Fragen an die deutsche Erinnerungskultur und ihre Zukunft
Die Gegenwart als eine historische Schwelle
Anlässlich des Todes einer Tante wird der Ich-Erzählerin in Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“ plötzlich bewusst, dass sie an eine zeitliche Schwelle gestoßen ist, an der sich ihr eigenes Leben ganz neu sortiert. Das plötzliche Verstummen eines Familienmitglieds macht ihr klar, dass sie an einem Abgrund des Vergessens steht. Jetzt kommt der entscheidende Satz: „Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen.“ (Petrowskaja 2014, S. 30) Für die deutsche Gesellschaft hat der Historiker Norbert Frei diese Einsicht bereits 2004 ausgesprochen: „Die Zukunft der Vergangenheit hat begonnen, und sie wird eine Gegenwart sein, in der uns nicht mehr die Überlebenden zu unserem Geschichtsbewusstsein verhelfen. Wir werden uns selber helfen müssen.“ (Frei 2004)
Die Überlebenden des Holocaust hatten besonders in drei Bereichen eine wichtige Rolle gespielt: in den Schulen und in der Bildungsarbeit, in den Gedenkstätten und in Gedenkveranstaltungen. Die Präsenz dieser authentischen und unverwechselbar individuellen Stimmen wird uns in sehr absehbarer Zeit in diesen öffentlichen Kontexten sehr fehlen, denn mit ihnen verschwindet unwiederbringlich das Moment der verkörperten Erfahrung und Emotion durch die konkrete biographische Innensicht auf die Erschütterung des historischen Traumas des Holocaust.