Außerschulische Bildung 2/2022

Demokratie als Vision

Inspirationen für eine Demokratie der Zukunft

Das Modell der repräsentativen Demokratie ist in der Krise. Die Bürger*innen sind zunehmend unzufrieden und fühlen sich kaum mehr vertreten. Dieser Beitrag will inspirieren und ermutigen, über Demokratie neu nachzudenken. Er zeichnet beispielhaft eine Vision für eine partizipative Zukunft, die auch für die konkrete Bildungsarbeit genutzt werden kann. von Brigitte Geißel

Probleme aktueller Demokratien

Der Theorie der repräsentativen Demokratie zufolge ist die „Herrschaft des Volkes“ dann gewährleistet, wenn freie, gleiche und geheime Wahlen stattfinden. Dabei müssen mindestens zwei Parteien existieren, damit die Bürger*innen die Partei wählen können, die ihren Vorlieben und Interessen am besten entspricht. Die gewählten Vertreter*innen treffen Entscheidungen im Namen der Bürger*innen. Auch wenn die Entscheidungsfindung fest in den Händen der Politiker*innen liegt, haben die Bürger*innen die Kontrolle. Dieses Modell erscheint theoretisch einleuchtend.

Aber real existierende repräsentative Demokratien funktionieren nicht unbedingt nach dieser Logik. Und sie sind zunehmend veraltet. Das Modell der auf Wahlen beruhenden, partei-basierten, repräsentativen Demokratie wurde im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt. Es war angemessen für die damalige Struktur der meisten Gesellschaften. Diese waren entlang klar umrissener sogenannter Cleavages in Gruppen gespalten, die jeweils gemeinsame Interessen teilten, z. B. Arbeiter*innen versus Unternehmer*innen. Aus diesen Gruppen gingen Parteien hervor, die als Sprachrohr fungierten und die spezifischen und eindeutigen Interessen ihrer jeweiligen Gruppen vertraten. Beispielsweise trat die Arbeiter*innenpartei für bessere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sowie für eine arbeiterfreundliche Sozialpolitik ein; die Partei der Unternehmer*innen setzte sich für mehr Rechte von Arbeitgebern, weniger Schutz der Arbeitnehmer*innen und eine sparsame Sozialpolitik ein.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Gesellschaften sind nicht mehr entlang solch klarer Cleavages gespalten. Gesellschaften sind fragmentiert und individualisiert. Arbeiter*in zu sein bedeutet nicht mehr, einer abgegrenzten Gruppe mit gemeinsamen Interessen anzugehören. Einige Arbeiter*innen verdienen gutes Geld, andere nicht; manche Arbeiter*innen bevorzugen eine sparsame Sozialpolitik, andere wollen eine großzügige. Manche wollen mehr Geld, andere entscheiden sich für mehr Freizeit. Da Cleavages wie zu Zeiten der Parteienentstehung nicht mehr existieren, kann heute keine Partei eindeutige Gruppierungen vertreten. Die wachsende Zahl neuer Parteien, die sich oft als „Nicht-Parteien“ oder „Bewegungsparteien“ profilieren, und ihr zunehmender Erfolg beweisen das Ende des traditionellen Parteienmodells. Frankreich, Italien oder Peru sind nur einige Beispiele von Ländern, in welchen „Nicht-Parteien“ auf dem Vormarsch oder sogar in der Regierung sind. Aber auch diese neuen Parteien können nicht mehr die ursprünglichen Funktionen von Parteien als Sprachrohr gesellschaftlicher Gruppen erfüllen. Die meisten Bürger*innen fühlen sich von keiner Partei vertreten. Ein Verständnis von Demokratie als „Wahl aus konkurrierenden Parteien“ scheint ein Modell der Vergangenheit zu sein.

