Außerschulische Bildung 1/2020

Commoning als strukturelle Solidarität

Neue Formen von Solidarität und Solidarisierung

Solidarität wird hochgelobt und häufig praktiziert. Sie kommt als Anrufung – und kann allzu leicht ignoriert werden. Sie bezieht sich auf Gemeinschaften, deren Gemeinsames jeweils Anderes ausgrenzen kann. Wie kann Solidarität trotz der Freiwilligkeit verallgemeinert werden und strukturelle Grundlagen bekommen? Das Commoning erweist sich als eine verallgemeinerbare Praxis, die alle Ansprüche von Solidarität enthält und sie als Extra-Veranstaltung für Hilfsbedürftige überflüssig macht. von Annette Schlemm

Solidarität

Im Jahr 2002 überflutete die Elbe große Gebiete. Viele Häuser wurden mitgerissen, Schlammlawinen begruben Infrastrukturen und Gärten. Woran erinnern sich die Menschen heute? Erstaunlicherweise zählen sie meist nicht die Kosten auf und die Verluste, sondern berichten über die Stimmung, die alle überwältigte, denn alle halfen einander und erhielten auch von außen vielerlei konkrete Hilfe und Unterstützung. Rebecca Solnit (2009) berichtet Ähnliches von Katastrophen aus aller Welt. Entgegen der Erwartung, im Katastrophenfall wäre jeder Mensch nur sich selbst der Nächste, berichten die meisten Katastrophenerfahrenen davon, dass Selbstlosigkeit, Besonnenheit und ein neuartiges Miteinander aufblühten – zumindest solange, bis technikfixierte und politisch „von oben herab“ organisierte Hilfeleistungen die sich selbst organisierenden Strukturen scheinbar überflüssig machen oder gezielt zerstören. Rebecca Solnit erfuhr von den Betroffenen, wie ausgerechnet in unglücklichen Situationen sich ein Fenster in Richtung sozial-kooperativer Möglichkeiten öffnet, das sonst fest verrammelt scheint.

Die Praxis der Hilfeleistung ist wertvoll genug. Aber Hilfe kann leicht demütigend für die Empfänger*innen sein, und sie kann jederzeit entzogen werden. Angesichts der weltweit ständig wechselnden Katastrophenorte wechseln die Adressaten der Spendenaufrufe fast täglich und weil ich nicht jemanden bevorzugen will, könnte ich dazu neigen, diese Anrufe an mir abprallen zu lassen. Ich und auch niemand anders kann allen helfen, die es nötig hätten. Damit sind wir auch schon bei einem Problem, das auch der Solidarität anhaftet. Solidarität kann über reine Hilfeleistungen, die die Opfer in ihrem Opferstatus als Objekte meiner Zuwendung bestätigt, hinausgehen. Hilfe wird dann zur Solidarität, wenn jene, denen die Solidarität gilt, als selbstbestimmte Akteure handeln können und sich Menschen gegenseitig in dieser Rolle bestätigen und bestärken. Diese Rolle bekam „Solidarität“ erst in der Neuzeit; traditionell ging es eher darum, was Menschen einander „schulden“. Im römischen Schuldrecht hafteten Mitglieder einer Gemeinschaft nach dem Grundsatz „obligatio in solidum“ (Schuld für das Ganze) für die Gemeinschaft und diese für die Mitglieder. Diesem Begriff entsprechen heute noch die Versicherungen. Die Quelle des Begriffs enthält zwei Merkmale, die heute jedoch für manche Verwendungszwecke des Begriffs „Solidarität“ auch als problematisch angesehen werden können: Erstens hat Solidarität damit den Aspekt einer Pflicht, also etwas normativ der Entscheidung eines einzelnen Menschen Vorgegebenem, und zweitens bezieht sie sich auf eine konkrete Gemeinschaft und schließt damit andere Menschen aus. Dieses Manko hat auch eine Berufung auf die „Brüderlichkeit“, das auch durch die Ergänzung mit „Schwesterlichkeit“ nicht aufgehoben wird, denn die Solidarität bleibt innerhalb der Familie. Die häufigsten Begriffsbestimmungen von „Solidarität“ halten diese innerhalb eines bestimmten „Wir“. So definiert etwa Kurt Bayertz eine „Gemeinschafts-Solidarität“ als „Inbegriff der wechselseitigen Bindungen und Verpflichtungen (…), die zwischen einer Gruppe von Menschen bestehen“, die „durch gemeinsame Lebensbedingungen, gemeinsame Überzeugungen, gemeinsame Werte etc. getragen“ werden (Bayertz 1998, S. 49).