Die deutsche Parteiendemokratie in Bewegung
Parteien als Abbild der Gesellschaft
Parteien sind ein Abbild der Gesellschaft. Sie verbinden den Staat mit der Gesellschaft (vgl. Katz/Mair 1995). Sie agieren als Problemlösungsagenturen. Sie sichern transparent organisiert die Ordnung der Freiheit. Sie tragen dazu bei – politisch legitimiert – Entscheidungen herbeizuführen, um Probleme abzuarbeiten. Rund zwei Prozent der Bevölkerung sind in Deutschland Parteimitglieder. Sie arbeiten stellvertretend für alle anderen Bürger*innen, die nicht parteipolitisch engagiert sind. Politische Willensbildung kann mit moderner Beteiligungsarchitektur und volatilem Engagement aber auch ohne Parteien zum Ausdruck kommen. Politisch legitimierte Entscheidungen bedürfen allerdings des Vollzugs von gewählten Repräsentanten, die sich in aller Regel über Parteimitgliedschaft rekrutieren lassen. Zur politischen Rationalität des Politikers/der Politikerin gehört es zudem, ein Problem so zu lösen, dass das Ergebnis möglichst eine Wiederwahl fördert.
Parteien sind auch Machterwerbsorganisationen, denn sie verteilen Macht auf Zeit. Sie fördern Patronagen als Führungsauslese, weil sie systematisch Amtsträger*innen vermitteln. Darüber hinaus sind sie aber auch immer Lebensstil-Bastionen, Gesinnungsgemeinschaften und Rechthaber-Vereinigungen, die für moderne politische Willensbildung in einer freiheitlichen Demokratie unverzichtbar sind. In ihnen werden idealtypisch unterschiedliche Interessen gemanagt und für Entscheidungen gebündelt. Parteien sind nicht nur stets lernend unterwegs, um Mehrheiten zu organisieren und auf dem Wählermarkt zu mobilisieren. Sie ändern sich auch in ihrer Zusammensetzung, etwa in Bezug auf ihre Mitgliedschaften oder hinsichtlich der Strukturierung der internen Willensbildungsprozesse. Mehrdimensional gehen sie repräsentierend und regierend dabei vor: „Parteien erfüllen ihre generelle demokratische Funktion vor allem dadurch, dass sie die elektorale sowie die legislative und dann auch die exekutive Agenda ganz systematisch miteinander in Verbindung setzen, indem sie im Wahlkampf mit ihrem politischen Programm mobilisieren und dieses Programm im Erfolgsfall als parlamentarische Mehrheit bzw. als Regierung umsetzen, um mit Verweis auf diese Umsetzung (…) sowie auf das zukünftige Handlungsprogramm der Partei (…) im nächsten Wahlkampf erneut zu mobilisieren.“ (Manow 2020, S. 60) Durch die Option der prinzipiellen Abwahl sind dabei demokratische Responsivität und eine Verantwortlichkeit des Exekutivhandels systemisch gesichert.
Das Parteiensystem als ein System kommunizierender Röhren ist lebendig, robust und belastbar. Defizitparteien leben von den Angebotslücken der anderen.
Das deutsche Parteiensystem ist wandlungsfähig. Mit dem erstmaligen Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag liegt seit 2017 auf der Achse des Parteiensystems eine Rechtsverschiebung vor (vgl. Korte/Schoofs 2019). Die Fragmentierung führt zu einem polarisierten Pluralismus, der für den Bundestag neu ist. Die Erosion der traditionellen Volksparteien ist auch Ausdruck einer Repräsentationslücke. Doch hier gilt es, Vorsicht zu bewahren: Man sollte die Volksparteien nicht vorzeitig abschreiben. Die Corona-Politik katapultierte die Regierungsparteien der Mitte im Bund und in den Ländern zu neuen Höhenflügen in der Wählergunst. Die politische Mitte sortiert sich neu. Was die einen Parteien an Themenhoheit verlieren, gewinnen die anderen hinzu. Das Parteiensystem als ein System kommunizierender Röhren ist lebendig, robust und belastbar. Defizitparteien leben von den Angebotslücken der anderen.
