Eine Spurensuche
Inklusive außerschulische Jugendbildung?!
2015 in einer Jugendherberge und -bildungsstätte mit dem Label inklusiv: Eine Jugendgruppe reist für ein Wochenendseminar an. Beim Check-In bekommen Jugendliche mit Rollstuhl mitgeteilt, dass sie Schlüssel für den Aufzug nur auf Nachfrage an der Rezeption erhalten, wenn sie auf ihr Zimmer im 2. Stock möchten. Ungläubig fragt die Seminarleitung noch einmal nach und steigt in eine Diskussion mit den Verantwortlichen ein, wieso dies auf keinen Fall inklusiv ist. Nach langem Ringen wird zwar kein Konsens über Inklusion erreicht, allerdings werden den Jugendlichen Fahrstuhlschlüssel ausgehändigt …
Ein heterogenes und unübersichtliches Feld
Obwohl sowohl die Jugendherberge als auch die Seminarleitung sich als inklusiv bezeichnen würden wird klar, dass „eine fundierte Auseinandersetzung darüber, was unter Inklusion zu verstehen ist“ (Meyer 2020, S. 425) in der außerschulischen Jugendbildung fehlt. Die außerschulische Jugendbildung ist ein „heterogenes und unscharfes Feld“ (Lüders/Riedle 2018, S. 549) mit unzähligen Trägern, vielfältigen Formaten und Themen, einer breit anvisierten Teilnehmerschaft und zahlreichen Herausforderungen in der Infrastruktur. Ebenso unscharf und undefiniert ist die Forschung in diesem Feld, welche noch immer „Mangelware“ (ebd., S. 559) ist. Dabei ist die außerschulische Jugendbildung ein wichtiger Ort der Sozialisation. Um Chancengerechtigkeit, Zugänge und Teilhabe im Bildungssystem gerechter zu gestalten, braucht es eine aktive Inklusionsbewegung in der außerschulischen Jugendbildung. Der 12. Bildungsbericht der Bundesregierung verdeutlicht dies: „Grundbildung intendiert (…) die Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen; dieses Ziel kann von Schule alleine nicht erreicht werden.“ (BMFSFJ 2005, S. 299) Der Bericht beschreibt auch die Spielräume und Potenziale, durch welche die außerschulische Jugendbildung die schulischen Bemühungen um Inklusion ergänzen könnten.
Auf der Suche nach dem Inklusionsbegriff der außerschulischen Jugendbildung
Um dem Inklusionsbegriff der außerschulischen Jugendbildung auf den Grund zu gehen, wurde 2022 eine qualitative inhaltsanalytische Auswertung von 18 Leitbildern von Trägern außerschulischer Jugendbildung in Berlin und Brandenburg durchgeführt (vgl. Frank 2022). Dabei nutzen nur drei der Leitbilder die Worte Inklusion oder inklusiv selbst, jedoch ohne diese zu definieren, was auf die Schwierigkeit hinweist, diesen Begriff zu füllen. Intersektionale Ansätze, also wie sich (Mehrfach-)Diskriminierungen überschneiden und multiplizieren, werden von nur zwei Leitbildern gestreift. Die Begriffe Exklusion und Ausgrenzung tauchen nur dann auf, wenn es um ihre Vermeidung geht. Zusammenfassend findet sich in den untersuchten Leitbildern ein impliziter Inklusionsbegriff, der einem breiten Inklusionsbegriff zugeordnet werden kann (vgl. ebd., S. 59). Beinahe alle Träger stützen sich auf vielfältige Konzepte, Begriffe und Annahmen, um ihren Inklusionsbegriff zu transportieren (vgl. Abbildung 1).
Wenig überraschend fallen am häufigsten die Begriffe Partizipation und Teilhabe, sowohl als Ziel wie als Prinzip der außerschulischen Jugendbildung. Beide Konzepte sind Voraussetzung für gesellschaftliche Verantwortungsübernahme und Grundpfeiler von Inklusion (vgl. ebd., S. 59 f.). Dabei werden unterschiedliche Ansätze verfolgt, Partizipation und Teilhabe umzusetzen: peer-to-peer Education, Auswahl der Themen der Bildungsangebote, Gestaltung der Jugendverbände u. v. m.
Ebenso zur Umschreibung von Inklusion verwendet werden die Begriffe Selbstbestimmung und Empowerment, welche vor allem als Ziele der außerschulischen Jugendbildung beschrieben werden. Diese sollen nicht nur zu gelingenden Bildungsprozessen, sondern auch zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragen und die Jugendlichen auf dem Weg ins Erwachsenenalter unterstützen (vgl. ebd., S. 60). Sowohl als Themen wie als Ziel der außerschulischen Jugendbildung werden Gleichheit und Gerechtigkeit genannt, meist mit Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit in binärer Form. Das Feld der Jugendhilfe und damit das der Jugendbildung wird als Ort verstanden, der zur Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit beitragen kann und soll. Die Begriffe Vielfalt und Anerkennung sind in mehr als der Hälfte der Leitbilder zu finden und beschäftigen sich mit der Frage nach Gleichheit und Gerechtigkeit. Alle Jugendlichen, unabhängig ihrer Herkunft, Fähigkeiten oder Identität, sollen in der außerschulischen Jugendbildung willkommen geheißen werden (vgl. ebd.). Dazu trägt auch das Konzept der Teilnehmenden- und Subjektorientierung bei, welches von den Trägern hochgehalten wird. Die Angebote sollen an den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen ausgerichtet werden und so auch die Partizipation und die Selbstwirksamkeit der Jugendlichen stärken. Barrierefreiheit, welche im eingangs skizzierten Beispiel zur Debatte steht, wird nur von wenigen Leitbildern gestreift, wobei die Zugänglichkeit zu den Angeboten außerschulischen Jugendbildung sowohl in ökonomischen wie physischen Dimensionen, beschrieben wird (vgl. ebd.).
