Fragen an die deutsche Erinnerungskultur und ihre Zukunft
Die Gegenwart als eine historische Schwelle
Anlässlich des Todes einer Tante wird der Ich-Erzählerin in Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“ plötzlich bewusst, dass sie an eine zeitliche Schwelle gestoßen ist, an der sich ihr eigenes Leben ganz neu sortiert. Das plötzliche Verstummen eines Familienmitglieds macht ihr klar, dass sie an einem Abgrund des Vergessens steht. Jetzt kommt der entscheidende Satz: „Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen.“ (Petrowskaja 2014, S. 30) Für die deutsche Gesellschaft hat der Historiker Norbert Frei diese Einsicht bereits 2004 ausgesprochen: „Die Zukunft der Vergangenheit hat begonnen, und sie wird eine Gegenwart sein, in der uns nicht mehr die Überlebenden zu unserem Geschichtsbewusstsein verhelfen. Wir werden uns selber helfen müssen.“ (Frei 2004)
Die Überlebenden des Holocaust hatten besonders in drei Bereichen eine wichtige Rolle gespielt: in den Schulen und in der Bildungsarbeit, in den Gedenkstätten und in Gedenkveranstaltungen. Die Präsenz dieser authentischen und unverwechselbar individuellen Stimmen wird uns in sehr absehbarer Zeit in diesen öffentlichen Kontexten sehr fehlen, denn mit ihnen verschwindet unwiederbringlich das Moment der verkörperten Erfahrung und Emotion durch die konkrete biographische Innensicht auf die Erschütterung des historischen Traumas des Holocaust.
Die Verlängerung der Erinnerung durch technische Innovationen
Auf dieses herannahende Ende hat man sich technisch aber schon lange vorbereitet. Seit den 1990er Jahren, dem Jahrzehnt, das Annette Wieviorka „das Jahrzehnt der Zeitzeugen“ genannt hat, wurden in den USA und an anderen Orten der Welt die Stimmen, Gesichter und Geschichten von Überlebenden des Holocaust eingesammelt. Steven Spielberg, der 1995 die Shoah Foundation gründete und solche Zeugnisse in großer Zahl produzierte, berichtete stolz: „Wir haben mehr als 50.000 Zeitzeugenberichte in 31 Sprachen aus 57 Ländern gesammelt. Das ergibt 14 Jahre Spielzeit, genug Videobänder, um den Erdball damit zu umwickeln.” (Steven Spielberg, zit. n. Lappin 2000, S. 5) Die VHS-Kassetten, die diese Zeugnisse für die Nachwelt sichern sollten, waren jedoch bald antiquiert und müssen nun Band für Band aufwendig digitalisiert werden. Die technische Innovation ist das eine Problem. Das andere ist, dass noch nicht klar ist, wie dieser riesige Bestand in den Gebrauch und in die Kommunikation zurückgebracht werden kann. Denn Informationen, die in einem Archiv vorhanden sind, sind damit noch nicht unbedingt auch zur Hand.

In der Shoah Foundation an der Universität von Südkalifornien setzt man inzwischen auf eine neue Technik. Dort wird seit 2012 an einem neuen Speicherformat gearbeitet, das eine dauerhafte Interaktion mit Zeitzeugen im Klassenzimmer ermöglichen soll. Karen Jungblut, die dieses Projekt seit Jahren betreut, und Sanna Stegmeier, die die deutsche Fassung des digitalen Zeugnisses mit einer wissenschaftlichen Studie begleitet, boten mir eine digitale Probevorführung mit der digitalen Erscheinung von Anita Lasker-Wallfisch auf einer Online-Plattform an. Nach einigen englischsprachigen Vorgängern ist sie die erste Holocaustzeugin, die ihre Interviews in deutscher Sprache aufgenommen hat. Manche sehen hier ein ethisches Problem; sie finden das technische Surrogat für den lebendigen Menschen geisterhaft und geschmacklos. Ich muss jedoch sagen, dass ich sehr beeindruckt war von dieser enormen Leistung der Kooperation zwischen der 95-jährigen Überlebenden und dem technischen Team in Berlin. Das bewegte Bild von Frau Lasker-Wallfisch, das ich vor mir auf dem Bildschirm hatte, hat meine durchaus unüblichen Fragen mit einer erstaunlichen Ausführlichkeit und persönlichen Prägnanz beantwortet – sowohl was Stimme, Physiognomie und Ausdruck anging. Mit anderen Worten: Ich war sehr beeindruckt sowohl von der technischen Leistung des Teams, als auch von den Worten, die durch diese Installation hindurchdrangen. Ich kann mir deshalb vorstellen, dass dieser aufwendige interaktive Informationsspeicher auch auf Schüler*innen seine Wirkung nicht verfehlen wird.
