Außerschulische Bildung 1/2022

Civic Reflection

Überlegungen zu Werten, Entscheidungen und zivilgesellschaftlichem Engagement in polarisierenden Zeiten

Das Gesprächsinstrument „Civic Reflection“ wurde in den 1990er Jahren in den USA entwickelt, um Menschen zusammenzubringen und zum Nachdenken darüber anzuregen, wie und warum sie sich im öffentlichen Leben engagieren. In Zeiten politischer Spannungen ist Civic Reflection eine Technik, um Gemeinsamkeiten zu finden, Unterschiede zu verstehen und den*die Einzelnen zu ermutigen, das eigene bürgerschaftliche Engagement zu reflektieren. Es geht darum, Verbindungen und Verständnis zwischen den Teilnehmenden aufzubauen sowie individuelle Selbstreflexion und Lernen zu fördern. So bietet Civic Reflection Raum für Gespräche über Werte, Entscheidungen und die Bedürfnisse von Gruppen sowie die Rolle, die man für sich selbst in diesen Gruppen sieht. von Sarah Surak und Sandy Pope

Civic Reflection: Ursprünge und Entwicklung

Civic Reflection geht auf Gespräche zwischen dessen Gründerin Elizabeth Lynn und Susan Wisely (Lilly Endowment Stiftung) Mitte der 1990er Jahre zurück (vgl. Center for Civic Reflection 2021). Die beiden waren besorgt darüber, dass es zwar ein Bewusstsein für die zunehmende Bedeutung des philanthropischen Sektors in den USA für das Gedeihen aktiven bürgerlichen Lebens gab, dass dieses Bewusstsein aber nicht mit einer durchdachten Bewertung der zugrundeliegenden Werte einherging, die zur langfristigen Stärkung der Infrastruktur und Aktivitäten von Freiwilligenorganisationen erforderlich sind (vgl. ebd.). Der philanthropische Sektor spielt in den Vereinigten Staaten seit jeher eine wichtige Rolle und konzentrierte seine Bemühungen in der Vergangenheit auf einen oder mehrere der folgenden drei Bereiche: Philanthropische Spenden wurden als (1) Mittel zur Bereitstellung sozialer Hilfe angesehen, z. B. bei der Versorgung von Hungernden mit Lebensmitteln, (2) zur Förderung persönlicher Verbesserungen, z. B. beim Bau neuer Schulen oder der Spende von Lehrmaterial, und (3) zur Förderung sozialer Reformen, z. B. in Fällen, in denen finanzielle Spenden für sozialpolitische Experimente verwendet werden (vgl. Lynn/Wisely 2006). Im späten 20. Jahrhundert wandte sich die Philanthropie einem neuen, vierten Bereich zu, der sich auf den Aufbau sozialen Zusammenhalts und die Förderung bürgerschaftlichen Engagements konzentrierte. Dieser Wandel setzt sich fort, wobei viele der heutigen Aktivitäten bürgerschaftlichen Engagements in den Vereinigten Staaten eher von gemeinnützigen Organisationen als von der Landes- oder Bundesregierung unterstützt werden. Der philanthropische Sektor stützt sich auf Freiwillige und Spenden, um politische Bildung und gesellschaftliches Engagement zu ermöglichen.

Lynn und andere entwickelten Civic Reflection im Rahmen des 1998 an der Valparaiso University gegründeten Project for Civic Reflection, um Gespräche darüber anzuregen, wie und warum sich Menschen engagieren. Aufgrund der jahrzehntelangen Arbeit des Project for Civic Reflection wird die Methode heute in vielen Bereichen, z. B. in dem staatlich geförderten Freiwilligendienst AmeriCorps, in gemeinnützigen Organisationen sowie in Bildungseinrichtungen eingesetzt. Im Jahr 2018 wurde das Project for Civic Reflection an das Institute for Public Affairs and Civic Engagement (PACE) an der Salisbury University (Maryland, USA) übertragen, wo es zum Center for Civic Reflection wurde. Heute bietet das Zentrum neben der eigenen Moderation von Civic Reflection auch Schulungen zur Methode an und beherbergt den entsprechenden nationalen Ressourcenkatalog für Civic Reflection.