Parteien reagieren auch mit Organisationsreformen auf veränderte Erwartungshaltungen der Wähler*innen (vgl. Korte u. a. 2018). Hier lassen sich unterschiedliche Stoßrichtungen erkennen: partizipativer Natur, also im Sinne direkter Beteiligungschancen, deliberativer Natur, das heißt im Sinne kommunikativer Austausch- und Willensbildungsprozesse sowie liberaler Natur, also im Sinne einer Intensivierung der Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Idealerweise verbindet eine Wiederbelebung der Parteiendemokratie alle drei Richtungen. Dass dies gegenwärtig nicht ausreichend der Fall ist, ist erkennbar. Eine Lösung dessen könnte in der Stärkung von Parteien bestehen.
Zunächst gilt es dabei, die in ein Ungleichgewicht geratende Verschränkung von administrativer Macht und gesellschaftlicher Basis der Parteien zu korrigieren. Die Parteien experimentieren etwa mit einer Erweiterung ihres Mitgliederkonzeptes um flexible Aktivistenkonzepte, um die Gesellschaft und ihre Assoziationen in den eigenen Willensbildungsprozess wieder zu integrieren. Statt auf aktive Mitglieder zu warten, könnten andernorts engagierte Bürger*innen als Experten an der eigenen Willensbildung beteiligt werden. Grundsätzlich sind parteipolitisches und zivilgesellschaftliches Engagement keine Gegensätze. Im Gegenteil: Es ist das dauerhafte Bemühen, konkurrierende Partikularinteressen in gesellschaftliche Allgemeinanliegen zu überführen.
Der sanfte Wandel zu mehr direkter Demokratie in den Parteien ist Ausdruck einer gewandelten Einstellung zur Repräsentation, denn Parteien bilden die Gesellschaft ab (vgl. Korte 2017). Die ergebnisorientierte Mitwirkung der Bürger*innen im Sinne einer modernen Partizipation, der sich die Parteien stellen müssen, sichert nicht nur langfristig die Legitimität der Entscheidung. Sie erhöht ebenso auch die Qualität der Entscheidung, wenn nicht nur über Wissen, sondern auch über Partizipation und Teilhabe neue Akteure eingebunden werden. Die Entscheidungszumutungen gegenüber Politiker*innen werden – wenn sich unterschiedliche Kreise in differenzierten Formaten darin wiederfinden – erträglicher für politische Akteure. Wenn Krisenmanagement gravierende tägliche Entscheidungen verlangt, nutzt die diskursive Rückbindung an Öffentlichkeiten der Feinjustierung plebiszitärer Bedürfnisse. Risikokompetenz der Akteure in einer Regierung würde mithin im Prozess des Verkoppelns prozessualer Logiken beziehungsweise unterschiedlicher Entscheidungsarenen bestehen. Parteien wären aktive Spieler in all diesen Arenen, wenn sie auch als Netzwerkparteien ihre Zukunft gestalten.
Zurzeit wollen die Parteien durch Partizipationsanreize den Mehrwert einer Parteimitgliedschaft erhöhen. Sie versuchen, sich neue gesellschaftliche Netzwerke zu erschließen, um ihre Problemlösungskompetenzen zu erweitern und ihre gesellschaftliche Verankerung auszubauen. Professionelle Beratung soll das Wissen über kommunalpolitische Sachfragen erhöhen und die Kommunikationsfähigkeiten regionaler Untergliederungen stärken. Dass die Professionalisierung der kommunalen Ebene aber auch zu einer Zentralisierung und damit zu einer Schwächung der Mitgliederpartei führen kann, macht zugleich deutlich, dass die Zukunft der Parteien nicht eindeutig vorgezeichnet ist. Ob die Rückkehr des Plebiszitären tatsächlich zu einer neuen Beteiligungsarchitektur bei den etablierten Parteien führt, bleibt im Moment noch abzuwarten. Das hängt auch mit den Einschränkungen der Corona-Politik zusammen. Basisarbeit der Parteien ist unter den Bedingungen virtueller Kontakte nur eingeschränkt handhabbar. Innerparteiliche Demokratie ist mehr als formale Einhaltung des Parteienrechts. Versammlungsdemokratie lebt von der direkten Begegnung, die nicht durch Videokonferenzen ersetzt werden kann.