Foto: Andi Weiland | andiweiland.de

Wir erleben das höchste Maß an politischer Unzufriedenheit seit 1995, wie eine Studie zu über 100 Demokratien auf der ganzen Welt zeigt (vgl. Foa et al. 2020). Waren in den 1990er Jahren noch etwa zwei Drittel der Bürger*innen mit den Demokratien in ihren Ländern zufrieden, ist heute eine Mehrheit frustriert. Das Vertrauen in Politiker*innen und Parlamente schrumpfte dramatisch. Die Kluft zwischen Bürger*innen und Entscheidungsträger*innen hat sich erheblich vergrößert. Immer mehr Teile der Gesellschaft fühlen sich von demokratischen Prozessen ausgeschlossen und verabschieden sich von der Politik. Alles in allem scheint die gegenwärtige repräsentative Demokratie in Stagnation festzustecken. Das Versprechen der Demokratie als „Herrschaft des Volkes“ ging im Bermuda-Dreieck aus unzuverlässigen Politiker*innen, dysfunktionalen Institutionen und nicht-responsiven Entscheidungen verloren.

Gleichzeitig erleben wir einen Hunger nach Transformation. Die Bürger*innen wollen Demokratie. Aber sie wünschen sich eine Demokratie, die sich um ihre Bedürfnisse, Interessen und Vorlieben kümmert. Sie wollen eine Demokratie, die sich nicht auf Wahlen und Parteienwettbewerb beschränkt. Sie hoffen auf eine Demokratie, in der sie politische Entscheidungen tatsächlich beeinflussen können. Diese Sehnsüchte sind der Ausgangspunkt für ihre Suche nach neuen Visionen.

Das Versprechen der Demokratie als „Herrschaft des Volkes“ ging im Bermuda-Dreieck aus unzuverlässigen Politiker*innen, dysfunktionalen Institutionen und nicht-responsiven Entscheidungen verloren.

Um der aktuellen Krise zu begegnen, haben viele Demokratien seit den 1990er Jahren partizipative Reformen und Innovationen eingeführt. Deliberative Praktiken wie beispielsweise Bürgerräte werden zunehmend angewandt, direktdemokratische Instrumente wurden in vielen Ländern eingeführt, Verfahren wie der Bürgerhaushalt breiten sich weltweit aus. Die OECD (2020) stellte sogar eine Welle von „Innovativer Bürgerpartizipation und neuer demokratischer Institutionen“ fest, die aktuelle Demokratien erfasste.

Ich vermute, dass diese Reformen und Innovationen nicht ausreichen, um Demokratie im Sinne der „Herrschaft des Volkes“ zu verwirklichen. Politiker*innen und Expert*innen scheinen vor allem Reformen vorzuschlagen, die sie für zweckmäßig halten – ohne zu fragen, was die Bürger*innen eigentlich wollen. Beispielsweise versuchen mehrere Reformen, die Kommunikation zwischen Bürger*innen und Repräsentanten zu verbessern. Aber die Bürger*innen könnten es vorziehen, Entscheidungen selbst zu treffen, anstatt nur ihre Interaktion mit Politiker*innen zu verbessern. In der Bundesrepublik wünscht sich die Mehrheit der Bürger*innen mehr Mitsprache in Form von Volksabstimmungen auch auf nationaler Ebene, während die meisten Parteien dies nicht befürworten.

Wir brauchen neue Visionen für die Zukunft der Demokratie, die über das veraltete Modell hinausgehen. Wohin die Reise gehen soll, ist aber noch nicht klar. Wie könnten neue Visionen für Demokratie aussehen? Und wie können sie realisiert werden? Dieser Artikel will inspirieren. Er ermutigt, über Demokratie neu nachzudenken. Hierzu beschreibt er ein Beispiel für solch eine innovative Vision.

Visionen sind in der Welt der Politik bekannt. Tatsächlich begannen substanzielle politische Veränderungen immer als visionäre Ideen. Bestes Beispiel ist die Demokratie selbst, die vor 300 Jahren nicht mehr als eine Vision war. Tausende Menschen schlossen sich dem Traum an, in politische Entscheidungen einbezogen zu werden. Sie stellten sich ein System vor, in dem Bürger*innen regieren. Die Vereinigten Staaten wurden auf dem Traum von einer Form der Selbstverwaltung aufgebaut, die nirgendwo zuvor verwirklicht wurde. Doch die „Träumer“ waren davon überzeugt, dass Demokratie eine gute Sache wäre. Und sie haben gekämpft, um ihre Visionen wahr werden zu lassen.