Die Praxis und die formale Ausbildung für Civic Reflection ist eine kollektive Anstrengung, die seit ihren Anfängen in den 1990er Jahren von vielen Einzelpersonen beeinflusst wurde (vgl. Center for Civic Reflection 2021). Das Center for Civic Reflection ist derzeit der Knotenpunkt für Ressourcen und Schulungen, doch das Zentrum will sich die Methode nicht zu eigen machen. Das Ziel des Zentrums besteht darin, Schulungen sowie Beratung und Material für die Anwendung dieser Methode bereitzustellen. Da die Methode noch keiner umfassenden Bewertung unterzogen wurde (vgl. z. B. Levin/Davis 2010), koordiniert das Zentrum außerdem ein laufendes Forschungsprojekt zur Bewertung der Gespräche im Rahmen von Civic Reflection als Methode für Schulen, Kommunalverwaltungen sowie öffentliche und gemeinnützige Organisationen. Ziel ist es, die Wirkung dieser Gespräche besser zu verstehen und herauszufinden, wie die Methode an sich verändernde gesellschaftliche Umstände angepasst werden sollte und im heutigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Klima relevant bleiben kann.

Die Methode der Civic Reflection

Civic Reflection lädt Menschen mit gemeinsamen Interessen oder Verbindungen zu einem moderierten Gespräch ein, um über gesellschaftliches Engagement und soziale Beziehungen nachzudenken. Dazu sind drei Dinge erforderlich: (1) eine Gruppe von Menschen, (2) eine „Quelle“, in der Regel ein Text wie z. B. ein Gedicht, und (3) ein gemeinsames gesellschaftliches Interesse oder Ziel. Alle drei Elemente sind für die Methode konstitutiv: Erst durch ihre zielgerichtete Kombination entfalten Civic Reflections ihre Wirkung.

Civic Reflection Foto: Salisbury University

Das erste Element einer Civic Reflection ist die Gruppe von Menschen, die daran teilnimmt. Die einzige Voraussetzung für diese Gruppe ist, dass sie etwas gemeinsam hat. Sie könnte zum Beispiel in einem Viertel leben, das mit demografischen Veränderungen konfrontiert ist, die von langjährigen Bewohner*innen als problematisch empfunden werden. Es könnte sich auch um eine Gruppe von Studierenden handeln, die sich in der gleichen Organisation für den lokalen Umweltschutz einsetzen. In beiden Beispielen gibt es ein gemeinsames Element, das die Menschen miteinander verbindet. Diese Gemeinsamkeiten bestimmen das Thema oder die „großen Fragen“ der Reflexion. Die Nachbarschaftsgruppe könnte sich mit dem Thema Identität und Gemeinschaft befassen, während die Studierenden in der Umweltorganisation das Thema Konfliktmanagement aufgreifen könnten, weil persönliche Konflikte innerhalb der Gruppe ihre Arbeit in den letzten Jahren behindert haben. Das Gesprächsthema muss sich nicht auf einen bestimmten Vorfall beziehen. Die Umweltorganisation kann sich zum Beispiel auch darauf konzentrieren, zu verstehen, wie jedes Mitglied die Bedeutung des Umweltschutzes interpretiert.

Civic Reflection lädt Menschen mit gemeinsamen Interessen oder Verbindungen zu einem moderierten Gespräch ein, um über gesellschaftliches Engagement und soziale Beziehungen nachzudenken.

Der Gesprächsleiter wählt eine zum Thema passende „Quelle“ aus, in der Regel ein geschriebener Text, z. B. ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte. In den letzten Jahren wurden auch andere Arten von Quellen verwendet, darunter Bilder (z. B. Gemälde und Fotos) und kurze Videos. Auch wenn sich das Format der Quellen im Zuge der technologischen Entwicklungen ständig weiterentwickelt, ist die Art der Quelle für die Reflexion von wesentlicher Bedeutung. Die Quellen sollten eher eine offene Diskussion ermöglichen als eine bestimmte Sichtweise vorgeben. Gedichte, Kurzgeschichten oder kurze philosophische Texte eignen sich am besten für ergebnisoffene Diskussionen, da ihre Bedeutung und Relevanz umstritten sind und die Interpretationen von dem Moment beeinflusst werden, in dem das Gespräch stattfindet (vgl. Davis 2009, S. 13). Der Zweck von Civic Reflection besteht gerade darin, dass eine Gruppe von Menschen ein Gespräch führt, das noch nie zuvor stattgefunden hat und das nur mit den Teilnehmer*innen in der Gruppe stattfinden kann. Dies lässt sich am besten mit einer Quelle erreichen, die Raum für Interpretationen lässt. Populäre Texte, Gedichte, die man typischerweise in der Schule kennenlernt, und Fachliteratur werden daher explizit vermieden.

Schließlich muss dann ein Bezug zwischen dem Gespräch und dem Alltag der Gesprächsteilnehmenden hergestellt werden, damit aus einer akademischen Interpretation oder einer Lesegruppe auch tatsächlich eine Reflexion wird, die die Werte der Gruppe und der einzelnen Teilnehmenden in den Blick nimmt.

