Außerschulische Bildung 4/2021

Brauchen wir Political Correctness?

Ein politisches Streitgespräch

Für ein Gespräch über die Themen Political Correctness, Identitätspolitik, Streitkultur und die Rolle der politischen Bildung kamen im Juli 2021 Saba-Nur Cheema von der Bildungsstätte Anne Frank und Dr. Karsten Schubert von der Universität Freiburg in einem Zoom-Raum zusammen. Die Fragen stellten Prof. Dr. Beate Rosenzweig und Petra Barz, beide Mitglieder im Redaktionsbeirat der „Außerschulischen Bildung“. Der folgende Text ist eine bearbeitete und gekürzte Fassung des Gesprächs.

Saba-Nur Cheema: Ja, warum reden wir eigentlich so viel über Political Correctness, über Identitätspolitik, über die sogenannte Cancel Culture? Es gibt viele Gründe, aber seit einigen Jahren erleben wir eine ganz neue Dynamik in der Diskussion über Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und andere Abwertungsphänomene in unserer Gesellschaft. Die erste Veränderung, die erste große Rassismusdebatte, die ich als solche benenne, war nach dem Hashtag #MeTwo – im Zuge des Fotos von Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Es haben sich Menschen in Sozialen Medien zu Wort gemeldet und es wurde endlich über Rassismuserfahrungen in Deutschland gesprochen. Seitdem erleben wir fast täglich, dass sogar in konservativen Zeitungen über diese Themen gesprochen wird, die sonst eher als ur-linke Themen gelten. Die Perspektive von Betroffenen ist immer mehr im Diskurs präsent. Ein großer Faktor sind die Sozialen Medien, weil hier die Währung die Anzahl der Follower*innen sind und man zunächst nicht den großen Job braucht, um ein Sprachrohr zu haben, um sich positionieren zu können und sagen zu können „Das passt mir nicht, ich stelle mir das anders vor.“ Das sehe ich als einen relevanten Faktor, weshalb wir zum Teil sehr aggressive, zumindest emotionale und leidenschaftliche Debatten erleben.

Karsten Schubert: Ich stimme all dem zu – noch haben wir also kein Streitgespräch. Ich würde das aber nochmal anders einordnen. Ein wichtiger Faktor ist, dass es einen realen Fortschritt von gesellschaftskritischen Bewegungen gibt. Es gibt eine immer stärkere Thematisierung von Rassismus und Sexismus, genauso wie eine neue Thematisierung von Homo- und Transphobie. Diese Themen sind präsenter geworden. Und damit einher geht die starke Kritik an Identitätspolitik in den konservativen Feuilletons aber auch durch Stimmen, die sich selbst in der gesellschaftlichen Mitte verorten, aber eigentlich konservativ sind. Das ist ein Abwehrkampf, den man als einen Indikator dafür interpretieren kann, dass es diesen Fortschritt gibt, gegen den sich da gewehrt wird. Das heißt: Fortschritt der emanzipativen Bewegung auf der einen, Abwehrkampf der Konservativen auf der anderen Seite, mit dem Ziel, die bezüglich all dieser Themen immer noch sehr stabile, mitte-rechtskonservative Hegemonie in Deutschland weiter zu stabilisieren und eigene Privilegien zu verteidigen. Siehe hierzu und zu weiteren Aspekten des Gesprächs die Texte, Videos und aktuellen Informationen unter www.karstenschubert.net/tags/political-correctness Ein anderer wichtiger Faktor in der Diskussion um Identitätspolitik ist eine Orientierungsdiskussion innerhalb der gesellschaftlichen Linken. Das ging los bei der Interpretation der Wahlerfolge der Rechtspopulisten, beispielsweise von AfD und Trump, Mitte der 2010er Jahre. Von Nancy Fraser wurde unter dem Stichwort „progressiver Neoliberalismus“ kritisiert, dass sich die gesellschaftliche Linke zu stark auf identitätspolitische Fragen der Anerkennung und zu wenig auf Umverteilungspolitik konzentrierte. Sie vertritt die These, dass diese Themen sogar im Widerspruch zueinander stünden. Sowohl innerhalb der kritischen Wissenschaft als auch der linken Politik wird über die Bedeutung und Bewertung von Identitätspolitik gestritten.

SNC: Es gibt zwei Sachen, die uns angeregt haben. Zum einen die von uns beobachtete „Selbstzerfleischung“ innerhalb der Linken. Also: Wer ist „woke enough“? Wer kennt die richtigen Selbstbezeichnungen und ist up to date? Sagen wir BPoC oder nur PoC? Wir haben erlebt, dass man nicht konstruktiv aufeinander reagiert oder auf etwas hingewiesen wird, sondern dass es fast sowas wie – ich will nicht Cancel Culture sagen – rigorose Ein- und Ausladungslogiken gibt und man viel lieber in der eigenen Filterblase bleibt. Es ist oft überhaupt nicht möglich, innerhalb des linken Lagers miteinander zu sprechen. Wenn es um die LGBT-Community geht oder um die Schwarze Community, um muslimische, jüdische usw., wo es viele Diskriminierungserfahrungen gibt, haben wir auch als Einrichtung erlebt, wie man nicht weiterkommt. Beispielsweise in der Debatte um BDS, also die gegen Israel gerichtete Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“. Ist diese jetzt antisemitisch? Und was heißt es, wenn wir mit jemandem sprechen, der BDS gar nicht als antisemitisch erklärt aber schon sehr klar ein Freund-Feind-Denken hat? Eine weitere Frage, mit der wir uns auseinandersetzen, ist, inwiefern die Linke schuld am Aufstieg vom Rechtspopulismus ist. Das ist eine These, die insbesondere im US-Kontext diskutiert worden ist. Auch die Thesen dazu von Mark Lilla, u. a. in seinem Buch „The Once and Future Liberal: After Identity Politics“, sind in diesem Zusammenhang interessant. Die These, ganz grob formuliert: Man setzt sich viel zu sehr mit den Belangen von Minderheiten auseinander und hat dadurch die Gesamtgesellschaft, die sozialen Interessen aus dem Blick verloren. Ökonomische Themen werden nicht mehr aufgegriffen, sondern es geht nur noch um sogenannte Minderheiten-Issues: Beispielsweise Debatten um Sprache – was ist jetzt das richtige Wort für was? Sei es die Diskussion um das N- oder Z-Wort oder die All-Gender-Toiletten. Solche Themen haben innerhalb der linken Kontexte viele bewegt, man habe sich sehr darauf fokussiert, sagt Lilla, und dann – bezogen auf die USA – die weiße Mehrheit dadurch verloren oder vergessen.