In der aktuellen Krise der Demokratie können neue Visionen als richtungsweisende Leuchttürme dienen.

In der aktuellen Krise der Demokratie können neue Visionen als richtungsweisende Leuchttürme dienen. Die folgende Vision veranschaulicht exemplarisch, wie eine solche Vision aussehen könnte. In dieser Community haben die Bürger*innen das Konzept der repräsentativen Demokratie erweitert und vielfältige Formen der Beteiligung eingeführt.

Eine visionäre partizipative Demokratie

Glücklich darüber, als Mitglied für eine Mini-Public Mini-Public meint einen Beteiligungs- oder Bürgerrat, bei dem zufällig ausgewählte Bürger*innen über politische Themen diskutieren und Empfehlung aussprechen. Sie haben beratende Funktion. ausgewählt worden zu sein, kann Hannah es kaum erwarten, loszulegen. Sie interessierte sich schon immer für Politik und engagiert sich in vielen politischen Aktivitäten in ihrer Community. Während der Transformation von einer repräsentativen zu einer partizipativen Demokratie war sie mit ihren Mitbürger*innen an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt. Es war ein überwältigendes Gefühl, zu überlegen, wie ihre Community regiert werden sollte und anschließend selbst darüber zu entscheiden. Und für Hannah wurde die Politik zu einem wichtigen Teil ihres Lebens. Jetzt ist sie dankbar. Es fühlt sich an wie ein Lottogewinn – sie wird Mitglied einer Mini-Public, die bislang vernachlässigte Themen identifizieren soll.

Ihre Nachbarin Rada hat kürzlich eine Einladung erhalten, an der Mini-Public teilzunehmen, in der es um die heiß diskutierte Frage geht, wie das Gesundheitssystem umgebaut werden kann. Rada war an dieser Debatte zuvor nicht beteiligt und hat sich tatsächlich nie viel Gedanken über das Gesundheitssystem gemacht. Sie ist sich aber bewusst, dass das Wohlergehen ihrer Familie von einem guten Gesundheitssystem abhängt und will dafür sorgen, dass die Interessen und Bedürfnisse aller Bürger*innen in der von der Mini-Public erarbeiteten Empfehlung berücksichtigt werden.

Hannahs Schwester Aayan wurde für eine sogenannte Mehrebenen-Mini-Public (siehe Kasten) ausgewählt, in der es darum ging, wie der öffentliche Verkehr im Land nachhaltiger gestaltet werden kann. Dieses Thema liegt ihr sehr am Herzen und sie ist begeistert, mehr zu lernen. Da die Mini-Public als Mehrebenenverfahren angelegt ist, werden die Empfehlungen „ihrer“ lokalen Mini-Public über Delegierte auf die regionale und dann auf die nationale Ebene übertragen. Sie hofft, als Delegierte „ihrer“ Mini-Public gewählt zu werden.

Mehrebenen Mini-Public

Mehrebenen Mini-Publics starten auf lokaler Ebene. In vielen Gemeinden diskutieren zufällig ausgewählte Bürger*innen über ein spezifisches politisches Thema. Die lokalen Mini-Publics wählen eine*n Delegierte*n aus, der die Empfehlungen in der „Versammlung der Delegierten“ vertritt. Die „Versammlung der Delegierten” bündelt die Vorschläge und erstellt Vorschläge. Dabei sind auch konkurrierende Vorschläge möglich.

