Außerschulische Bildung 4/2021

Die geforderte politische Bildung

Einige Schlussfolgerungen aus den aktuellen Debatten um Sprache, Sichtbarkeit und strukturellen Rassismus

Angesichts aktueller gesellschaftlicher Debatten wird in diesem Beitrag der Blick auf drei Themen gelenkt, die eine besondere Relevanz für die politische Bildung haben bzw. bereits von den Akteuren politischer Bildung diskutiert werden: die Verwendung von Sprache, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, insbesondere bezogen auf Rassismus und Geschlechterverhältnisse, sowie die Auswirkungen der Debatten auf das Selbstverständnis der politischen Bildung. Welche Rolle soll politische Bildung bei der Gestaltung unserer Gesellschaft spielen? von Thomas Gill

Die Debatten darüber, wer wie über wen sprechen darf, wer sprachlich unsichtbar gemacht wird und wer das Recht hat, andere (neue) Regeln des über- und miteinander Sprechens zu setzen, haben die akademische Szene in Deutschland voll erfasst. „Im Vordergrund von Political Correctness steht die Berücksichtigung, Anerkennung und Gleichberechtigung gesellschaftlicher Minderheiten und Benachteiligter auch in der Sprache“, so Nina Degele in ihrer Studie zu Political Correctness (Degele 2020, S. 15). Und die Journalistin Kübra Gümüsay formuliert: „Menschen so zu bezeichnen, wie sie bezeichnet werden wollen, ist keine Frage von Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Korrektheit oder einer progressiven Haltung – es ist einfach eine Frage des menschlichen Anstands. Ich verzichte darauf, andere trotz ihres Widerspruchs anders zu benennen, als sie es wünschen. Ich verzichte darauf, ihre Perspektive zu unterdrücken, der ich stattdessen Raum gebe.“ (Gümüsay 2020, S. 49) So gesehen ist kaum nachzuvollziehen, warum die Debatten so zu Aufregung und gegenseitigen Anschuldigungen führen, warum zum Beispiel von „Cancel Culture“ die Rede ist und sich 2020 ein „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gegründet hat. Es ändern sich die sprachlichen Konventionen und die Etikette, so wie sie es schon immer getan haben. Wer wissen will, was sich verändert hat, schaut im aktuellen Duden nach. Wo liegt das Problem und inwiefern wird das Thema für die politische Bildung relevant?

Die Frage liegt nah, was im Hintergrund dieser Debatten steht. Kübra Gümüsay gibt einen Hinweis darauf, wenn sie schreibt: „Und so werden alte weiße Männer – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – einem pauschalisierenden Typus zugeordnet: privilegiert, seine Privilegien nicht hinterfragend, feministische und antirassistische Positionen ablehnend.“ (Ebd., S. 49) Die, die es gewohnt waren, nie benannt zu werden, weil sie die Norm(alität) repräsentiert haben, sind plötzlich nur eine mögliche Variante der menschlichen Vielfalt – und vielleicht noch nicht mal die Erstrebenswerte. Ein Angriff auf das eigene Selbstverständnis und die (noch) bestehenden Privilegien.