Zugleich zeigen die Reformbemühungen, dass viele Parteien offenbar ihre Grenzen erkennen. Im Konzept des Parteienstaats sehen sie sich für alles zuständig und dehnen ihren Einflussbereich stetig aus – was zweifelsohne nicht mehr zeitgemäß ist. Die Parteien legen sich Selbstbeschränkungen auf. So gilt die Angebotslücke der etablierten Parteien systemimmanent und lässt sich in Teilen nicht schließen. Die Pluralisierung von Lebensstilen und die Individualisierung der Gesellschaft lassen sich auf dem Parteienmarkt überhaupt nur bedingt abbilden. Die Parteien verstehen sich selbst eben nicht als Anbieter für jeweilige individuelle Bedürfnisse. Sie sind in ihrem eigenen Selbstverständnis Organisationen für konzeptionelle Gesellschaftsentwicklungen, nicht für individuelle. Sie bieten den Mitgliedern eine Art Plattform zur Mitarbeit und bleiben auf Eingaben ihrer Mitglieder angewiesen. Dabei schmälert ein taktischer Teil-Rückzug nicht ihre grundsätzliche Bedeutung.
Die Parteienforschung konnte nachweisen, wie die Qualität der Demokratie sinkt, wenn der Wahlakt im Falle einer Ausweitung von alternativen Verfahren eine immer geringere Rolle spielt.
Parteien sind es, die bei Wahlen antreten. Die Repräsentativität des Wählerwillens bei Wahlen ist immer noch weitaus höher als bei allen anderen Formen politischer Beteiligung. Es lässt sich nachweisen, dass alternative Partizipationsformen das Ideal politischer Gleichheit gefährden können. In weitaus höherem Maße als Wahlen sind alle anderen Formen der politischen Beteiligung sozial verzerrt. Wahlen garantieren relativ gleiche Zugangschancen, weil der individuelle Aufwand gering ist. Alle anderen Beteiligungsformen verlangen dagegen mehr Zeitaufwand, mehr Bildung oder auch finanzielle Mittel zur Mobilisierung. Die Parteienforschung konnte nachweisen, wie die Qualität der Demokratie sinkt, wenn der Wahlakt im Falle einer Ausweitung von alternativen Verfahren eine immer geringere Rolle spielt (vgl. Schäfer 2010).
In Deutschland hat Parteienkritik eine lange Tradition. Doch trotz aller auch berechtigten Detailkritik: Parteien stehen für die modernste Form politischer Willensbildung in repräsentativen Demokratien. Wer sollte stellvertretend für sie an freien Wahlen teilnehmen? Welche anderen repräsentativen Gruppen wären gleichermaßen politisch legitimiert, Entscheidungen für uns zu treffen? Wie könnten wir ohne Parteien politische Teilhabe fair organisieren, die nicht nur spontane Betroffenheit widerspiegelt? Die Parteien reagieren auf die Herausforderungen von Geschwindigkeit, Zeitdruck, Komplexität und Risiko. Sie bleiben Mittler und Transmissionsriemen beim Komplexitätsmanagement von Entscheidungen. Da Parteien das Personal für die politischen Spitzenämter stellen, sind sie relevant, wenn es sich um potenzielle Handlungsanleitungen im Umfeld einer sich entwickelnden Risikokompetenz dreht. Die volle Kraft durch Responsivität der Parteien wird man nutzen können, wenn man die konzeptionellen Suchbewegungen in Richtung einer Re-Integration in die Willensbildungsprozesse der Parteien lenkt. Denn die Parteiendemokratie hat als „Schleuse“ zwischen Staat und Gesellschaft nach wie vor großes Leistungspotenzial. Für die kontinuierliche Aggregation und Integration von Werten und Interessen, ihre Überführung in staatliches Handeln und für die Möglichkeit der Verortung demokratischer Verantwortung existieren bisher keine Alternativen. Ohne das Dach gemeinsamer Grundüberzeugungen muss das Wirkungsspektrum einer politikbezogenen Gesellschaftsberatung begrenzt bleiben. Erst wenn gemeinsame Werte mit lebensweltlichen Erfahrungen und wissenschaftlicher Expertise zusammengeführt werden, entfaltet sie ihr volles Potenzial. Dies können Parteien leisten. Wenn Risiko, etwa aufgrund von Komplexität oder Zeitdruck zum Regelfall der Politik mutiert, könnte zukunftsfähige Politik auch Konsequenzen auf die Struktur der Entscheidungen haben. Zukunftsfähigkeit könnte darin bestehen, grundsätzlich lernend, fehlerfreundlich und somit stets reversibel zu handeln. Auch die Qualität von Entscheidungsprozessen kann sich dadurch verbessern, weil die Fehlerfreundlichkeit von Entscheidungen in und zwischen den Parteien kommuniziert werden müsste.