Um jüngere Menschen zu erreichen, setzt man inzwischen verstärkt auf neue und andere Medien wie Computerspiele, wie z. B. „In the darkest of Times“, aber auch auf graphic novels und Instagram-Stories wie die Serie „Ich bin Sophie Scholl“, die seit dem 4. Mai 2021 zehn Monate täglich eine Botschaft der dargestellten Sophie Scholl postet und damit nicht nur hunderttausende von Followern erreicht, sondern auch interaktive Kommentare auslöst.
Die Stimmen der dritten Generation
Es gibt aber nicht nur einen abrupten Bruch von der Erfahrungsgeneration der Zeitzeugen des Holocaust, es gibt auch einen Übergang zu nachwachsenden Generationen. Das wurde 2021 besonders markiert, als Charlotte Knobloch zusammen mit Marina Weisband im Deutschen Bundestag die Gedenkrede zum 27. Januar hielt. Marina Weisband ist 1986 in Kiew geboren, unweit von Tschernobyl und kurz nach dem Atom-Unfall. 1994 zogen ihre Eltern als Kontingentflüchtlinge nach Wuppertal um. Seit ihrem 8. Lebensjahr lebt die Politikerin und Psychologin in Deutschland. Sie stellt fest, dass jüdisches Leben in Deutschland reglementiert ist, nicht nur durch die nötigen Sicherheitsverordnungen. Es tritt in orthodoxer Kleidung auf, ist auf bestimmte Räume begrenzt und auf feste Gedenktermine eingeschränkt. Ein unbefangenes jüdisches Leben, so ihre Erfahrung, kann als Normalität in Deutschland nicht gelebt werden. Das hat sie nämlich selbst ausprobiert – und ist sofort gescheitert. Sie wollte für informelle Treffen und Begegnungen einen jüdischen Stammtisch in der Stadt gründen, um sich über alltägliche Dinge auszutauschen und dafür in einer öffentlichen Anzeige werben. Diese Initiative wurde von den Sicherheitsbehörden sofort untersagt, in der Sorge, dass diese Aufforderung an die falschen Adressaten gelangen könne. Sie selbst hat als öffentliche Person seit längerem Erfahrungen mit antisemitischen Hassbotschaften gemacht. „Ich habe Angst!“ sagt sie. Aber dennoch möchte sie dieses Land nicht verlassen. „Ich bleibe und kämpfe dafür, dass ich hier angstfrei leben kann.“
Für mich ist das entscheidende Merkmal der deutschen Erinnerungskultur, dass sie überall vor Ort durch ehrenamtliche Initiativen getragen wird.
