Außerschulische Bildung 1/2024

Demokratische Streitkultur

Die (fast vergessene) Fähigkeit demokratisch zu streiten

Dieser Beitrag ruft den Begriff der demokratischen Streitkultur und die Grundbedingungen demokratischen Streitens in Erinnerung. Wodurch zeichnet sich eine demokratische Streitkultur aus? Was heißt es demokratisch zu streiten und wo liegen die Grenzen demokratischen Streitens? Die These lautet: Eine demokratische Streitkultur bleibt – bei aller notwendigen Kritik an den jeweiligen politischen Verhältnissen und Entscheidungen – auf einen breiten Konsens über ihre Mindest- bzw. Qualitätsstandards angewiesen. Sie bedarf eines verstärkten Eintretens für die fortgesetzte Demokratisierung der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung und damit von Räumen, in denen Dissens offen zur Geltung gebracht werden kann. Der gegenwärtigen Krise demokratischer Streitkultur kann nur durch mehr demokratisches Streiten und ein verstärktes Streiten für die Demokratie begegnet werden. von Beate Rosenzweig

In den letzten Jahren hat sich die Debatte um die Meinungsfreiheit und den gegenwärtigen Zustand demokratischer Streitkultur eindeutig zugespitzt. Die Rede ist von Sprechverboten, von cancel culture, von Meinungsterror, Hassreden und gezielter Desinformation (fake news), um nur einige der aktuellen Schlagworte zu nennen. Die Ergebnisse der jüngsten Meinungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, dass es hierbei nicht nur um feuilletonistische oder in digitalen Filterblasen verbreitete Zuspitzungen geht: Noch nie, so lautet einer der zentralen Befunde, haben sich so viele Bürger*innen kritisch zur demokratischen Meinungsfreiheit geäußert. Fast die Hälfte der Befragten sieht die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr. Nur 45 % stimmten der Aussage, „man kann heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen“ zu, 44 % widersprachen und gaben an, „dass es besser sei, vorsichtig zu sein“ (vgl. Petersen 2021). Differenziert nach parteipolitischer Anhängerschaft ergeben sich sehr unterschiedliche Einschätzungen. Während 62 % der AfD-Anhängerschaft die Meinung vertritt, die eigene Meinung nicht frei äußern zu können, liegt der Wert bei der Anhängerschaft der Grünen bei 19 % (vgl. hierzu Menzner/Traunmüller 2023, S. 88 ff.) Begründet wird diese Skepsis vor allem mit einer möglichen gesellschaftlichen Sanktionierung von als „nicht politisch korrekt geltenden Aussagen“. Als „heikle Themen (…), bei denen man sich leicht ‚den Mund verbrennen‘ könne“, wurden genannt „Muslime bzw. der Islam“, „Vaterlandsliebe und Patriotismus“ oder auch das Thema „Emanzipation bzw. die Gleichberechtigung der Frauen“ (Petersen 2021). Das hier zum Ausdruck gebrachte Gefühl eingeschränkter Meinungsfreiheit bezieht sich gerade nicht auf rechtliche Eingriffe in das individuelle Grundrecht auf Meinungsfreiheit, sondern auf die Wahrnehmung der aktuellen politischen Debattenkultur.

Unabhängig davon, ob man diese Einschätzung teilt oder nicht, so verweist sie doch auf den Befund einer Krise demokratischer Streitkultur, der auch in politiktheoretischen Debatten weitgehend bestätigt wird. Hier geht es nicht allein um (identitätspolitisch begründete) Sprechverbote oder Fragen von political correctness – sondern um eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung von politischer Öffentlichkeit und Demokratie. Die liberale Demokratie gerät, so der vorherrschende Tenor, aktuell nicht nur von außen durch sich zuspitzende multiple Krisen verstärkt unter Druck, sondern wird auch von innen durch eine tiefgreifende Transformation demokratischer Öffentlichkeit und politischer Meinungs- und Urteilsbildung gefährdet (vgl. u. a. Münkler 2022). Die wichtigsten Herausforderungen sind die unter den Bedingungen der Digitalisierung zunehmende Fragmentierung des öffentlichen Raumes sowie die von (rechts-)populistischer Seite bewusst verschärfte Polarisierung und Enttraditionalisierung von politischer Öffentlichkeit. Welche Folgen mit diesem weithin diskutierten „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas 2022, S. 7) für die Zukunft der liberalen Demokratie einhergehen, ist noch keineswegs ausgemacht. Aus demokratietheoretischer Perspektive besteht allerdings Einigkeit darüber, dass freiheitliche Demokratien ohne eine gelebte politische Streitkultur nicht vorstellbar sind.

Demokratischer Minimalkonsens als Grundbedingung demokratischer Streitkultur