Der*die Moderator*in führt die Gruppe durch ein Gespräch, das drei Phasen umfasst, die durch verschiedene Arten von Diskussionsfragen angeregt werden. Nach der Erläuterung der „Hoffnungen und Erwartungen“ oder „Grundregeln“ für das Gespräch sowie einer Eröffnungsaktivität geht die Gruppe zur Diskussion der Quelle über. Der Text wird laut vorgelesen, während die Teilnehmer*innen auf einem eigenen Exemplar mitlesen. Die Moderation ermutigt die Teilnehmenden, für sie interessante oder verwirrende Passagen zu benennen. Die Teilnehmenden haben dann Zeit, den Text noch einmal im Stillen zu lesen, bevor die Moderation die Diskussion zunächst mit klärenden Fragen beginnt, um sicherzustellen, dass jede*r im Raum die wichtigsten Aspekte der Geschichte oder des Gedichts versteht. Klärende Fragen nehmen Ängste vor der Teilnahme und machen deutlich, dass es sich nicht um ein akademisches Gespräch handelt, bei dem es darum geht, die „richtige“ oder „wahre“ Interpretation der Quelle zu finden. Es ist auch wichtig, Begriffe zu klären, die Gruppenmitglieder möglicherweise nicht kennen, da nicht alle den gleichen Hintergrund und die gleichen Erfahrungen haben. Obwohl es in jeder Gruppe soziale Unterschiede gibt und diese benannt werden sollten, sollte die Moderation diese Unterschiede nach Möglichkeit ausgleichen. Die Fragen stellen also auch sicher, dass die Gruppenmitglieder ein gemeinsames und zugleich breites Verständnis der Quelle entwickeln.

Anschließend werden die Teilnehmenden dazu angeregt, die Bedeutung der Quelle zu diskutieren. Mit gezielten Fragen versucht der*die Moderator*in dabei, ein Gespräch zwischen den Teilnehmenden anzuregen, das unterschiedliche Perspektiven und Auslegungen innerhalb der Gruppe aufzeigt. Die Teilnehmenden tauschen ihre Meinungen über die im Text vorkommenden Personen und Formulierungen aus. Alles was gesagt wird, muss sich explizit auf den vorliegenden Text beziehen. Diese Technik entpersonalisiert die Konversation, was Civic Reflection auszeichnet (vgl. Davis 2009, S. 19). Indem sie sich auf den vorliegenden Text konzentrieren, beginnen die Teilnehmenden, sich im Gespräch expliziter auf das gesamtgesellschaftliche Leben zu beziehen. Anstatt also direkt mit persönlichen Berichten zu einem Thema in die Diskussion einzusteigen, können Gesprächsteilnehmende stattdessen die Quelle heranziehen, um darüber zu sprechen, inwiefern Darstellungen im Text mit bestimmten Erfahrungen übereinstimmen, die sie selbst gemacht haben. Dies fördert die Empathie in der Gruppe, da ein gemeinsamer Bezugspunkt – die Quelle – verwendet wird, der mehrere Interpretationen zulässt, anstatt Anekdoten zu erzählen, die den Interpretationsrahmen auf den des Sprechers beschränken.

TECE-Event in Weimar im Herbst 2021 Foto: Sarah Surak

Zum Schluss hilft der*die Moderator*in der Gruppe, Schlussfolgerungen aus dem Gespräch zu ziehen. Fragen fordern die Teilnehmenden auf, über die Quelle hinauszugehen und zu überlegen, wie die in der Quelle vorkommenden Themen mit ihrer Arbeit oder ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement zusammenhängen. Hier stellen die Teilnehmenden eine Verbindung zu ihren eigenen Erfahrungen oder ihrem Verständnis von zivilgesellschaftlicher Teilhabe her. Die Mitglieder der Nachbarschaft, die mit dem demografischen Wandel konfrontiert sind, können die Erfahrung einer Person, die durch eine neue Situation herausgefordert wird, mit einer Situation in Verbindung bringen, die sie selbst erlebt haben. Die Mitglieder der Umweltorganisation können besser verstehen, warum ihre Kollegen ihre Arbeit oder persönliche Konflikte anders angehen. Die Rolle der Moderation besteht darin, das Gespräch durch diese drei Fragenkomplexe zu leiten und gleichzeitig den Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, das Gespräch für sich selbst sinnvoll zu gestalten.