Die Mitgliederparteien haben sich noch nicht aufgegeben. Auch das Konzept von Volksparteien hat in Zeiten antipluralistischer Stimmungen eine besondere demokratiefördernde Funktion. Denn die Kernkompetenz von Volksparteien besteht darin, Konflikte von berechtigten, aber divergierenden Interessen auszutarieren. Damit werden diese Interessenunterschiede zum Gemeinwohl hin ausgeglichen (vgl. Korte 2019). Das ist unerlässlich in einer repräsentativ verfassten Demokratie. Volksparteien sind Konsensmaschinen und ein Sicherheitsversprechen.
Schließlich reagieren die Parteien auf die Verschiebungen des Wählermarktes auf der parlamentarischen Ebene mit der Öffnung für neue Regierungsbündnisse. Innerhalb der tradierten parteipolitischen Lager sind häufig keine Bündnisse mehr kalkulierbar mehrheitsfähig. Ehemals große Volksparteien sind in den letzten Jahren im Bund und in den Ländern von Sieg zu Sieg geschrumpft. Bei der Bundestagswahl 2017 kommt eine Große Koalition nur noch knapp auf eine Mehrheit der Sitze, sie entspricht damit vielmehr inzwischen einer regulären kleinen Koalition (vgl. Korte/Schoofs 2019). Wie der Blick in einige Landtage zeigt, reichen sogar gelegentlich Koalitionen aus Union und SPD nicht mehr aus, um mehrheitsfähig zu werden. Bunte Koalitionsmuster kennzeichnen deshalb die Vielfalt von Mehrheitsfraktionen in deutschen Parlamenten. Fünf- und Sechs-Parteien-Parlamente in den Ländern kreieren eine bunte Republik. Die Parteien zeigen sich insofern beweglich, wenn es darum geht, aus dem Wählerauftrag am Wahltag eine Regierungsmehrheit zu bilden. Wird das Kurzfristige, das Flüchtige, das Unerwartete und die Permanenz des Dynamischen zum bleibenden Kennzeichen?
Parteien sind Begleiter des Wandels, sie sind lernende Organisationen mit extrem hoher Anpassungsflexibilität.
Wer stimmungsflüchtige Machtgrundlagen fürchtet, kann digital darauf reagieren. Wer am Delegations- und Repräsentationsprinzip für Willensbildung und Entscheidungsfindung festhält, sollte zeitgleich Kulturen des Mitentscheidens und ein Recht auf Feedback fördern. Wer die Labilität schätzt, freut sich über Neuanfänge. Trotz aller Unübersichtlichkeit bleibt eine erfreuliche Konstante: Die Parteien sind in der Mehrheit immer noch politisch extrem mitte-zentriert und weit entfernt vom antimodernen Rechtspopulismus. Innerparteiliche Demokratie ist zwar nicht der Antriebsmotor all dieser Veränderungen, aber das veränderte Bedürfnis nach Teilhabe wird von den Parteiführungen antizipiert.
Parteien sind Begleiter des Wandels, sie sind lernende Organisationen mit extrem hoher Anpassungsflexibilität. Externe Schocks fördern ebenso den Wandel wie strategische Zentren in den Parteien. Die Parteien strotzen keineswegs vor Vitalität, zeigen sich aber extrem robust, krisenfest und wandlungsfähig. In ihren strategischen Zentren verfügen sie vielfach bereits über Risikokompetenz. Um Legitimität zu generieren, öffnen sie sich verstärkt auch Nichtmitgliedern.