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Innerhalb der Community ist es normal, als Mitglied für eine Mini-Public ausgewählt zu werden. Viele haben bereits an einer Mini-Public teilgenommen, einige sogar zwei- oder dreimal. Nach einigen Schwierigkeiten unterstützen heute Arbeitgeber*innen die Beteiligung ihrer Mitarbeiter*innen in Mini-Publics. Zu Beginn der Transformation widersetzten sich die Arbeitgeber*innen der Zufallsauswahl. Sie klagten über hohe Kosten aufgrund von Arbeitsausfällen. Aber Fehlzeiten werden kompensiert und damit der Verlust für Arbeitgeber*innen minimiert. Am Ende erkannten die Arbeitgeber*innen die Vorteile: Die Mitarbeiter*innen, die an einer der Mini-Publics teilnahmen, lernten zu argumentieren, zuzuhören und Kompromisse einzugehen. Diese Fähigkeiten sind auch am Arbeitsplatz nützlich. Ebenso begrüßen Ehepartner*innen, Partner*innen, Freund*innen und Familienmitglieder solche Einladungen an ihre Lieben mit Begeisterung. An einer Mini-Public teilzunehmen, verbessert die Fähigkeit, Differenzen und Konflikte zu lösen, ruhig und aufmerksam zu bleiben sowie an einer für alle Beteiligten akzeptable Lösungen zu arbeiten.

Jährlich finden sogenannte Multi-Issue-Referenden statt, bei welchen die Bürger*innen über eine Vielzahl an Themen entscheiden (vgl. Rinne 2020; siehe Kasten). Die Bürger*innen können auch selbst Gesetzesentwürfe initiieren, über welche per Multi-Issue-Referendum entschieden wird. Sie können zum Beispiel eine Petition starten. Wenn die Zahl der Unterschriften eine bestimmte Schwelle überschreitet, kommt der Entwurf automatisch zum Multi-Issue-Referendum – sofern er verfassungskonform ist.

Multi-Issue-Referendum

Das Multi-Themen-Referendum ist ein neues, direktdemokratisches Verfahren, das von Jonathan Rinne (2020) an der Forschungsstelle Demokratische Innovationen, Goethe-Universität Frankfurt, entwickelt wurde. Die Vorschläge auf dem Stimmzettel stammen von den politischen Parteien sowie aus der Zivilgesellschaft. Wie beim Kumulieren und Panaschieren können Bürger*innen bei diesem Verfahren eine bestimmte Anzahl an Stimmen über die Parteilisten hinweg vergeben. Beispielsweise kann eine Wählerin die Festlegung von verbindlichen Regeln zum Tierwohl in der Verfassung mit 3 Stimmen belegen (Partei A), weil ihr dieses Thema wichtig ist, zur gleichgeschlechtlichen Ehe aber keine Meinung haben, weshalb dieses Thema keine Stimme erhält, und das Thema 2 der Partei C erhält von ihr 3 Stimmen usw. So kann sie ihren eigenen Themenkatalog bestimmen.

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Kofi ist glücklich, in einer Community mit so umfangreichen Möglichkeiten der Beteiligung zu leben. Doch manchmal fühlt er sich überfordert mit all seinen Verpflichtungen im Beruf, der Familie, dem Training für den nächsten Triathlon und den politischen Pflichten. Als sich herausstellt, dass seine Eltern gepflegt werden müssen, beschließt er kürzer zu treten. Politische Pflichten passen einfach nicht in seinen Tag – er entscheidet sich vorübergehend für einen politischen Rückzug. Leicht fällt ihm seine Entscheidung nicht. Er fühlt sich verantwortlich für die Community und möchte an deren Entwicklung teilhaben. Aber es geht nicht anders. Er hofft nur, dass sich die Situation bald ändern wird.

Roxanne, seit vielen Jahren Mitglied des gewählten Parlaments, sieht den Wandel ihrer Community mit gemischten Gefühlen. Auf persönlicher Ebene hat ihr die Transformation gutgetan. Früher erfuhr sie als Politikerin wenig Respekt und Wertschätzung. Ihre Mitbürger*innen trauten ihr nicht und einige beschuldigten sogar alle Politiker*innen pauschal der Korruption. Nach der Transformation haben sich diese kritischen Einstellungen geändert. Heute ist sie ein angesehenes Mitglied ihrer Community, eine akzeptierte Ratgeberin und Gesprächspartnerin.