Civic Reflection im aktuellen Kontext

COVID-19 schafft sowohl Hindernisse als auch neue Möglichkeiten für Civic Reflection. Seit März 2020 werden alle Moderator*innenschulungen online durchgeführt. Remote-Schulungen ermöglichen es so auch Gruppen mit begrenzten Ressourcen oder außerhalb der USA, die Anleitung einer Civic Reflection zu erlernen. Civic Reflections können auch online durchgeführt werden, die Autoren dieses Beitrags sind jedoch der Meinung, dass persönliche Gespräche am besten geeignet sind, einen offenen und einladenden Raum zu schaffen, in dem die Teilnehmenden die physischen und verbalen Signale des Moderators und der anderen Teilnehmer*innen besser wahrnehmen können. Ob virtuell oder persönlich, die Ziele der Civic Reflections bleiben dieselben: die Förderung tiefgreifender Gespräche darüber, wie und warum Einzelpersonen und Gruppen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wollen bzw. sollten (vgl. Davis 2009). Es ist wichtig zu betonen, dass Civic Reflection nicht immer zu einer Einigung auf ein Thema oder zu konkreten Aktionsplänen zu einem bestimmten Thema führt. Vielmehr ermöglicht die Methode es den Menschen, in Zeiten zunehmender Spaltung gemeinsame Erfahrungen zu machen und abweichende Meinungen zu verstehen. Es ist auch eine Möglichkeit für Menschen, über ihre Arbeit und Beweggründe nachzudenken. Civic Relections sind deliberative Instrumente, die positive Effekte auf demokratische Diskurse haben können (vgl. Searing et al. 2007).

Die Methode der Civic Reflection ist nicht urheberrechtlich geschützt; Ziel des Zentrums ist es vielmehr, diese Gesprächsstrategie zur Reflexion der eigenen zivilgesellschaftlichen Rolle und Verantwortung zu fördern und kollaborativ weiterzuentwickeln.

Das Center for Civic Reflection ist ständig auf der Suche nach neuen Partnerschaften und Möglichkeiten, die Methode der zivilgesellschaftlichen Reflexion mit Organisationen auf der ganzen Welt zu teilen. Die Methode der Civic Reflection ist nicht urheberrechtlich geschützt; Ziel des Zentrums ist es vielmehr, diese Gesprächsstrategie zur Reflexion der eigenen zivilgesellschaftlichen Rolle und Verantwortung zu fördern und kollaborativ weiterzuentwickeln. Die Mitarbeitenden des Centers bieten Beratung zur Methode an, geben Hilfestellung bei der Auswahl und Vorbereitung von Reflexionsmaterialien und entwickeln maßgeschneiderte Schulungs- und andere Unterstützungssysteme für Interessierte.

Zur Autorin/zum Autor

Dr. Sarah M. Surak ist Associate Professor of Political Science und PACE Fellow an der Salisbury University in Salisbury, Maryland. Ihre interdisziplinäre Forschung umfasst die Themen bürgerschaftliches Engagement, „Discard Studies“, Umweltpolitik und kritische Theorie. Von 2015 bis 2020 war sie Co-Direktorin des Institute for Public Affairs and Civic Engagement der Salisbury University, wo sie nun als Senior Fellow tätig ist.
SMSURAK@salisbury.edu
Dr. Alexander „Sandy“ Pope IV ist Associate Professor of Social Studies Education und Direktor des Institute for Public Affairs and Civic Engagement (PACE) an der Salisbury University. Sein Buch „Becoming a Holocaust Educator: Purposeful Pedagogy through Inquiry”, ist bei Teachers College Press und dem National Writing Project erhältlich.
AXPOPE@salisbury.edu

Literatur

Carothers, Thomas/O’Donohue, Andrew (Eds.) (2019): Democracies divided: The global challenge of political polarization. Washington, DC: Brookings Institution Press
Center for Civic Reflection (2021): History. Center for Civic Reflection; www.civicreflection.org/about/history (Zugriff: 07.01.2022)
Davis, Adam (2009): Civic reflection discussions: A handbook for facilitators. Chicago, IL: Project on Civic Reflection
Levin, Amy/Davis, Phoebe Stein (2010): „Good Readers Make Good Doctors”: Community Readings and the Health of the Community. In: PMLA/Publications of the Modern Language Association of America, 125(2), pp. 426–436
Lynn, Elizabeth/Wisely, Susan (2006): Four traditions of philanthropy. In: Davis, Adam/Lynn, Elizabeth (Eds.): The Civically Engaged Reader. Great Books Foundation; www.lwhsphilanthropy.com/uploads/2/5/5/7/25575416/four_traditions_of_philanthropy.pdf (Zugriff: 07.01.2022)
Searing, Donald D./Solt, Frederick/Conover, Pamela Johnston/Crewe, Ivor M. (2007): Public discussion in the deliberative system: Does it make better citizens? In: British Journal of Political Science, 37(4), pp. 587–618