Konfliktlinien und der Parteienmarkt der Corona-Politik
Noch immer gruppiert sich das Parteiensystem in Deutschland um drei wichtige große gesellschaftspolitische Konfliktlinien, sogenannte Cleavages (vgl. Korte 2018): um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, um kulturelle Differenzen der politischen Partizipation sowie um das relative Gewicht von Staat und Markt. Doch seit einiger Zeit kommt eine neue, vierte wichtige gesellschaftspolitische Konfliktlinie wirkungsmächtig hinzu. Es ist das ideologische Konfliktpotenzial zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Werten zwischen Öffnung und Schließung. Gemeint ist das Spannungsfeld zwischen globalisierten Weltbürgern und nationalkonservativen Gemeinschaften. Kommunitaristische Einstellungen favorisieren die Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in nationalen und kommunalen Kontexten. Kosmopolitische Einstellungen betonen hingegen universelle Verpflichtungen.
Letztlich triumphiert im nationalen Kommunitarismus die Volksgemeinschaft gegenüber internationalen Verpflichtungen, die Idee, primär der eigenen Gesellschaft Verantwortung zu schulden gegen universelle Werte der global denkenden Eliten. Es wäre vereinfacht zu sagen, hier stehen Globalisierungsgewinner gegen Globalisierungsverlierer. Zumal nicht immer eine klare Dichotomie erkennbar ist, sondern eher ambivalente Spannungsfelder. Damit wird auch deutlich, dass die Dimension des Konfliktes nicht abnimmt, sondern eher noch zunehmen wird. Doch der Bedarf gerade in der verunsicherten Angst-Mitte der bürgerlichen Wähler*innen für eine Partei, die diese gesellschaftspolitische Konfliktlinie aktiv bedient, wächst. Gerade diese Konfliktlinie eines neuen gesellschaftlichen Diskurses verrät viel über widersprüchliches, paradoxes, auf jeden Fall nicht-rationales Wählerverhalten. Wie die Bürger*innen sich auf dieser Konfliktdimension positionieren, hat sehr viel mit weichen, aber eminent politisch wirkenden Faktoren zu tun: Anerkennungsverhältnisse, Wahrnehmungen, lebenskulturelle Modernisierung sowie moderne Artikulations- und Teilhabemöglichkeiten.
Diese neue Konfliktlinie zwischen Öffnung und Schließung prägte nicht nur viele Jahre die Auseinandersetzung um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung (vgl. Bieber u. a. 2016). Sie veränderte auch das gesamte Parteiensystem und öffnete der AfD nicht nur den Weg in den Bundestag, sondern auch in alle Länderparlamente. Die Konfliktlinie begleitet auch die Diskussionen um Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Sie beförderte in den Jahren 2018 und 2019 den Höhenflug der Grünen, die sich kompromisslos bei den Themen Öffnung und internationale Kooperation sowie bei freiheitlich-liberalen, auf Verschiedenheit angelegten gesellschaftlichen Konzepten verorteten.
In den Bruchlinien der Corona-Pandemie kehrt das Cleavage im neuen Gewande zurück: Die Globalisierungsgegner finden im Virus die perfekte Bestätigung ihrer Warnungen vor ungebremsten grenzüberschreitendem Verkehr. Die liberalen Verfechter einer offenen Weltordnung sehen sich erneut in der Defensive. Oft wird dieser Konflikt in eine besondere Begrifflichkeit gebracht: Da streiten die mobilen „anywheres“ („Nirgendwos“) mit den ortsgebundenen „somewheres“ („Dagebliebenen“) (Goodhart 2017). Heute ziehen sich die einen effizient ins Homeoffice zurück, die anderen müssen sich im öffentlichen Raum der Ansteckungsgefahr stellen. Was macht das mit dem Parteiensystem – gerade im Vorfeld des Superwahljahres 2021 mit vielen Landtagswahlen und der Bundestagswahl?