Die geforderte Mitte

Die aktuelle Mitte-Studie von 2021 zeigt, dass der Anteil der Bevölkerung, der ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild zeigt, auf 1,7 % zurückgeht (vgl. Zick/Küppers 2021, S. 89). Auch bei einzelnen Dimensionen der rechtsextremen Einstellungen wie Befürwortung einer Diktatur oder Fremdenfeindlichkeit ist zum Teil eine Halbierung der Zustimmungswerte festzustellen, außer bei der Dimension Sozialdarwinismus. Hier ist die Zustimmung gestiegen (vgl. ebd., S. 93). Zugleich wird der Rechtsextremismus von 70,3 % der Befragten als Bedrohung für Deutschland genannt, ein höherer Wert als Klimawandel, soziale Spaltung und Corona-Pandemie im Befragungszeitraum erreichen (vgl. ebd., S. 27). Die Gewalttaten von Halle, Hanau und Kassel und die politischen Reaktionen auf diese scheinen ihre Spuren hinterlassen zu haben. Zugleich stellen die Forscher*innen aber fest, dass die Indifferenz zugenommen hat. Der Graubereich zwischen Zustimmung und Ablehnung zu den Dimensionen rechtsextremer Einstellungen liegt bei den Dimensionen Nationaler Chauvinismus (34,1 %), Fremdenfeindlichkeit (21,3 %), Befürwortung Diktatur (15,5 %) ebenso wie auch bei dem manifesten rechtsextremen Weltbild (12,1 %) erschreckend hoch (vgl. ebd., S. 94). Noch deutlicher wird diese schwankende und uneindeutige Haltung im Bereich rassistischer Einstellungen. Während nur 4,6 % dem Statement voll und ganz oder überwiegend zustimmen, dass Weiße zurecht in der Welt führend sind, geben 27,8 % die Antwort teils/teils oder lehnen es nur überwiegend aber nicht vollständig ab. Noch deutlicher wird es bei der Aussage „Schwarze Menschen sind zu empfindlich, wenn von Rassismus in Deutschland die Rede ist.“ Hier stimmen 18,4 % ganz oder eher zu, 50 % (!) geben die Antwort teils/teils oder eher nicht und nur 31,5 % stimmen den Statement überhaupt nicht zu (vgl. ebd., S. 152 f.). Angesichts dieser Wahrnehmung von Rechtsextremismus als Bedrohung auf der einen Seite und der Empathielosigkeit gegenüber den von rassistischer Diskriminierung Betroffenen auf der anderen, wird das gesellschaftspolitische Spannungsfeld deutlich. Die politische Mitte ist gefordert, sich zu positionieren. „Ein bisschen Rassismus gibt es nicht“, wie es Andreas Zick bei der Präsentation der Studie treffend formulierte.

Politische Bildung ist Teil eines Kulturkampfes geworden und wird sich als Profession, ähnlich wie die geforderte Mitte, dazu positionieren müssen.

Gleiches gilt auch für die politische Bildung, auch diese ist gefordert. Die Diskussionen im Feld der politischen Bildung stehen im Kontext dieser gesellschaftlichen Debatten und Einstellungen in der Gesellschaft insgesamt. Die Auseinandersetzungen (bisher weniger in als vielmehr um) die politische Bildung haben zugenommen, sie ist selbst zum politischen Kampffeld geworden. Meldeplattformen zur vermeintlichen Neutralitätsverletzung, Angriffe gegen Träger und deren Stigmatisierung als vermeintlich linksextrem, Angriffe auf die Bundeszentrale für politische Bildung von Seiten einiger Medien (vgl. Agar 2021) sind dazu einige Stichworte. Politische Bildung ist Teil eines Kulturkampfes geworden und wird sich als Profession, ähnlich wie die geforderte Mitte, dazu positionieren müssen.

Wer darf wie über wen sprechen? Wer wird sprachlich unsichtbar gemacht? Wer hat das Recht, Regeln zu setzen? Foto: AdB

Ich werde mich im Folgenden drei Themenbereichen zuwenden, die meiner Wahrnehmung nach Relevanz für die politische Bildung haben bzw. bereits von dieser diskutiert werden: Die Verwendung von Sprache insgesamt und nicht nur die Frage der sich ändernden Konventionen wird zum Thema für die politische Bildung. Ebenso werden Fragen der gesellschaftlichen Herrschaft, insbesondere des Rassismus und der Geschlechterverhältnisse verhandelt und auf die politische Bildung bezogen. Dass dies Auswirkungen auf das Selbstverständnis der politischen Bildung hat, muss diskutiert und es müssten daraus Konsequenzen – auch für uns selbst – gezogen werden.

Andere Autor*innen kämen aus ihrer Perspektive sicher mit guten Gründen zu einer anderen Schwerpunktsetzung.

Sprache

Die Soziolinguistik führt seit den 60er Jahren eine Debatte über die sprachlichen Codes unterschiedlicher sozialer Schichten und deren Funktionalität in den jeweiligen sozialen Zusammenhängen, insbesondere den unterschiedlichen Arbeitswelten. Diese Debatten sind oft davon geprägt, dass der elaborierte Code der Bildungsbürger*innen als anzustrebende Norm gesetzt wird. Dies verkennt, dass im Bereich der Industriearbeit, des Handwerks oder der einfachen Dienstleistungsberufe, also mithin für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, der elaborierte Code im Berufsalltag dysfunktional ist. Bremer/Pape argumentieren im Anschluss an Bourdieu, dass eine stärkere Sensibilisierung für „plurale Literalitäten“ und Machtverhältnisse notwendig ist. Sie fordern „die Entwicklung einer ungleichheitssensiblen politischen Bildung, die unter Zugrundelegung eines ‚weiten‘ Politikbegriffs den Umgang mit pluralen politischen Literalitäten einüben muss.“ (Bremer/Pape 2017, S. 69)