Auf politischer Ebene trauert Roxanne jedoch manchmal über den Verlust der Entscheidungsmacht. Vor der Transformation hat das Parlament alle politischen Entscheidungen gefällt. Es ist nicht immer leicht zu akzeptieren, dass diese Zeiten vorbei sind. So hatte sie sich stark für einen hohen Mindestlohn eingesetzt und ist zutiefst enttäuscht über den Ausgang der Volksabstimmung, die sich für einen mittleren Mindestlohn entschieden hatte. Sie hofft, dass sich die öffentliche Meinung in ein paar Jahren ändert und die Bürger*innen dann für einen höheren Mindestlohn stimmen. Insofern vermisst sie manchmal die alten Zeiten, als das Parlament das Entscheidungsmonopol hatte. Aber sie weiß, dass die Transformation notwendig war.

Quenton wurde kürzlich als Mitglied der zufällig ausgewählten Parlamentskammer ausgewählt. Im Zuge der Transformation hatte die Community beschlossen, ihr gewähltes Parlament um eine zufällig ausgewählte Kammer zu erweitern. Die gewählte parlamentarische Kammer spiegelte nicht die Zusammensetzung der Community wider – es dominierten die Wohlhabenden und die Hochgebildeten. Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, entschied sich die Community für eine zusätzliche, zufällig ausgewählte Kammer. Die Mitglieder der gewählten und der zufällig ausgewählten parlamentarischen Kammern haben die gleichen Rechte und Pflichten. Und die Mitglieder beider Kammern erhalten das gleiche Gehalt.

Mehrere Mechanismen wurden installiert, um inkompetente Parlamentsmitglieder loszuwerden. Recall Recall bedeutete die Abwahl eines Politikers/einer Politikerin vor dem Ablauf seiner/ihrer Amtszeit. Beispielsweise kann ein Bundestagsabgeordneter bereits nach zwei Jahren abgewählt werden. ist einer dieser Mechanismen und musste mehrfach angewendet werden. Quenton ist sich jedoch sicher, dass er nicht von einem Recall betroffen sein wird. Er war immer in der Politik engagiert. Aber es gibt keine Partei, die seinen Interessen entspricht. Und er ist nicht der Typ, der mitreißende Reden schwingt. Eine Karriere in der Parteipolitik verfolgte er daher nicht. Er ist jetzt begeistert und stolz darauf, der Community in der zufällig ausgewählten Kammer zu dienen.

Bei der Transformation der Community stellte sich heraus, dass die bestehenden politischen Institutionen nicht ausreichten und es wurden neue eingerichtet. Das Koordinierungsbüro beispielsweise ist für die Organisation und Koordinierung aller verschiedenen politischen Verfahren zuständig, von Mini-Publics bis hin zu Multi-Issue-Referenden. Das Komitee für Evaluation prüft, ob die angewandten Verfahren so funktionieren wie sie sollen. Es stellte beispielsweise fest, dass Wahlen nicht mehr politische Gleichheit garantieren. Vielmehr führten Wahlen zu einer Vergrößerung politischer Ungleichheit. Veränderungen waren nötig.

Nicht nur das politische System veränderte sich, sondern auch die Menschen. Es hat eine Weile gedauert, bis alle Bürger*innen verstanden haben, dass sie ein Mitspracherecht haben, dass ihre Stimmen zählen und dass ihre Entscheidungen ihr Leben, das Leben ihrer Kinder und ihrer Mitbürger*innen direkt und tiefgreifend beeinflussen. Der Lerneffekt zeigte sich im Laufe der Zeit. Nach der Teilnahme an mehreren Mini-Publics und Multi-Issues-Referenden haben schließlich alle Bürger*innen gelernt, dass sie für das, was in ihrer Community vor sich geht, verantwortlich sind. Eine Fehlentscheidung kann nicht nur viel Geld kosten, sondern einen falschen Kurs für die nächsten Jahrzehnte bestimmen. Daher versuchen Community-Mitglieder, über politische Themen auf dem Laufenden zu bleiben. Heute fällen sie politische Entscheidungen auf der Grundlage umfassender Informationen.

