarangebote für Lehrkräfte und andere Multiplikator*innen, die sich mit den Kontinuitäten antiziganistischer und rassistischer Denkstrukturen befassen (vgl. N_4.4., Pos. 10 und Pos. 13) und für Schüler*innen gibt es ein Mehrtagesangebot, das ebenfalls Kontinuitäten aufzeigen will und insbesondere auch den Antisemitismus aufgreift (vgl. N_4.1.3.1., Pos. 6). In der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen wird im Rahmen von verschiedenen Studientagen zu Biografien und Verfolgungsgründen eine rassismuskritische Perspektive auf die Gegenwart eingenommen (vgl. S_3.2., Pos. 17). Möglicherweise wird hier auch im Rahmen des bereits erwähnten Studientages eine postkoloniale Perspektive einbezogen. In Buchenwald findet sich eine solche Perspektive in dem bereits zitierten Online-Workshop „Infektionskrankheiten und Nationalsozialismus“ (vgl. B_5.3.2., Pos. 14). Und in Dachau stellt die Einnahme einer rassismuskritische Perspektive in einem Workshop für Bundeswehrangehörige den Kern eines Angebotes dar. In dem Workshop „Diskriminierung. Past. Present? Not tomorrow!“ sollen nicht nur Kontinuitäten aufgezeigt werden, sondern die Teilnehmer*innen soll auch Handlungskompetenz entwickeln (vgl. D_2.9., Pos. 15).
Auf Grundlage der Webseiten konnten in den Bildungsangeboten der Gedenkstätten Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen und Ravensbrück keine der diskutierten Ansätze ausfindig gemacht werden. Einschränkend muss jedoch festgehalten werden, dass diese Gedenkstätten auf ihren Webseiten nur wenige Informationen zu den Inhalten der einzelnen Angebote liefern. In Bergen-Belsen und Ravensbrück lassen sich aber zumindest Hinweise darauf finden, dass die Reflexion über die Transformationsprozesse und aktuellen Diskurse bereits eingesetzt hat und diese auch in Bildungskontexten thematisiert werden. In Bergen-Belsen konnten sich junge Teilnehmer*innen, die als Multiplikator*innen tätig sind oder sein werden, im Rahmen des jährlich veranstalteten „EduLab“-Seminars unter anderem über den geschichtskulturellen Wandel und die Zukunft der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust austauschen (vgl. B-B_4.2.1.) und in Ravensbrück wurde ein Austausch von Wissenschaftler*innen, Studierenden und Bildungspraktiker*innen insbesondere zum Ansatz der multidirektionalen Erinnerung im Rahmen der jährlich ausgerichteten „Europäischen Sommer-Universität“ angestoßen (vgl. R_3.7.2.1.).
Vorläufiges Fazit und Ausblick
Die Analyse der permanenten Bildungsangebote, wie sie auf den jeweiligen Webseiten der acht größten KZ-Gedenkstätten in Deutschland dargestellt werden, macht deutlich, dass die Gedenkstätten bisher unterschiedliche Konsequenzen aus den gegenwärtigen Transformationen für ihre historisch-politische Bildungsarbeit gezogen haben. Einige Gedenkstätten thematisieren in ihren Bildungsangeboten die Geschichte des Nationalsozialismus in seiner global-historischen Dimension, wobei Vergleiche mit anderen Formen der Gewalt – außer möglicherweise in Sachsenhausen – nicht Teil der Angebote zu sein scheinen. Zudem verfügen einige Gedenkstätten über Angebote, die eine rassismuskritische Perspektive auf die Gegenwart richten. In drei Gedenkstätten konnten keine Ansätze aus der aktuellen Diskussion ausfindig gemacht werden, allerdings haben zwei Gedenkstätten in einem jährlich stattfindenden aber inhaltlich wechselnden Angebot Aspekte aus der Diskussion in diesem Jahr zum Thema gemacht.
Über die Gründe für diese Unterschiede kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Mit einem neo-institutionalistischen Ansatz, wie ihn Bünyamin Werker (2016) in seiner Studie zu Bildungsangeboten in Gedenkstätten im Zeitalter der Globalisierung gewählt hat, lassen sich diese Differenzen nicht erklären. Die Studie von Georgi et al. (2022) deutet darauf hin, dass die Rolle der Gedenkstättenmitarbeiter*innen und ihre Handlungskompetenz bei der Entwicklung von Bildungsangeboten eine stärkere Beachtung beigemessen werden sollte. Die Autor*innen zeigen, wie unterschiedlich die Perspektiven auf den geschichtskulturellen Wandel ausfallen können (vgl. ebd.), was schließlich auch mögliche Konsequenzen für die Gestaltung von Bildungsangeboten haben kann. Um diese Frage abschließend zu klären, ist jedoch weitere Forschung nötig, etwa in Form von Experteninterviews mit Gedenkstättenmitarbeiter*innen. Diese können zudem einen tieferen Einblick in die Inhalte der Angebote ermöglichen und damit unter Umständen sogar das Fazit dieser Studie noch einmal in Frage stellen.
Zur Autorin
burmester@idd.uni-hannover.de