Gleichzeitig wurde bei der Gedenkfeier eine Torarolle fertiggestellt und damit das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland eingeleitet. Damit sollte der Fokus erweitert werden über den Zivilisationsbruch des Holocaust hinaus auf die lange Geschichte des zwar immer wieder gefährdeten und verfolgten, aber doch auch langen Zusammenlebens in Städten und Gemeinden. Diese reichhaltige Kulturgeschichte hat überall ihre materiellen Spuren hinterlassen. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe für Stadtarchivar*innen, gemeinsam mit jüdischen Historikern und Vertretern der jüdischen Gemeinde Informationen aus den Urkunden und Dokumenten der Stadtgeschichte wieder auszugraben, als eine gemeinsame Geschichte zu erzählen und im Bewusstsein der Gemeinden zu verankern. Der Historiker Peter Longerich macht hier auf ein Problem aufmerksam, dem man größere Aufmerksamkeit widmen sollte: In Schulbüchern wird der Themenkomplex Jüdisches Leben im Mittelalter meist als eine Konfliktgeschichte dargestellt. Das befördert trotz gutgemeinter Lernziele oft feste Stereotypen (Beispiel: Juden als Geldwechsler und nicht als Ärzte und Rabbis) und lässt den diffusen Eindruck entstehen, Juden seien „eine Minderheit, die irgendwie anders sei und immer wieder Ärger mache.“ (Longerich 2021)
Ich möchte hier noch auf einen weiteren Generationswechsel hinweisen, auf den wir uns gerade vorbereiten. Ich denke dabei an die 68er Generation, die in Westdeutschland der Träger dessen ist, was wir die deutsche Erinnerungskultur nennen. In diesem Land gingen die erinnerungspolitischen Impulse nämlich nicht wie in der DDR von oben, sondern von unten aus. Für mich ist das entscheidende Merkmal der deutschen Erinnerungskultur, dass sie überall vor Ort durch ehrenamtliche Initiativen getragen wird. Ohne sie wären auch die Stolpersteine vor der Haustür nicht möglich. Anders als in anderen Ländern Europas sind in Deutschland die Städte ihr eigentlicher Austragungsort. Hier bilden sich Kreise um Geschichtswerkstätten und Spurensuche, hier werden auch die Schulen mit einbezogen, und immer geht es dabei um die eigene Geschichte vor Ort, die es freizulegen und zu bergen gilt. Allerdings weiß in Deutschland keine Stadt, was in diesem Punkt in der anderen geschieht. Dafür gibt es nämlich keine übergreifende Berichterstattung.
Ein Beispiel ist das Blaue Haus in Breisach, einem ehemaligen jüdischen Gemeindezentrum, das die Stadt zurückgekauft hat, und wo seit 30 Jahren von einer aktiven Gruppe die Erinnerung an eine der ältesten jüdischen Gemeinden in Deutschland und an die Opfer der Deportation nach Gürs wachgehalten wird. Breisach ist obendrein Partnerstadt der polnischen Stadt Oświęcim, mit der ein reger europäischer Austausch, gerade auch über die Schulen, gepflegt wird. An Orten wie diesem stellt sich gerade die Frage: Wer wird von der jüngeren Generation den Staffelstab der Erinnerung übernehmen und die Erinnerung an diesen Orten aufrechterhalten?
Wer wird von der jüngeren Generation den Staffelstab der Erinnerung übernehmen und die Erinnerung an diesen Orten aufrechterhalten?
Obwohl der zeitliche Abstand wächst, gibt es derzeit noch keine Anzeichen dafür, dass das Interesse am Thema Holocaust mit dem zeitlichen Abstand abflaut. Im Gegenteil gibt es Beispiele dafür, dass die Auseinandersetzung in der 3. Nachkriegsgeneration noch einmal sehr persönlich und grundsätzlich ist. Gerade in Familien, in denen die Elterngeneration sich diesen Fragen entzogen hat, stellen die Enkelkinder plötzlich engere Beziehungen zu den Großeltern her. Das gilt nicht nur für die 3. Generation in jüdischen Familien wie der von Katja Petrowskaja, sondern auch für die 3. Generation in deutschen Familien, die sich mit Fragen historischer Schuld und der aktiven Beteiligung ihrer Familienmitglieder am Nationalsozialismus auseinandersetzen. Gegenüber vagen Begriffen wie Verstrickung bevorzugen sie eine deutliche Sprache und arbeiten die Familiengeschichte aus Hinterlassenschaften und Archiven auf. Beispiele sind der Historiker Moritz Pfeiffer, der Schriftsteller Hermann Kinder, der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss und die Journalistinnen Alexandra Senfft, Cristina Nord und Geraldine Schwarz. Von ihnen kommen auch neue Anstöße einer bild-künstlerischer Auseinandersetzung mit der Tätergeschichte wie Sebastian Heinzels Film „Der Krieg in mir“ oder Nora Krugs Buch „Heimat. Ein deutsches Familienalbum“ (2018).