Nicht alle Mitglieder der Community waren von der Transformation von Anfang an begeistert. Mitglieder der gewählten Parlamentskammer wie Roxanne, aber auch andere Gruppierungen waren skeptisch oder lehnten die Transformation sogar heftig ab. Einige Gruppen befürchteten, dass ihr Einfluss auf die Politik schwinden würde. Sie waren es gewohnt, direkten Zugang zu politischen Entscheidungsträger*innen zu haben. Sie wussten, dass ihre Interessen berücksichtigt wurden und dass die Politik ihre Wünsche meistens erfüllte. Sie befürchteten den Verlust ihres Einflusses. So kämpften sie mit aller Kraft gegen die Transformation. Ihr Widerstand war jedoch zwecklos. Heute merken sie, dass die Community so viel besser funktioniert als früher und dass sie von der Transformation profitieren. Sie können ihre Interessen nicht mehr so einfach durchsetzen wie früher. Aber sie wurden zu angesehenen, geschätzten Mitgliedern der Community, was den Verlust an politischem Einfluss teilweise kompensierte. Das zunehmende soziale Vertrauen verbesserte auch die Wirtschaftsleistung deutlich.

Auch einige Bürger*innen widersetzten sich der Transformation. Manche fühlten sich nicht kompetent und machten sich Sorgen um die neuen Aufgaben. Aber dann haben sie erlebt, dass die Diskussion über politische Themen kein Hexenwerk ist. Sie lernten auch, dass es entscheidend ist, ihre spezifischen Perspektiven in den Prozess der Politikgestaltung einzubringen. Andere Bürger*innen hatten Angst, mit politischen Angelegenheiten „belästigt“ zu werden, obwohl sie kein Interesse hatten. Mit der Zeit lernten sie, dass Politik ihr tägliches Leben beeinflusst. So begannen sie zu begreifen, dass die Beteiligung ihr Leben tatsächlich glücklicher macht.

Wir brauchen neue Visionen für die Zukunft der Demokratie, die über das veraltete Modell hinausgehen.

Die Community hat sich seit der Transformation sehr positiv entwickelt. Alle Bürger*innen sind stolz darauf, in einer lebendigen Demokratie zu leben. Sie erinnern sich ungern an die Zeiten vor der Transformation, als politisches Misstrauen allgegenwärtig war – als ständig über die „politische Elite da oben“, „die etablierten Parteien“ und die „Regierung“ geklagt wurde. Zum Glück sind diese Zeiten vorbei und sie können heute vieles selbst bestimmen. Die vielen Beteiligungsverfahren brauchen Zeit und Ressourcen, aber Zeit und Ressourcen sind gut investiert. Das neue System spart außerdem viel Geld: Die Korruption ist zurückgegangen, die Menschen halten sich an Gesetze, Proteste haben abgenommen, unnötige Prestigeprojekte wurden und werden verhindert. Und was am wichtigsten ist – der Geist der Demokratie ist wiederbelebt worden.

Demokratie ist zu einer Lebensweise geworden. Die Transformation hat jeden Teil der Community beeinflusst. Kindergärten, Schulen sowie Universitäten und sogar Arbeitsstätten sind offener für Bürgerbeteiligung geworden. Kinder lernen im Kindergarten zu diskutieren, Kompromisse einzugehen und gemeinsam zu entscheiden. Dies setzt sich an Schulen und Universitäten fort. Da alle Bürger*innen sich zunehmend für Politik interessieren, passten sich auch ihre Freizeitaktivitäten an. Volkshochschulen haben die neuen Interessen aufgegriffen und bieten Kurse für Bürger*innen zu Themen wie Community-Organizing oder zu demokratischen Innovationen an. Alle Lebensbereiche haben sich durch die Transformation verändert.