Ob diese Begriffe und Konzepte (vgl. Abbildung 1) auf die außerschulische Jugendbildung in ganz Deutschland übertragen werden können, bleibt offen. Es ergibt sich jedoch ein Bild eines impliziten Inklusionsbegriffes, welcher breit angelegt ist.
Inklusion(-sbegriff) in der Praxis
Während sich das konzeptionelle Verständnis von Inklusion in der außerschulischen Jugendbildung auf vielfältige Begriffe und Konzepte stützt und einen breiten Inklusionsbegriff unterstreicht, kann in der Praxis von gelungener Partizipation, Teilhabe, Selbstbestimmung, Empowerment, Anerkennung oder Gleichheit nicht durchgehend die Rede sein. Die sowohl in der Theorie breit anvisierte Zielgruppe als auch der durch die Novellierung des SGB VIII geöffnete Kreis der Teilnehmenden ist in der Praxis nicht so heterogen wie gewünscht: Von einigen Autor*innen wird die Gruppe eher als „bildungsaffin(en) und sozioökonomisch bessergestellt(en)“ (Meyer/Rahn 2020, S. 101) beschrieben, von anderen als elitär und weiblich (vgl. Thole 2000, S. 113). Kinder aus sozial-ökonomisch schwachen oder sogar abgehängten Familien, die an Angeboten aus dem Bereich „Musik, Kultur, Bildung“ teilnehmen, befinden sich im mittleren einstelligen Prozentbereich (vgl. Wolfert/Pupeter 2018, S. 107). Zur Teilnahme von Jugendlichen mit Behinderungen, aus ländlichen Gegenden oder mit Migrationshintergrund sind keine belastbaren Zahlen zu finden. Ob diese Jugendlichen von den Angeboten nicht erreicht werden oder diese nicht erreichen können steht zur Debatte.
2021 stellte die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Berlin e. V. fest, dass die wenigsten Einrichtungen baulich barrierefrei zugänglich sind (vgl. LKJ e. V. 2021, S. 2) sowie dass die Websites nur selten barrierefrei sind (vgl. ebd. S. 13). Ein Grund könnte sein, dass die pädagogisch sowie rechtlich motivierte Zielsetzung der Partizipation (§ 11 Abs. 1 SGB VIII) in der Praxis nicht flächendeckend umgesetzt wird oder werden kann. In der Befragung der LKJ Berlin stellte sich heraus, dass in mehr als der Hälfte der Organisationen Jugendliche nicht bei der Erstellung der Angebote einbezogen werden (können) (vgl. ebd. S. 14 f.). Dabei ist Partizipation ein Lernfeld für Teilhabe! Sie ist ebenso Qualitätsstandard wie Herausforderung der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Voigts 2021, S. 368) sowie gleichzeitig ein Instrument, welches die Entwicklung der Jugendlichen fördert und fordert (vgl. ebd. S. 369).
Obwohl die Ziele der außerschulischen Jugendbildung und ihr Anspruch an ein inklusives Setting für alle Jugendlichen fundiert zu sein scheinen, ist ein Konsens darüber, wie Inklusion in diesem Feld auszusehen hat und wie diese umgesetzt werden kann, weiterhin offen.
Ausblick
Obwohl sich Einrichtungen, Mitarbeitende und Politik in den Zielen einer inklusiven außerschulischen Jugendbildung einig zu sein scheinen, wird Inklusion durch unterschiedliche Prinzipien und Wege verfolgt. Mit Blick auf das eingangs skizzierte Beispiel stellt sich die Frage, wie eine inklusive Lösung hätte herbeigeführt werden können. Beispielsweise wäre ein Einbezug mobilitätseingeschränkter Personen(-gruppen) vor oder beim Bau der Anlage hilfreich gewesen, um Fehlern vorzubeugen. Kinder und Jugendliche hätten Teil der Planung der Raumaufteilung sein können. Ebenfalls könnte ein genereller Zugang zum Fahrstuhl für alle eine mögliche Lösung darstellen. Eine Lösung, an der auch Jugendliche und andere Besucher*innen der Jugendherberge hätten partizipieren können.
Wird Inklusion als Zugänglichkeit und Barrierefreiheit definiert, dann reicht es, den Schlüssel des Aufzuges zu überreichen, damit die Jugendlichen zu ihren Zimmern gelangen. Volle und gleichwertige Inklusion auf allen Ebenen allerdings würde bedeuten, dass alle Jugendliche jederzeit den Zugang zu ihrem eigenen Zimmer haben, selbstständig und eigenständig handeln können oder sogar in die Planung des Gebäudes einbezogen werden. Darüber hinaus umfasst ein breiter Inklusionsbegriff weit mehr als die Frage der Mobilität und Eigenständigkeit.
Obwohl die Ziele der außerschulischen Jugendbildung und ihr Anspruch an ein inklusives Setting für alle Jugendlichen fundiert zu sein scheinen, ist ein Konsens darüber, wie Inklusion in diesem Feld auszusehen hat und wie diese umgesetzt werden kann, weiterhin offen. Deswegen benötigt es ein Reflektieren, Diskutieren, Forschen und Ausprobieren, um den Inklusionsbegriff der außerschulischen Jugendbildung sowohl theoretisch als auch praktisch mit Leben zu füllen.
Zur Autorin
ffrank@stuhlkreisrevolte.de