Und auch das Internet erweist sich als neues niedrigschwelliges Erinnerungsmedium mit großen Diskussionspotenzial. Ein Anstoß ist zum Beispiel der Hashtag #meinnazihintergrund, der in der 3. und 4. Generation eine Serie von Reflexionen über die nicht-bewusste Familien-Kontinuität mit dem NS-Erbe in Form von materiellem Besitz durch Arisierung und vererbten Reichtum angestoßen hat. Wichtig ist hier die Einsicht, dass „Hintergrund“ etwas ist, das nicht nur die Migrant*innen mitbringen und sie zu einer Minderheit macht, sondern auch die ethnischen Deutschen als Vertreter*innen der ansonsten nicht markierten Mehrheitsgesellschaft einbringen.
Erinnerungskultur – Selbstkritik oder Delegitimierung?
Es gibt nicht nur Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur, sondern auch Anerkennung. Ein prominentes Beispiel ist Susan Neimans Buch „Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil“ (2019) über den Zusammenhang von Geschichtsvergessenheit und anhaltender Gewaltgeschichte in den amerikanischen Südstaaten. Vor dem Hintergrund der Polarisierung und dem Rassismus in den Vereinigten Staaten empfiehlt die aus den Südstaaten stammende jüdische Philosophin der USA den Import einer Erinnerungskultur, die in der Lage ist, die Wende von einer Opfererinnerung zu einer Tätererinnerung einzuleiten. Das krasseste Symbol rassistisch motivierter Gewalt sind die Statuen der Generäle, die im Amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Südstaaten kämpften und diesen Krieg verloren. Die Denkmäler entstanden meist erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, um die Niederlage umzudeuten und als den heroischen Feldzug für eine verlorene Sache bzw. „Lost Cause“ zu verherrlichen. Sie erkennen das historische Resultat des Bürgerkriegs, die Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung, nicht an, sondern mobilisieren weiter Rassismus und Gewalt gegen diese Mitbürger*innen, denen sie ihre Bürgerrechte absprechen.
Ein weiterer Indikator für eine internationale Akzeptanz der deutschen Erinnerungskultur ist für mich die Verbreitung von Gunter Demnigs Stolpersteinen. Allein im Jahr 2019 hat der Künstler mehr als 80.000 Stolpersteine in ganz Europa verlegt. Diese andere Form der Geschichtsstunde findet vor der Haustür von Menschen statt, die von der NS-Regierung verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Diese Aktion nähert sich dem 100.000 Stolperstein und hat sich längst in über 20 europäischen Ländern ausgebreitet. Das Entscheidende an diesem Denkmal ist, dass es nicht ohne zivilgesellschaftliche Unterstützung und weit gespannte Recherchen auskommt. Es muss überall Menschen geben, die die Geschichte der Opfer vor Ort rekonstruieren und dabei auch den Kontakt mit Überlebenden herstellen. Auf diese Weise wird die abstrakte Geschichte des Holocaust konkret; Handlungsketten und Verantwortlichkeiten werden wieder sichtbar.

Auch in Russland gibt es einen Ableger der Stolpersteine für die Opfer von Stalins Gulag. Die Aktion heißt „Die letzte Adresse“ und markiert – nicht im öffentlichen Raum, dafür gibt es in Russland keine Lizenz – aber an der Hauswand auf einer Metalltafel Name und Schicksal der Deportierten. Während Intellektuelle in vielen Ländern, in denen es keinerlei Auseinandersetzung mit den eigenen Verbrechen gibt wie in Russland, der Türkei oder Spanien, die deutsche Erinnerungskultur als „German model“ schätzen, wächst in Deutschland die Zahl derer, die ihr Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur artikulieren. Neben der Abwehr durch rechte Parteien sind inzwischen auch Stimmen aus dem linken politischen Spektrum, sowie jüdische Stimmen der dritten Nachkriegsgeneration hinzugekommen.