Mit der Akademisierung von Politik entfernt sich deren Sprache immer weiter von der Alltagssprache der Bevölkerungsmehrheit. Mit der Etablierung der Politikdidaktik als Fachwissenschaft operiert diese mit einem Kategoriensystem, welches die Vermittlung von Fachsprachkompetenzen zur zunehmend bedeutsamen Aufgabe im Politikunterricht werden lässt (vgl. Wochenschau 2020).

Mit der Akademisierung von Politik entfernt sich deren Sprache immer weiter von der Alltagssprache der Bevölkerungsmehrheit.

Ohne Zweifel ist Sprache das Medium, in dem Politik im Wesentlichen stattfindet und Kommunikationskompetenz in einem umfassenden Sinne ist eine zentrale Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit. Allerdings schleicht sich bei manchen Debatten der Eindruck ein, als müsste man erst einen „Demokratieführerschein“ bestanden haben, um politisch handeln zu können und zu dürfen. Dass dies aus demokratietheoretischer Sicht die falsche Herangehensweise wäre, ist offensichtlich.

Politische Fachsprache zum Maßstab zu erheben, steht in einem starken Kontrast zur tatsächlichen (Schrift-)Sprachkompetenz in der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland. Auch die zweite Leo-Studie zur Literalität der Bevölkerung 2018 hat gezeigt, dass von den 18- bis 65-Jährigen in Deutschland, die sich auf Deutsch mündlich verständigen können, noch immer 12,1 % als gering Literalisierte an Buchstabe, Wort und Satz scheitern und weitere 20,5 % erhebliche Probleme mit dem Verständnis von Texten haben, eine stark fehlerhafte Rechtschreibung aufweisen und daher den Umgang mit Schriftsprache vermeiden (vgl. Grotlüschen 2019, S. 5). Dies hat vielfältige Auswirkungen auf die soziale, aber auch die politische Teilhabe. Nur 62,2 % der gering literalisierten Erwachsenen machen regelmäßig von ihrem Wahlrecht Gebrauch, gegenüber 87,3 % der Bevölkerung ohne Schriftspracheinschränkungen. Nur 34,6 % gering Literalisierter sprechen mindestens einmal pro Woche mit ihnen nahestehenden Personen über das politische Geschehen, gegenüber 60,7 % der restlichen Bevölkerung (vgl. ebd., S. 34). Wenn politische Bildung diese faktische Barriere politischer Teilhabe aufgrund geringer Schriftsprachkompetenz nicht reproduzieren will, was auch aus menschenrechtlicher Perspektive höchst bedenklich wäre, wird sie andere Zugangswege suchen müssen. Der erste Schritt sollte die Anerkennung unterschiedlicher Sprachcodes in der Bevölkerung sein, und zwar nicht als Akzeptanz eines vermeintlichen Defizits, welches zu beachten ist, sondern als Anerkennung der eigenen Funktionalität gesprochener Alltagssprache.

Ohne Zweifel ist Sprache das Medium, in dem Politik im Wesentlichen stattfindet und Kommunikationskompetenz in einem umfassenden Sinne ist eine zentrale Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit.

Und wie sollte sich politische Bildung zur Frage einer weniger ausgrenzenden Sprache und neuer sprachlicher Regeln verhalten? Vielleicht so wie es die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit unlängst in ihrer Zeitschrift Einsichten und Perspektiven getan hat. Der Leiter und die stellvertretende Leiterin haben in Pro- und Contra-Beiträgen ihre Position zur Frage der weiteren Entwicklung verbindlicher Genderschreibweisen öffentlich und damit diskutierbar gemacht (vgl. Franz/Grübl 2021, S. 66). Denn letztendlich geht es, wie Rupert Grübl schreibt, „in erster Linie nicht um ein sprachliches, sondern um ein gesellschaftliches Problem“ (ebd., S. 66).