Wähler belohnen Optimismus. Wahlen sind keine Erntedankfeste, sondern transportieren konkrete Zukunftserwartungen. Sie verhelfen der Handlungszuversicht zur demokratischen Mehrheit. Ein Gefühlsmanagement des Muts kommt insofern in Corona-Zeiten sicher an. Das galt vor allem für die zweite Phase, der Lockerung von Einschränkungen. Hier schien ein Kipp-Punkt erreicht zu sein, als die Ungeduld bröckelte. Der freiwillige Verzicht auf Freiheiten – anders als in Nachbarländern mit Ausgangssperren – bedurfte im Momentum des Exit-Horizonts noch intensiverer Begründungen als die Einschränkungen der Freiheit zu Beginn der Pandemie.
Wähler belohnen Optimismus. Wahlen sind keine Erntedankfeste, sondern transportieren konkrete Zukunftserwartungen. Sie verhelfen der Handlungszuversicht zur demokratischen Mehrheit.
Demokratien mit einem funktionierenden Parteienwettbewerb haben hier enormes Potenzial. Sie legitimieren sich durch Kommunikation. Sprache als Medium kann Macht legitimieren. Das kann prinzipiell auch eine Opposition, wenn sie die Stunde der Legislative nutzt. Sollten die Parteien nicht vielstimmig mit erkennbarer Parteiendifferenz der vitale Debattentreiber sein? Da ein evidenzbasierter informierter Einstieg in die Alltagsnormalität nicht als Masterplan vorlag, bedurfte es einer intensiven Debatte mit vielen Begründungen und Erklärungen, wie eine Rücknahme der Einschränkungen vorstellbar sein sollte. Die Maßnahmen sind die eine Seite, die Begründungen entlang von wertorientierten Parteitraditionen die andere Seite. Jeder konnte andere Expertisen für sich zu Recht in Anspruch nehmen. Die Begründungen und die Erzählungen sind wichtig, an denen wir uns als Bürger*innen orientieren können.
Doch der Vorzug der Demokratie besteht im Wettbewerb der Ideen und der Rückbindung der Politik an Interessenlagen der Bürger*innen, der besonders vor und bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Diesen Vorsprung gilt es, im Wettbewerb begründeter Exit-Strategien und dem Corona-Alltag entlang der Traditionslinien der Parteien zu nutzen. So könnten Parlamente wieder debattieren und nicht nur Notgesetze auf dem Vorordnungsweg legitimieren. Krisengewinner ist bislang der Staat. Krisenprofiteure sind in den Krisenmomenten des Entscheidens die Gesichter der Macht: Kanzlerin, Ministerpräsident*innen und die Minister*innen von Bund und Ländern stehen als Frontfiguren im Test des Krisenmodus. Ein Gefühlsmanagement des Muts kommt insofern in Corona-Zeiten sicher an.
Mit epochaler Drastik bahnte sich ein Virus den Weg in alle Gesellschaften der Welt. Die Herausforderungen für die Politik waren ohne historisches Vorbild. Das deutsche politische System hat mit robuster Funktionsfähigkeit und einer besonderen Gouvernementalität darauf weitgehend professionell reagiert. Als zentrales Element dieser Resilienz erweist sich einmal mehr die Kombination aus Politikmanagement und Verwaltungsaufbau: „Die Dualität von struktureller Fragmentierung im Organisatorischen und Vereinheitlichung über Rechtsetzung und weitere Mechanismen der Reintegration ist ihr wesentlicher Kern.“ (Seibel 2017, S. 173) Träger dieses deutschen Sonderwegs sind vor allem die drei gebietskörperschaftlichen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden. Die robuste Funktionsfähigkeit dieses verwaltungstechnischen Politikmanagements lebt auch von der Parteiendemokratie, welche mit Mandatsträgern und parteipolitischem Personal die Schnittstellen im Krisenmanagement besetzte.