Jüdisches Unbehagen
Zur 3. Generation jüdischer Deutscher gehört zum Beispiel der Schriftsteller Max Czollek, der 2018 das Buch „Desintegriert euch!“ veröffentlich hat. Inzwischen hat er eine weitere Streitschrift mit dem Titel „Gegenwartsbewältigung“ (2020) vorgelegt. Von der deutschen Gedenkkultur, die er als ein „Gedächtnistheater“ beschreibt, das vorwiegend „der Wiedergutwerdung der Deutschen“ gelte und ihrer „nationalen Selbstaufwertung“ diene, hält er wenig. Er kritisiert, dass dies zulasten jüdischer und migrantischer Minderheiten gehe, die als Statisten gebraucht und politisch instrumentalisiert werden. Er wendet sich auch scharf gegen die vordergründige Entlastungsstrategie von deutschen Politikern wie Philip Amthor, den eigenen Antisemitismus auf die Migranten zu verschieben, indem sie vier Monate nach dem Angriff auf Halle verkünden, dass Antisemitismus „vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten“ sei. Durch verschobenen Antisemitismus und offene Islamfeindlichkeit werde vom Rechtsradikalismus abgelenkt und die beiden am meisten gefährdeten Minderheiten gegeneinander ausgespielt. Ein weiterer Vorwurf gegen die deutsche Erinnerungskultur stammt von dem Historiker Samuel Salzborn: Das ritualisierte öffentliche Eingeständnis deutscher Schuld leiste der Verdrängung biographischer Bezüge Vorschub und führe zu einer „Behauptung individueller und familiärer Unschuld“. Die Erinnerungskultur hat in seinen Augen vor allem eines bewirkt: „die größte Lebenslüge der Bundesrepublik, den Glauben an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit“. Eine (selbst-)kritische Aufarbeitung der Vergangenheit habe auch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus auf gesellschaftlicher Ebene kaum stattgefunden: Mit der Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern manifestiere sich vielmehr ein Selbstbild, das um den nationalen Mythos kollektiver Unschuld kreist.
Erinnern in der Einwanderungsgesellschaft
Mit Blick auf die Erinnerung in der Einwanderungsgesellschaft wird die Frage diskutiert, ob und wie Migrant*innen überhaupt einen Zugang zu dieser Geschichte finden können. Dazu ist mehreres zu sagen. Zum einen ist mit wachsendem zeitlichen Abstand die Bindung der nachwachsenden Generationen zu diesem Ereignis lockerer geworden. In diesem Punkt gleichen sich die alten und neuen Deutschen immer mehr aneinander an: Alle müssen diese Geschichte neu lernen. Vielleicht war es das, was Heiko Maas gemeint hat, als er 2019 bei den Feierlichkeiten zum 27. Januar sagte: „Wer heute geboren ist, für den ist etwa die Pogromnacht zeitlich genauso weit entfernt wie bei meiner Geburt ein Reichskanzler Bismarck. Unsere Geschichte muss von einem Erinnerungsprojekt noch stärker zu einem Erkenntnisprojekt werden.“
Eine andere Antwort auf die Frage der Einbindung der Migranten in die deutsche Erinnerungskultur hat der KZ-Überlebende Max Mannheimer gegeben. Was er den Schüler*innen in den Schulen mit auf den Weg gab, gilt heute mehr denn je für alle neu zusammengesetzten Klassen: „Ihr seid nicht schuldig für das, was in der Geschichte geschehen ist, aber ihr tragt eine Verantwortung dafür, dass es sich in diesem Land nicht wiederholt!“ Hier ist der Wechsel der Begriffe entscheidend. Schuld kann immer nur individuell zugeschrieben werden. Verantwortung dagegen kann von allen wahrgenommen werden, wie immer sie sich in der Geschichte positionieren. Alt- ebenso wie Neubürger erben in diesem Land die Geschichten, die überall in der gemeinsamen Umwelt in Spuren, Denkmälern und Gedenkstätten präsent sind. Den Zugang dazu offen und die Erinnerung lebendig zu halten, ist ein Kernthema der politischen Bildung für alle.
Schuld kann immer nur individuell zugeschrieben werden. Verantwortung dagegen kann von allen wahrgenommen werden, wie immer sie sich in der Geschichte positionieren. Alt- ebenso wie Neubürger erben in diesem Land die Geschichten, die überall in der gemeinsamen Umwelt in Spuren, Denkmälern und Gedenkstätten präsent sind. Den Zugang dazu offen und die Erinnerung lebendig zu halten, ist ein Kernthema der politischen Bildung für alle.