Gesellschaftliche Herrschaft

Die Kommunikationssoziologin Natasha Kelly hat analysiert, dass Rassismus in der öffentlichen Kommunikation noch immer viel zu sehr als individuelles Problem, als Frage der Einstellung und der Vorurteile diskutiert wird und so die strukturelle Ebene unzureichend in den Blick kommt. Sie fasst ihre Argumentation wie folgt zusammen: „Es gibt kein neutrales Außen von Rassismus – jede Person und jede Institution ist davon berührt. Demnach ist Rassismus nicht nur eine aktive Handlung, die sich in Form von rassistischen Zuschreibungen zeigt, sondern auch fest in den Denkmustern unserer Gesellschaft eingeschrieben. (…) Solange aber Rassismus nur auf der individuellen und nicht auf der strukturellen Ebene gesucht und untersucht wird, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet und es können keine Strukturveränderungen erfolgen.“ (Kelly 2021, S. 103 ff.)

Kolonialismus und Rassismus sind tief in die deutsche Geschichte eingeschrieben, und zwar lange bevor es zur deutschen Staatsgründung 1871 kam, die bekanntlich selbst auf einer Vorstellung von Abstammung und „deutschem Blut“ basierte. Bereits die Eroberung und Ausplünderung Lateinamerikas im 16. Jahrhundert war von deutschen Kaufleuten und Bankiers ermöglicht worden. So besaß die Augsburger Familie Welser 28 Jahre lang im heutigen Venezuela ihre eigene Kolonie, in der sie mit dem Segen des spanischen Königs Natur und Menschen ausbeutete (vgl. Terkessidis 2019, S. 19 ff.). Jenseits der klassischen „Salzwasser“-Vorstellung von Kolonialismus (Robert L. Nelson zitiert nach Terkessidis 2019, S. 126) war die koloniale Tradition deutscher Politik vor allem kontinental auf Osteuropa ausgerichtet. Der kontinentale Kolonialismus findet seinen genozitalen Höhepunkt in der Ermordung von über 25 Mio. Bürger*innen der Sowjetunion, die Mehrzahl Zivilisten. Aber auch das überseeische deutsche Kolonialreich um 1900 ist alles andere als unbedeutend: „Deutschland besaß das drittgrößte territoriale Kolonialgebiet und das viertgrößte in Bezug auf die Bevölkerungszahl.“ (Hasters 2019, S. 59)

Diese Analysen unserer tiefen Verwobenheit mit gesellschaftlicher Herrschaft haben Konsequenzen für eine politische Bildung, die sich der Bedeutung von strukturellem Rassismus stellt.

Auch völlig unabhängig von den kolonialen und rassistischen Verstrickungen der deutschen Geschichte ist Rassismus tief in die Tradition des neuzeitlichen Weltsystems eingeschrieben, wie es sich im 15. und 16. Jahrhundert herausgebildet hat. Der Bedeutungsgehalt des Konzepts Rasse hat sich im Laufe der vergangenen 500 Jahre mehrfach verschoben. Erstmals als Kennzeichnung von Menschengruppen wird der Begriff zum Ende der Reconquista benutzt, der Rückeroberung des zuvor maurischen (muslimischen) Spaniens Ende des 15. Jahrhunderts. Der Rassebegriff sollte da „eine ‚natürliche‘ Ordnung (erfinden), wo sozial, politisch, religiös oder kulturell Unordnung herrschte“ (Geulen 2018, S. 25), eben im „zurückeroberten“ Spanien, wo der Übertritt zur christlichen Kirche nicht als sicheres Bekenntnis zu den neuen Herrschern gelten konnte und deshalb neben der „Reinheit des Glaubens“ die Idee einer „Reinheit des Blutes“ gesetzt wurde. Der Reconquista folgt historisch die Eroberung der Welt, die mit dem Rasse-Konzept eine Grundlage besaß, um nicht nur die Vielfalt der Menschen in den „eroberten“ Ländern zu ordnen, sondern auch die eigene brutale Gewaltpraxis zu legitimieren. Diese frühe Phase des Rassebegriffs dauerte bis zur Aufklärung und deren Naturrechtsbegriff. Jetzt erst wurde eine rational-wissenschaftliche Begründung notwendig, um die Verweigerung der Zugehörigkeit zur universalen Menschheit zu legitimieren. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieb diese Begründung rein deskriptiv. Erst danach verbindet sich das Rasse-Konzept mit den aus der Evolutionstheorie kommenden Denkfiguren des „Kampfes“ und der „Züchtung“. Die Herstellung und Durchsetzung – notfalls mit brutaler Gewalt – der als natürlich imaginierten Ordnung wird zum Auftrag. Der soziale Klassenkampf wird zum biologischen Überlebenskampf umgedeutet, nur die Stärksten überleben. Die Blutspur dieser Argumentationskette zieht sich von den genozidalen Kolonialkriegen bis zu den Vernichtungspraktiken des Nationalsozialismus. Nach dem Holocaust verliert das biologistische Rasse-Konzept seine Bedeutung, der Rassismus aber bleibt. An Stelle von Rasse werden jetzt Kulturen, Herkunft, Identitäten, Lebensformen, Religionen etc. bemüht, um Ungleichheit zu legitimieren.

