Außerschulische Bildung 4/2022

Das nationale Gedächtnis im Wandel

Fragen an die deutsche Erinnerungskultur und ihre Zukunft

Wir befinden uns an einer Schwelle, an der sich unsere Gesellschaft spürbar verändert. Auch erinnerungspolitisch ist einiges im Umbruch. Wir sehen dem Ende jener Zeitzeugen entgegen, die die Erfahrung des Holocaust noch persönlich verkörpern, wir erleben einen technologischen Wandel mit einer digitalen Wende, es gibt politische Veränderungen durch Putins Krieg gegen die Ukraine, aber auch zunehmenden Nationalismus samt Antisemitismus und Rassismus in Europa. Obendrein entsteht eine neue Verbindung von Einheimischen und Zugewanderten in der deutschen Einwanderergesellschaft. In diesem Transformationsprozess spielen Fragen der Erinnerungskultur eine wichtige Rolle. In diesem Beitrag kommen Themenfelder zur Sprache, die vielleicht helfen können, Fragen und Herausforderungen der aktuellen Transformation klarer zu benennen. von Aleida Assmann

Die Gegenwart als eine historische Schwelle

Anlässlich des Todes einer Tante wird der Ich-Erzählerin in Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“ plötzlich bewusst, dass sie an eine zeitliche Schwelle gestoßen ist, an der sich ihr eigenes Leben ganz neu sortiert. Das plötzliche Verstummen eines Familienmitglieds macht ihr klar, dass sie an einem Abgrund des Vergessens steht. Jetzt kommt der entscheidende Satz: „Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen.“ (Petrowskaja 2014, S. 30) Für die deutsche Gesellschaft hat der Historiker Norbert Frei diese Einsicht bereits 2004 ausgesprochen: „Die Zukunft der Vergangenheit hat begonnen, und sie wird eine Gegenwart sein, in der uns nicht mehr die Überlebenden zu unserem Geschichtsbewusstsein verhelfen. Wir werden uns selber helfen müssen.“ (Frei 2004)

Die Überlebenden des Holocaust hatten besonders in drei Bereichen eine wichtige Rolle gespielt: in den Schulen und in der Bildungsarbeit, in den Gedenkstätten und in Gedenkveranstaltungen. Die Präsenz dieser authentischen und unverwechselbar individuellen Stimmen wird uns in sehr absehbarer Zeit in diesen öffentlichen Kontexten sehr fehlen, denn mit ihnen verschwindet unwiederbringlich das Moment der verkörperten Erfahrung und Emotion durch die konkrete biographische Innensicht auf die Erschütterung des historischen Traumas des Holocaust.