Die Nationalisten dagegen sehen in der Übernahme einer negativen Erinnerung eine schwere Verletzung des kollektiven Selbstbildes, genauer: der Ehre der Nation, die sie unbedingt rein erhalten wollen. Deshalb sprechen sie ständig von „Schuldkult“ und „Sündenstolz“. Weit mehr als das von den Deutschen in der Geschichte verursachte millionenfache Verbrechen des Holocaust interessiert sie dabei die Pflege ihres positiven Images. Dabei merken sie nicht, dass sich die Zeiten und Werte gewandelt haben. Vergessen und Verleugnen sind schon lange nicht mehr der Königsweg der Geschichtspolitik. Im Gegenteil, der deutsche Weg der Selbstkritik in der Erinnerungskultur wird, wie wir gesehen haben, inzwischen auch in anderen Nationen diskutiert. Schuld und Verbrechen sind und bleiben absolut negativ besetzte Begriffe. Dass man aber endlich über das redet, was die anderen verschwiegen und verborgen haben, ist keineswegs negativ. Denn nicht die Nation ist heilig, sondern die Würde des Menschen.
Wir erleben gerade den Umbau des nationalen Wir in der Migrationsgesellschaft. Auch hier stellen sich weitere Fragen. Wer erzählt die Geschichte der Nation? Wer gehört dazu und kommt darin vor? Wer wird ausgeschlossen? Wird der Holocaust als Anker der deutschen Erinnerung eine innerdeutsche Angelegenheit bleiben oder wird er auch für die Hinzugekommenen verbindlich sein? Welche Rolle werden die Erinnerungen spielen, die die Migrant*innen mitbringen? Und welche Rolle werden die Erfahrungen spielen, die sie in diesem Land gemacht haben, positive ebenso wie negative und traumatische? Werden sie mit ihren Erinnerungen ihren Platz in der deutschen Gesellschaft finden? Ihre und andere positive Erinnerungen hat Düzen Tekkal in ihrem Projekt #German Dream zusammengestellt. Diese Erinnerungen sind bedeutsam, weil sie über Verbitterung und Alltagsfrust hinweg auch das Ankommen und Einleben bezeugen und für andere nachvollziehbar machen. Nicht weniger wichtig sind aber auch die negativen und traumatischen Erfahrungen, die die Migrant*innen in diesem Lande machten, und mit denen sie bisher weitgehend alleingelassen wurden. Ich zitiere İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992: „Das migrantisch situierte Wissen wurde seit Jahrzehnten nicht beachtet, obwohl es immer wieder eine Expertise zu Rassismus war und ist. Nun hat dieses Wissen ein Museum.“
Deshalb können die Gesten der Erinnerung nicht auf das historische Verbrechen des Holocaust beschränkt bleiben, sondern sollten um ein öffentliches Gedenken an die fortgesetzten Akte der Gewalt ergänzt werden.
Die Morde des NSU sind Teil der deutschen Erinnerungsgeschichte geworden, die wir mit den Migrant*innen teilen. Wie die von den Tätern benutzten Abkürzungen zu ihrer Selbstbezeichnung, „NSU“ und „NSU2.0“ zeigen, geht hier eine Geschichte weiter, unter die noch kein wirksamer Schlussstrich gezogen wurde. Aus der Erfahrung und Sicht der jüdischen und muslimischen Migrant*innen sind Antisemitismus und Rassismus in diesem Land nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Deshalb können die Gesten der Erinnerung nicht auf das historische Verbrechen des Holocaust beschränkt bleiben, sondern sollten um ein öffentliches Gedenken an die fortgesetzten Akte der Gewalt ergänzt werden. Die Synagoge in Halle und die Stadt Hanau, wo bei einem Anschlag so viele Zuwanderer starben wie in einem Jahrzehnt des NSU-Terrors, gehören zusammen. Antisemitische und rassistische Anschläge können nicht mehr säuberlich voneinander getrennt werden. Sie erfordern eine Erweiterung der Erinnerung durch Einbeziehung aller Opfer ethnopolitischer Gewalt und eine solidarische Trauer mit ihren Angehörigen.