Ob wir wollen oder nicht, wir sind Teil dieser Geschichte und von der Ideologie des Rassismus tief geprägt. Bereits Kleinkinder haben die Bewertungssysteme „gelernt“ wie der berühmte „Puppentest“ aus den 40er Jahren zeigt, ebenso bei seinen mehrfachen Wiederholungen bis heute. Bei dem „Doll-Test“ erhalten Kinder im Vorschulalter zwei Puppen zur Auswahl, eine weiße und eine schwarze. Danach gefragt ordnen die Kinder überwiegend der dunkelhäutigen Puppe negative Attribute wie hässlich, gemein, böse zu – auch die Schwarzen Kinder, die genau wissen, dass sie selbst die gleiche Hautfarbe haben.

Wo kann politische Bildung angesichts der Komplexität und Größe der Herausforderung ansetzen? Es geht um Haltung, Praxis und Strukturen. Foto: AdB

Die Verhältnisse sind komplex und Formen von Herrschaft ineinander verschränkt. Die italo-amerikanische Marxistin Siliva Federici hat in Kritik an Marx‘ Verständnis der ursprünglichen Akkumulation, also die Entstehung des kapitalistischen Weltsystems, herausgearbeitet, dass Marx diese „vom Standpunkt des entlohnten männlichen Proletariats“ analysiert, und dass die Perspektiven von Frauen und Kolonialisierten keine Berücksichtigung finden (Federici 2012, S. 13). Sie analysiert „(1) die Entwicklung einer neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung, die die Frauenarbeit und die reproduktive Funktion der Frauen der Reproduktion der Arbeiterschaft unterordnet, (2) (den) Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung auf Grundlage des Ausschlusses der Frauen von der Lohnarbeit sowie die Unterordnung der Frauen unter die Männer, (3) die Mechanisierung des proletarischen Körpers sowie, im Falle der Frauen, seine Umwandlung in eine Maschine zur Produktion neuer Arbeiter.“ (Ebd., S. 13 f.) Auf dieser Grundlage kann sie die Bedeutung der Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert für die ursprüngliche Akkumulation begründen. In diesem Verständnis, dass Rassismus und Frauenunterdrückung tief in die gesellschaftliche Reproduktion eingeschrieben sind, wird zweierlei deutlich. Zum einen, dass der Kampf gegen Rassismus und Sexismus eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen unseres Zusammenlebens bedeutet und zum anderen, dass Rassismus, Sexismus und Kapitalismus keine drei voneinander unabhängigen, sich „nur“ in den einzelnen Menschen überschneidenden Herrschaftsformen sind, sondern von Anfang an nur aufgrund ihrer Wechselwirkung sich durchsetzen und wirkmächtig werden konnten.