Die Parteien müssen mit dem Virus weiter rechnen. Die politische Corona-Gesellschaft verfügt idealerweise über kollektive Erfahrungen, die Pandemie als externen Schock eingehegt zu haben. Das sind nicht zu unterschätzende Identitäts-Angebote, die Zuversicht enthalten. Im „Rausch des Positiven“ (M. Horx) leben die Bundesbürger*innen nunmehr mit dem Gefühl der geglückten Angstüberwindung. Konstant hoch bewerten sie ihre eigene Lebenszufriedenheit und Wirtschaftslage viel positiver als die allgemeine Lage. Die Bewältigung stärkt nicht nur das Gemeinwohl und das republikanische Wir (vgl. Korte 2019), sondern die Corona-Erfahrungen machen auch kollektiv stark: Der Staat und seine Bürger*innen sind nicht ihren Ängsten erlegen. Das unterfüttert die politische Mitte. Das stärkt politische Widerstandskräfte gegen Extremismus. Daraus kann nicht nur eine generationsspezifische Corona-Kohorte werden, sondern auch eine Corona-Solidargemeinschaft. Die Bürger*innen haben erfahren, dass sich unser politisches System handlungsfähig und widerstandsfähig zeigt. Das schließt den Protest an den Maßnahmen – aus rationalen oder irrationalen Gründen – nicht aus, aber daran lässt sich aus dem Blickwinkel der Parteien und der Parteiendemokratie perspektivisch anknüpfen. Denn aus wieder neu gewachsener Responsivität und erkennbarem Vertrauen kann auch ein Steuerungsoptimismus für die Politik erwachsen. Politische Führung wird keinesfalls per se einfacher, aber die zu Führenden sind vermutlich weniger skeptisch als in Prä-Corona-Zeiten. Die Corona-Politik hat das Reservoir an Vertrauen als Handlungskredit der politischen Elite wieder aufgefüllt. Vom Vertrauen in Politiker*innen kann auch ein Transfer auf Systemvertrauen erfolgen. Denn Vertrauen führt.
Demokratische Resilienz stärken
Trotz der Krisenstabilisierung des Gemeinwesens erkennen wir gerade jetzt, wie reparaturbedürftig unsere Gesellschaft ist. Im wörtlichen Sinne ist das beispielsweise bei den Bildungseinrichtungen und Schulen als sichtbarer Investitionsstau zu erkennen. Das Kaputte und Defekte der Prä-Corona-Zeit zeigt sich in der Post-Corona-Zeit noch aufdringlicher. Corona-Zeiten sind damit auch aufklärerische Zeiten, die vieles offenlegen, was jetzt mit entschleunigten Bewegungsabläufen klarer zu sehen ist. Sicherheitskonservative Muster des Bewahrens bleiben. Die Beispiele zeigen, dass durch die radikale Intervention und den Lockdown kein umfassender rapider Politikwechsel zu beobachten war, der auch nachhaltig Gesellschaft und Politik verändert. Die Corona-Gesellschaft ist nicht besser als die Gesellschaft vor Corona, sie ist lediglich anders. Keine völlig neue Realität; kein Danach, was sich wie ein Davor anfühlen wird; kein Parteienmarkt mit neuem Parteiangebot, aber akzentuierte Neuausrichtungen der einzelnen Programmatiken.
Ob das Primat der Politik und die Renaissance einer Staatsbedürftigkeit anhalten, wird davon abhängen, wie es die Politik schafft, die Schlüsselkategorie Vertrauen zu stabilisieren. Nur über begründete Kommunikation kann die notwendige Mitwirkung der Bürger*innen erreicht werden. Die Konturen des Neuen in einer „Coronakratie“ (Florack/Korte/Schwanholz 2021) könnten darin bestehen, dass – anders als bei der Flüchtlingskrise – die Spitzenpolitiker*innen und Parteien offensiver und transparenter für Verständnis werben. Das Lockern und Wiederhochfahren ist in der zweiten Phase sicher schwieriger als das Runterfahren in der ersten. Unter den Bedingungen von Unsicherheit, Nichtwissen und vielfach auch Unwissen fallen weiterhin Entscheidungen. Die Politiker*innen zeigen sich lernend und unentschlossener. Unsicherheiten artikulieren sie, Kehrtwendungen könnten möglich werden. Traditionell galt dies als Schwäche von Politik. Mit Corona-Kreativität könnte es jetzt als Stärke interpretiert werden. Die Akteure der Un-Wahrheitsmärkte werden sich allerdings auch davon nicht abhalten lassen, das System insgesamt infrage zu stellen.