Die Gefahr der einzigen Geschichte und die Erweiterung von Erinnerungen
Nach 1945 gab es in Westdeutschland ununterbrochen Einwanderungswellen; in den letzten beiden Jahrzehnten sind vermehrt syrische und afrikanische Migranten dazugekommen. Auch das hat Folgen für die deutsche Erinnerungskultur. Die Migrant*innen bringen eigene Geschichtsperspektiven mit. Dafür möchte ich hier ein Bild aus der Stadt Konstanz einfügen, wo kürzlich über Nacht ein Buchstabe von einer Hauswand entwendet worden ist. Das M, das hier fehlt, ist inzwischen an einem sicheren Ort versteckt. Die betroffene Apotheke hat bei dieser Aktion ihren Namen verändert. Sie ist zur „Ohren-Apotheke“ geworden. Das ist niemandem entgangen, der hier vorbeikommt. Jede schaut anders auf dieses Bild. Als ich die Besitzerin der Apotheke nach ihrer Meinung frage, hob sie den Diebstahl und Verstoß gegen das Denkmalgesetz hervor. Der Schriftzug stamme aus dem 18. Jahrhundert. Für mich ist der zerstörte Schriftzug so etwas wie eine öffentliche Lektion, vielleicht sogar eine Geschichtsstunde. Tatsächlich hat das Wort „Mohrenapotheke“, das es überall in Deutschland gibt, inzwischen einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Man kann sich über die Geschichte dieses Namens also schnell und einfach informieren. Wir Eingesessenen haben also gerade die Chance, etwas über unsere Geschichte dazuzulernen, indem wir mit den Augen derer auf sie blicken, die nicht hier geboren sind oder deren Vorfahren eine ganz andere Herkunft haben.

Die Frage der Erweiterung unseres nationalen Gedächtnisses hat eine erhitzte Debatte in den Medien ausgelöst. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht das Buch „Multidirectional Memory“ des Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg, das 2021 ins Deutsche übersetzt wurde. 2009 auf Englisch erschienen, gilt es als ein Schlüsselwerk der internationalen Gedächtnisforschung und hat ihr ganz neue Impulse gegeben (vgl. Rothberg 2009). Das Buch hat ein festgefahrenes Denkmuster aktueller Geschichtspolitik aufgebrochen, indem es zeigte, dass Menschen und Gruppen ihre zentrale und identitätstragende Erinnerung sehr viel flexibler und produktiver mit den identitätstragenden Erinnerungen anderer Gruppen in Verbindung bringen, als man das bisher vermutet hatte. Solche kollektiv getragenen Erinnerungen sind nämlich keineswegs nur auf Wettbewerb, Überbietung und Ausschließung ausgerichtet, sondern können durchaus auch andere Erinnerungen wahrnehmen, anerkennen, und dabei von ihnen lernen und profitieren. Rothbergs Beispiele für die Praxis unerwarteter Querverbindungen widersprachen der bislang im politischen Raum üblichen Polemik, nach der eine offizielle Erinnerung andere Erinnerungen notwendig verdrängt oder auch auslöscht.
Es ist unstrittig, dass jede Gruppe aufgrund ihrer Geschichte andere identitätsbestimmende Schlüsselerinnerungen hat. Die Priorität der eigenen Orientierung muss jedoch nicht ausschließen, weitere Erinnerungen anzunehmen.
Es ist unstrittig, dass jede Gruppe aufgrund ihrer Geschichte andere identitätsbestimmende Schlüsselerinnerungen hat. Die Priorität der eigenen Orientierung muss jedoch nicht ausschließen, weitere Erinnerungen anzunehmen. Durch Migrant*innen mit unterschiedlicher Geschichtserfahrung und -prägung können sich in der deutschen Gesellschaft inzwischen unterschiedliche Schlüsselerinnerungen begegnen und gegenseitig bestätigen. Die Singularität des Holocaust bleibt dabei für Deutschland, Israel, aber auch für Europa ungebrochen und wird keineswegs dadurch in Frage gestellt, dass man inzwischen auch andere historische Wunden wie die Sklaverei oder die Kolonialgeschichte anerkennt und ihre nachhaltige Bedeutung für das Selbstverständnis der betroffenen Gruppen würdigt.