Die Sozialphilosophin Eva von Redecker verweist darauf, dass sich mit der Neuzeit ein neues Verständnis von Eigentum durchsetzt. „Das besondere Merkmal modernen Eigentums ist das neue Verhältnis zum vereinnahmten Objekt in Form uneingeschränkter Verfügung. Modernes Eigentum berechtigt den Besitzer nicht nur zu Kontrolle und Gebrauch, sondern auch zu Missbrauch und Zerstörung desselben.“ (von Redecker 2020, S. 22) Nur unter dem Risiko des Verlusts des Eigentums ist Kapitalakkumulation möglich, der Profit erscheint als Risikoprämie. „Die Verdinglichung sozialer Beziehungen nach dem Muster des Eigentums erlaubte es zumindest den weißen männlichen Besitzlosen, sich ebenfalls zu Sachherrschern aufzuschwingen. Ihr ‚fiktives‘ Eigentum kann als geronnene Herrschaft verstanden werden; es besteht in den Verfügungsansprüchen, die die modernen Institutionen der Sklaverei und patriarchalen Ehe bereitstellen. Die Besitzlosen, so könnte man sagen, wurden auf Kosten der Machtlosen entschädigt.“ (Ebd., S. 28) Die Verhältnisse haben sich weiterentwickelt, der volle, unversehrte Selbstbesitz ist zunehmend rechtlich abgesichert, wenn auch schleppend. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland erst 1996 verboten. Damit ist aber die Logik der Sachherrschaft nicht aus der Welt, sie verwandelt sich, so von Redecker, in Phantombesitz: „Moderne Identitäten sind in gewisser Weise eine Erbpacht der Sachherrschaft. Wir haben ihre Muster und Hierarchien verinnerlicht. … (Wir haben) fast alle ein allzu gutes Gespür dafür, wer im Zweifelsfall nimmt und wer genommen wird.“ (Ebd., S. 35) Eine Kritik, die nur die Gewalt skandalisiert „und nicht die historisch vorgezeichnete Hiebrichtung erkennt, verleugnet noch in der Kritik Phantombesitz.“ (Ebd., S. 37) Von Redecker liefert so eine Erklärung, warum Emanzipationsversuche, die zwar das Eigentum übertragen haben, aber nichts an dessen Grundlogik änderten, wie der Staatssozialismus, zum Scheitern verurteilt waren und sind. Und sie begründet so, warum soziale Bewegungen wie „black lives matter“, „Fridays for future“ und „NiUnaMenos“ einen neuen Typ von Emanzipationsbewegung darstellen, da sie die Frage der absoluten Verfügungsgewalt über Natur und Menschen zum Gegenstand der Kritik machen.

Diese Analysen unserer tiefen Verwobenheit mit gesellschaftlicher Herrschaft haben Konsequenzen für eine politische Bildung, die sich der Bedeutung von strukturellem Rassismus stellt. Wie Alice Hasters schreibt, müssen wir alle „diesen Spagat aushalten und versuchen, die Geschichte von Rassismus einerseits anzuerkennen und sie andererseits nicht weiter fortzusetzen. Gerade machen wir es aber umgekehrt: Wir ignorieren sie und setzen sie deshalb weiter fort.“ (Hasters 2019, S. 30)

Neukonstitution politischer Bildung und ihre Voraussetzung

Die Herausforderung der aktuellen Debatten scheint nicht unerheblich darin zu bestehen, dass der Hinweis, dass wir alle in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft auch bei bloßem Nichthandeln schon zu „Komplizen“ rassistischer Diskriminierung und Ausgrenzung werden, erst einmal zur Empörung, Verärgerung und Abwehr führt – völlig unabhängig von den dahinterliegenden Motiven. Wir müssen je individuell, aber auch als Gesellschaft ein reflektiertes Verhältnis dazu finden, in einer rassistischen, sexistischen, ausbeuterischen, diskriminierenden, ausgrenzenden, behindertenfeindlichen etc. Welt zu leben und Verantwortung dafür zu tragen, strukturell verursachte Menschenrechtsverletzungen, Naturzerstörung etc. zu beenden. Politische Bildung ist aufgefordert, ihren Beitrag hierzu zu klären. Ob wir wollen oder nicht: Die Strategie, bestehende Problemlagen zu bagatellisieren oder weg zu definieren und jene zum Problem zu erklären, die auf die Missstände hinweisen, scheint an ihr Ende gekommen. Zum einen, weil diejenigen, deren Rechte verletzt werden, zunehmend weniger bereit sind, dies hinzunehmen und ihre Rechte einklagen und zum anderen, weil die Dysfunktionalität des Raubbaus an Mensch und Natur förmlich mit den Händen zu greifen ist. In diesem Lichte ist es nicht verwunderlich, warum Verschwörungserzählungen aktuell so attraktiv zu sein scheinen. Realitätsverweigerung scheint die letzte Möglichkeit zu sein, der notwendigen Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen aus dem Weg zu gehen.

Wo kann politische Bildung angesichts der Komplexität und Größe der Herausforderung ansetzen? Die Antwort mag vielleicht banal erscheinen, aber sie lautet: zuerst und vor allem bei sich selbst. Kritik ist immer zuerst auch Selbstkritik.