Ins Zentrum rücken beim Primat der Politik auch Fragen der Verhältnismäßigkeit, vor allem in der Konsequenz des Grundrechtestaats. Wie stärken wir den Geltungscharakter von Grundrechten, über die wir als Bürger*innen alle konstitutiv und immerwährend verfügen? Abweichend von anderen Krisen sind in der Corona-Gesellschaft zunächst alle Bürger*innen betroffen. Die Wertschätzung der Freiheit kann sich neu ausbalancieren. Viele spürten erstmals in der Konsequenz des Runterfahrens wie wertvoll es ist, über das eigene Leben selbst bestimmen zu können. Das sind wichtige Erfahrungen und Diskussionen, die eine Post-Corona-Zeit begleiten können, um demokratische Resilienz zu stärken. Andererseits bleibt die erzwungene soziale Distanzierung heimtückisch. Denn ab wann setzt Gewöhnung und Umdeutung ein? Wann avanciert eine Einschränkung zum Ideal? Wer sich dem Erzwungenen bereitwillig hingibt, dem kann man vermutlich auch noch mehr an Freiheiten nehmen.
Für das Superwahljahr 2021 stellen sich naheliegende Mobilisierungsherausforderungen. Rückblickend werden sich Wähler*innen fragen, warum die Politik nicht ausreichend für den Pandemie-Fall vorbereitet war. Können Schuldige ausfindig gemacht werden? Doch das ist eher rückwärtsgerichtet. Zukunftsmobilisierend spielen Themen eine Rolle, die strategisch die öffentliche Vorsorge ins Zentrum rücken. Kluge Strategen stärken alles, was zum Vorsorgestaat gehören sollte. Was soll über eine agile und kritische Infrastruktur hinaus an Daseinsvorsorge im existentiellen Bereich erhalten bzw. aufgebaut werden? Wer sich dabei besonders um politische Verlassenheit im ländlichen Raum kümmert, wird auf Resonanz stoßen und Vorsorge gegen politischen Extremismus betreiben. Es wird derjenige belohnt werden, der diese Fragen ins Zentrum rückt – im Lichte der großen Themen Sicherheit und Identität. Wähler*innen bewerten die Anmutung für Kompetenz in bestimmten inhaltlichen Feldern der Politik. Danach entscheiden sie sich für eine konkrete Partei, die dieser Anmutung an Kompetenz im Auge des Betrachters nahekommt.
Die entscheidende Frage wird sein: Welche Partei bietet am meisten sichernde Zukunft an? Krisengewinner können Möglichkeitsmacher sein mit konkreter Zuversicht. Es geht um die Mobilisierung von Identitäten. Politische Führung mit Zuversicht wird belohnt. Sie erkennt man auch daran, dass sie etwas für möglich hält, was man gerne auch selber mitgestalten möchte. Entschlossene Krisenlotsen sind immer auch Hermeneuten der Wut, gerade in Zeiten, in denen Wutvorräte auf den Straßen und in den sozialen Medien offensiv abgebaut werden. Politiker*innen, die übersetzen, moderieren und Zukunft erzählen, profitieren. Die Siegerthemen im Umfeld von Sicherheit und Identität bilden sich jetzt heraus: Wer baut den Vorsorgestaat aus? Wie kann Politik wieder zum Mit-Produzenten von umfassender Sicherheit werden? Wer schafft glaubhaft moderne Daseinsvorsorge als strategische Sicherheit? Und: Wenn wir retten, welche Richtung geben wir der Rettung?
Erneut zeigt sich in der Corona-Politik die Wandlungs- und Lernfähigkeit von Parteien. Sie transportieren Ängste der Bürger*innen ebenso wie Auswege in eine neue Normalität. Die politische Mitte sortiert sich wieder anders als in Zeiten der intensiven Klimadebatten. Die Krisen-Rhetorik über die Parteiendemokratie hat, wie die vorgestellten Beispiele und Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, wenig Substanz. Die Parteien bleiben ein Abbild von uns selbst. Sie sind vital am Wählermarkt. Sie generieren nicht nur neue Themen, sondern auch neue Mitglieder, wie es besonders bei den Grünen der Fall ist. Schließlich zeigen sie sich reformbereit, wenn es darum geht, digitale und analoge Formate der innerparteilichen Willensbildung zu verzahnen. Sie sind in Bewegung.
Zum Autor
krkorte@uni-due.de