Vor der Gefahr der einzigen Geschichte hat die nigerianisch-amerikanische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie (2011) ausdrücklich gewarnt. Schon früh in ihrem Leben konnte sie feststellen, dass die Welt, wie sie ihr in Romanen und anderer Pflichtlektüre vermittelt wurde, nichts mit ihren eigenen Erfahrungen zu tun hatte. Solange das kulturelle Gedächtnis ausschließlich das speichert und wertschätzt, was nur eine Gruppe der Gesellschaft erfahren hat und versteht, wird die Erfahrungsrealität anderer Mitglieder der Gesellschaft systematisch abgewertet, ja ausgelöscht. Dasselbe passiert, wenn wir Menschen in Stereotypen und feste Muster pressen. Aber wie jeder einzelne Mensch ist auch eine Gesellschaft aus unterschiedlichen Geschichten zusammengesetzt. An Stelle einer einheitlichen Geschichte, die nur eine Gruppe stützt, könnte auch die Prämisse treten, dass es immer einer Vielzahl von Geschichten bedarf, über die sich eine multiple Gesellschaft austauscht. Statt Ausgrenzung, Festschreibungen und Asymmetrie von Machtverhältnissen kann, wie Adichie betont, die Vervielfältigung von Geschichten im Bewusstsein der Gesellschaft den Minderheiten „zur Ermächtigung, Humanisierung und Reparatur gebrochener Identitäten verhelfen“.
„Ich möchte nicht der Gefangene einer einzigen Geschichte sein.“ Dieser Satz stammt von Benjamin Stora, den Macron mit der Aufarbeitung der französischen Kolonialgeschichte beauftragt hat. Stora hat für die französische Regierung inzwischen 30 konkrete Vorschläge erarbeitet, die auch die Umgestaltung von Kolonialdenkmälern einschließt. www.france-blog.info/der-bericht-von-benjamin-stora-les-questions-memorielles-portant-sur-la-colonisation-et-la-guerre-dalgerie (Zugriff: 22.09.2022). Tatsächlich ist das Ausschließlichkeitsgebot: „Du sollst keine andere Erinnerung neben mir haben!“ hoch problematisch, weil es nur eine einzige Geschichte und damit eine exklusive Identitätspolitik forciert. Dieses Gebot verengt nämlich radikal den Zugang zu anderen Geschichten und schließt bedeutungsvolle historische Beziehungen mit den historischen Erfahrungen und Narrativen anderer Gruppen aus. Das kann dann so weit gehen, dass die Verabsolutierung der eigenen Erinnerung nicht nur zur Ausblendung anderer Erinnerungen führt, sondern auch zur Auslöschung der Erinnerungen anderer. In Nordirland steht folgender Spruch auf einer Hauswand, der die Gefahr der Politisierung von nationalen Gedächtniskonstruktionen deutlich ausspricht: „A nation that keeps one eye on the past is wise. A Nation that keeps two eyes on the past is blind.” Inschrift auf einer Wand in Belfast, Nordirland (zit. nach Gümüsay 2020, S. 15)
Schluss
Es gibt aber nicht nur Probleme mit und in der Erinnerungskultur, sondern zum Glück manchmal auch Lösungen. Ich denke hier an die salomonische Formel des Historikers Bernd Faulenbach, der in der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mitarbeitete. Damals galt es, die Singularität des Holocaust im Umgang mit den beiden deutschen Diktaturen sicherzustellen. Dieses Thema erregte die Gemüter auf beiden Seiten so stark, dass es die Arbeit in der Kommission zum Erliegen brachte. Die Formel, die schließlich die Gemüter beruhigte und die Fortsetzung der Zusammenarbeit in der Kommission ermöglichte, lautete: „Die Erinnerung an die DDR Diktatur / Kolonialgeschichte darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren. Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an die DDR Diktatur / Kolonialgeschichte nicht bagatellisieren.“
Mit einer solchen geschichtspolitischen Rahmenbedingung lässt sich ein Konsens finden, der die Priorität des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur aufrechterhält und sie gleichzeitig anschlussfähig macht für andere Erinnerungen.
Zur Autorin

aleida.assmann@uni-konstanz.de