Die Strategie, bestehende Problemlagen zu bagatellisieren oder weg zu definieren und jene zum Problem zu erklären, die auf die Missstände hinweisen, scheint an ihr Ende gekommen.

In der Debatte ist bereits mehrfach darauf verwiesen worden, dass es um Haltung, Praxis und Strukturen geht, bzw. aus einer inhaltlichen Perspektive betrachtet, um eine diversitätssensible, diskriminierungskritische und inklusive politische Bildung (vgl. z. B. Zentralen für politische Bildung 2020; Gill 2017; 2021a; 2021b; AdB 2021; Benbrahim 2021; Fereidooni/Hößl 2021). Wenn auch erst allmählich, so sind aber unumkehrbar eine ganze Reihe von Prozessen in Gang gekommen: Organisationsentwicklung etablierter Akteur*innen, Einbeziehung neuer Akteur*innen, Entwicklung von Ansätzen einer rassismuskritischen Didaktik, Reflexionen der Ziele und Grundlagen politischer Bildung etc. Vieles ist noch unfertig oder gerade erst im Entstehen. Spannend, herausfordernd und bereichernd sind diese Entwicklung für jene, die sich darauf einlassen, allemal. Die eigene Haltung, die Fähigkeit sich auf Ambivalenzen und Ambiguitäten einlassen zu können, wird zur entscheidenden Frage.

Haltung ist ein schillernder Begriff. Hannah Arendt hat über Rosa Luxemburg und ihre polnische Peer Group geschrieben, dass dieser eine „moralische Haltung“ gemeinsam gewesen sei, „was grundverschieden von ‚moralischen Prinzipien‘ ist“ (Arendt 1968, S. 32). Kennzeichnend für sie war das „Erlebnis einer Kindheit, in der wechselseitige Achtung und uneingeschränktes Vertrauen, eine allumfassende Menschlichkeit und eine echte, fast naive Verachtung für alle sozialen und nationalen Unterschiede als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde.“ (Ebd.) Diese Haltung bleibt eine normative Richtschnur und politische Orientierung ein Leben lang. Beliebt macht man sich mit einer solchen Haltung aber nicht. „Sie gab ihnen das seltene Selbstbewusstsein, das für die Welt, in die sie später gerieten, etwas so Beunruhigendes haben und so peinlich als Arroganz und Einbildung empfunden werden musste.“ (Ebd.) Es ist nicht zu übersehen, dass Arendt damit zugleich über sich selbst schreibt. Haltung ist danach nicht vermittelbar, sondern eine nur selbst zu entwickelnde auf Erfahrung beruhende innere Festigkeit, die sich weniger individuell als vielmehr kollektiv herausbildet.

„Realitätsverweigerung scheint die letzte Möglichkeit zu sein, der notwendigen Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen aus dem Weg zu gehen.“ Foto: AdB

„Haltung“ beschreibt Eva Georg „als die Fähigkeit, Diskriminierung und Menschenverachtung überhaupt als solche wahrzunehmen und einzuordnen. Haltung – als Respekt gegenüber anderen Menschen, auf der Basis einer Orientierung an Menschenrechten und Menschenwürde und Haltung – als ein ‚Einschreiten‘, wenn diese Rechte verletzt werden, ebenso wie sich selbst als Vertreter_in dieser Perspektive zu zeigen und mit dieser Position sichtbar zu werden.“ (Georg 2021, S. 105) Haltung ist kein für immer erworbener Besitz, sondern zeigt sich in unserer Sensitivität (Empfindungsfähigkeit) gegenüber der Verletzung der Rechte anderer und in unseren Handlungen. Haltung zu haben und zu zeigen, ist nicht ohne Risiko. Ich handle als politischer Mensch und werde als solcher sichtbar, auch in der pädagogischen Situation.

Fatal, dass Eva Georg als ein Ergebnis ihrer Studie „die ‚Arbeit an der demokratischen Haltung‘, die sich gegen Menschenverachtung, Ausgrenzung und Diskriminierung ausspricht, (auch) innerhalb der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte“ (ebd., S. 110) als Leerstelle beschreiben muss. Besonders gravierend für die außerschulische politische Bildung, die über keine eigenen Ausbildungswege ihrer Fachkräfte verfügt.