Natürlich ist nicht alles perfekt. Manche Menschen, wie Kofi, fühlen sich vorübergehend überfordert – sie konzentrieren sich lieber eine Zeit lang auf andere Bereiche ihres Lebens. Auch manche Bürger*innen, die für eine Mini-Public oder für die zufällig gewählte Parlamentskammer ausgesucht wurden, fühlen sich überfordert. Einige befinden sich in einer stressigen Lebensphase und können sich nicht auf zusätzliche Aufgaben einlassen. Die Ablehnung der Einladungen wird völlig akzeptiert. Die Community ist sich einig, dass politisches Engagement nur ein Aspekt des Lebens ist und nicht immer der vorrangige sein kann. Gleichzeitig herrscht Konsens darüber, dass niemand in die alten Zeiten zurückwill, als die gebildeten, wohlhabenden, älteren Männer den Ton angaben. Sobald sich die Beteiligung auf diese „üblichen Verdächtigen“ verlagert, werden die Praktiken angepasst. Es wird sichergestellt, dass die Teilnahme inklusiv ist, d. h. alle Gruppen und Interessen einbezogen werden.

Die Transformation hat in dieser Community gut funktioniert. Aber jede Community ist in eine größere Gemeinschaft eingebettet – Dörfer sind in Staaten eingebettet, Staaten in Nationen, Nationen in supranationale Einheiten wie die Europäische Union. Eine Gemeinde kann nicht alle Angelegenheiten entscheiden, einige Angelegenheiten werden auf höheren Ebenen, z. B. der Europäischen Union entschieden. Die Mitglieder der Community haben erfahren, dass Mehrebenen-Demokratie nicht nur ein akademisches Konzept, sondern relevant für ihr Leben ist. So hatten sie zum Beispiel entschieden, dass jede Person, die länger als drei Jahre in der Gemeinde lebt, das Recht hat, an allen Wahlen und Volksabstimmungen teilzunehmen. Aber der Staat, dem die Gemeinde angehört, hatte nur Personen mit entsprechendem Pass das Wahlrecht eingeräumt. Diese unterschiedlichen Regelungen schienen zunächst etwas chaotisch zu sein, doch am Ende war ihre Umsetzung nur eine Frage sorgfältiger Organisation.

Die Transformation bedeutet nicht, dass die Community zu jedem Thema immer einen Konsens findet. Ganz im Gegenteil. Interessenkonflikte sind der Alltag. Mitunter prallen unterschiedliche Interessen und Präferenzen sogar heftig aufeinander. Aber die Community hat sich auf Verfahren geeinigt, mit welchen sie allgemein akzeptierte Entscheidungen erreichen kann. Es war ein langer Weg, einen Konsens darüber zu erreichen, wie man mit Konflikten und widersprüchlichen Interessen umgeht. Aber das war es wert. Heute will niemand mehr zum alten System der repräsentativen Demokratie zurückkehren. Alle Mitglieder der Community haben das Gefühl, dass ihr Leben jetzt viel lebendiger ist.

Fazit

Demokratie muss sich verändern und wir brauchen neue Visionen. Das heutige Modell, welches vor über einem Jahrhundert entwickelt wurde, entspricht nicht mehr den Anforderungen moderner Gesellschaften. Doch wie können wir Demokratie neu denken? In diesem Beitrag habe ich versucht, Ideen für die Zukunft der Demokratie anhand eines Beispiels darzustellen. „Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben.“ (Willy Brandt) Es liegt an uns allen, die demokratische Zukunft zu gestalten.

Zur Autorin

Dr. Brigitte Geißel, Professorin für Politikwissenschaft und politische Soziologie (W3), Leiterin der Forschungsstelle „Demokratische Innovationen“, Goethe Universität Frankfurt am Main. Sie forscht seit über 10 Jahren zur Krise der repräsentativen Demokratie und zu neuen partizipativen Verfahren.
geissel@soz.uni-frankfurt.de

Literatur

Foa, Roberto Stefan/Klassen, Andrew/Slade, Michael/Rand, Alex/Collins, Rosie (2020): The Global Satisfaction with Democracy Report 2020. Cambridge: Centre for the Future of Democracy
OECD (2020): Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions: Catching the Deliberative Wave. Paris: OECD Publishing
Rinne, Jonathan (2020): Reforming Democratic Systems: Improving the Realization of the Normative Standards of Democracy with Enhanced Policy Voting (EPV). Frankfurt am Main: Goethe University Frankfurt