Die Polarisierung der politischen Debatte ist ein klarer Auftrag für die politische Bildung, Herausforderung und Chance zu gleich. Letztendlich geht es darum, Menschen bei der Neuverhandlung der Frage einzubeziehen, wie wir künftig zusammenleben wollen. Wir müssen uns als Profession entscheiden, welche Rolle wir bei dieser Neuverhandlung einnehmen (wollen). Ohne Arbeit an unserer eigenen Haltung wird dies nicht möglich sein.

Zum Autor

Thomas Gill ist Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung. Zuvor war er in der außerschulischen politischen Jugendbildung aktiv und hat unter anderem die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein in der Mitgliederversammlung des AdB vertreten.
Thomas.Gill@senbjf.berlin.de

Literatur

AdB – Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (2021): Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung. Berlin: AdB
Agar, Volkan (2021): Seehofers Haus diktierte Definition. In: taz vom 15.06.2021; https://taz.de/Bundeszentrale-fuer-politische-Bildung/!5775049 (Zugriff: 23.07.2021)
Arendt, Hannah (1968): Rosa Luxemburg. In: Der Monat, Heft 243, Berlin, S. 28-40
Benbrahim, Karima (2021): Rassismus verlernen und Rassismuskritik erlernen! Die Notwendigkeit einer rassismuskritischen politischen Bildung. In: Journal für politische Bildung, Heft 1/2021, S. 4–7
Bremer, Helmut/Pape, Natalie (2017): Literalität und Partizipation als milieuspezifische soziale Praxis. In: Menke, Barbara/Rieckmann, Wibke (Hrsg.): Politische Grundbildung. Inhalte – Zielgruppen – Herausforderungen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 56–73
Degele, Nina (2020): Political Correctness – Warum nicht alle alles sagen dürfen. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa
Federici, Silvia (2012): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien: Mandelbaum-Verlag
Fereidooni, Karim/Hößl, Stefan E. (2021): Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag
Franz, Monika/Grübl, Rupert (2021): Sind verbindlich Genderschreibweisen nötig? In: Einsichten und Perspektiven, Heft 1/2021, München, S. 66–68
Georg, Eva (2021): Haltung zeigen. Reagieren auf Diskriminierung, Rechtspopulismus und Rassismus in der Schule. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag
Geulen, Christian (2018): Der Rassenbegriff. Ein kurzer Abriss seiner Geschichte. In: Foroutan, Naika u. a. (Hrsg.): Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. Köln: Böhlau-Verlag, S. 23–32
Geulen, Christian (2021): Geschichte des Rassismus. München: C.H. Beck (4. Auflage)
Gill, Thomas (2017): Inklusion als Menschenrecht und deren Bedeutung für die politische Bildung. In Achour, Sabine/Gill, Thomas (Hrsg.): Was politische Bildung alles sein kann: Einführung in die politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag
Gill, Thomas (2021a): Inklusive politische Bildung in einer globalen Welt. In: Gill, Thomas/Achour, Sabine (Hrsg.): Politische Bildung und Flucht. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag
Gill, Thomas (2021b): Die Grundlagen politischer Bildung durchdenken und weiterentwickeln; https://profession-politischebildung.de/grundlagen/diversitaetsorientierung/grundlagen-durchdenken (Zugriff: 22.08.2021)
Grotlüschen, Anke/Buddeberg, Klaus/Dutz, Gregor/Heilmann, Lisanne/Stammer, Christopher (2019): LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Hamburg; https://leo.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2019/05/LEO2018-Presseheft.pdf (Zugriff: 25.07.2021)
Gümüsay, Kübra (2020): Sprache und Sein. Berlin/München: Hanser Berlin
Hasters, Alice (2019): Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. Berlin/München: hanserblau
Kelly, Natasha A. (2021): Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturell Lösungen. Zürich: Atrium-Verlag
Redecker, Eva von (2020): Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt am Main: S. Fischer
Terkessidis, Mark (2019): Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg: Hoffmann und Campe (2. Auflage)
Zentralen für politische Bildung (Hrsg.) (2020): Neue Rechte – Rassismus – Diskursverschiebungen – Gewalt. Was passiert gerade in unserem Land und was bedeutet dies für die politische Bildung? Stellungnahme der Zentralen für politische Bildung, September 2020; www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/perspektiven-politischer-bildung/artikel.996795.php (Zugriff: 22.08.2021)
Zick, Andreas/Küpper, Beate (Hrsg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn: Dietz-Verlag