Erinnerungsorte in der postmigrantischen Gesellschaft als Beitrag zur politischen Bildungsarbeit
Rassismus als wirkmächtiges strukturierendes Merkmal unserer Welt(sichten)
Wir alle sind in das rassistische System hineingeboren, wir alle gestalten es täglich aktiv und passiv mit. Damit erschaffen und erhalten wir – bewusst und unbewusst – unfaire Lebensbedingungen. Wo wir auch hinschauen, überall Rassismus. Das rassistische System ist so selbstverständlich, dass es vor allem denen, die nicht rassistisch markiert sind, kaum bis gar nicht auffällt. Die, die von Rassismus nicht negativ betroffen sind, spüren ihn nicht, sehen ihn nicht. Vielleicht wird auch nicht hingeschaut, denn das würde bedeuten, dass Platz gemacht und eine ungerechtfertigte Besserstellung aufgegeben werden muss.
„Rassismus, wie jeder -ismus, ist eine Ideologie der Ungleichheit, die entlang pseudowissenschaftlicher biologistischer Kategorien argumentiert wird. (…) Der Aspekt von Macht ist für Rassismus essenziell. Rassistische Ideologie dient der Machterhaltung, sie legitimiert Ausgrenzung, Ausbeutung, sogar die Ermordung von Menschen.” (Marmer/Sow 2015, S. 15)
Blicken wir zunächst zurück zur Kolonialzeit. Es war selbstverständlich, dass die weiße Bevölkerung ganze Kontinente gewaltsam besetzte, die Menschen vor Ort unterdrückte, versklavte und ermordete. Durch Einflussnahme und Gewalt wurden Ressourcen und Güter in die Länder der Kolonialmächte gebracht. Wie war das möglich? Die Kolonialisierung basierte auf einer rassistischen Weltvorstellung. Nicht als weiß wahrgenommen Menschen wurden das Menschsein und damit das Recht auf Würde und Leben abgesprochen. Und es lag nicht daran, dass Vorstellungen von Würde, Gleichheit und Freiheit nicht vorhanden waren. Sie wurde nur nicht jedem zugesprochen. Um das zu verdeutlichen: Einerseits begann 1904 der Völkermord deutscher Truppen an den Herero und Nama in Namibia, andererseits trat in Deutschland das Kinderschutzgesetz in Kraft.
„Mit Kolonialismus bezeichnen wir ein Herrschaftsverhältnis, das durch eine rassistische Ideologie der intellektuellen, wirtschaftlichen und kulturellen Überlegenheit der Kolonisator_innen begründet wird. Deutsche Händler, Missionare, Politiker und Militärs waren im 19. und 20. Jahrhundert in unterschiedlichen afrikanischen, asiatischen und pazifischen Regionen in die Erlangung und Aufrechterhaltung kolonialen Einflusses verwickelt. Dies ging in den meisten Gebieten mit dem Einsatz massiver Gewalt gegen die lokale Bevölkerung einher.“ (Conrad 2012, zitiert nach Digoh/Golly 2015, S. 57)
Rassismus war also die Bedingung für die Kolonialisierung.
Die geschaffenen Fakten zeigen sich bis heute bspw. in Form von Grenzen, dem System der wirtschaftlichen Abhängigkeit und an der Verschuldung von Staaten – und dem Blick auf die Welt aus der weißen und eurozentrischen Perspektiven. Die historisch etablierten Macht- und Gewaltverhältnisse sind das Erbe des Kolonialismus und wirken bis heute fort. Wir müssen uns bewusst darüber sein und aufzeigen, dass „weiße Europäer_innen und Nordamerikaner_innen die Welt nicht nur militärisch und wirtschaftlich dominier(t)en. Sie vermittel(te)n auch kulturell ihre Perspektiven/Interpretationen und Umgangsweisen, ihr Wissen und Geschichten als wahr und überlegen.“ (Richter 2015, S. 227) Und sie konnten und können bestimmen, welche Lebenswirklichkeit sichtbar wird, und somit auch relevant.
Wir stecken also mittendrin, wo anfangen?
Ken Saro-Wiwa: „Wir alle stehen vor der Geschichte“ Kenule Beeson „Ken“ Saro-Wiwa – Schriftsteller, Bürgerrechtler, Fernsehproduzent und UmweltschützerDie Herausforderung besteht darin, das rassistische System zu be-greifen und be-greifbar zu machen. Wir versuchen also mit einer Art rassismuskritischen Brille auf gestern, heute und morgen zu schauen. Eine heikle Aufgabe. Denn unsere Welt und die Lesart der Entstehung und Entwicklung der Gegenwart ist ebenso durch Rassismus strukturiert. Für die Bildungsarbeit heißt das: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Eingebundenheit und der Struktur der globalen Verhältnisse beginnt damit, sich zu informieren. Der erste Schritt kann die Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit sein.
In der landläufigen Überzeugung ist die Kolonialzeit mit der Unabhängigkeit der meisten kolonialisierten Staaten beendet worden. Vor allem die deutsche Kolonialgeschichte wird selten bis gar nicht thematisiert. Dass die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, auf denen die Kolonialisierung fußte, bis heute wirkmächtig sind, scheint bei vielen vergessen. Und dass unsere gegenwärtige Welt- und Wirtschaftsordnung eng mit der Kolonialzeit verknüpft ist, wird viel zu selten einer Betrachtung unterzogen. Doch gerade im Integrationsdiskurs spielen die Auswirkung der Kolonialzeit und das mit dieser Epoche noch mehr verfestigte rassistische System eine entscheidende Rolle.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Eingebundenheit und der Struktur der globalen Verhältnisse beginnt damit, sich zu informieren.
Ohne Thematisierung der gegenwärtigen Macht- und Repräsentationsverhältnisse und deren Dekonstruktion können gleiche Rechte für alle nicht realisiert werden. Ein zentrales Ziel ist es, rassismusfördernde Handlungs- und Denkmuster, die unbewusst reproduziert werden, zu thematisieren und kritisch einzuordnen. Beispielsweise werden in Deutschland noch heute Unterstützer und Repräsentanten des kolonialen Unterdrückungs- und Ausbeutungssystems anhand von Denkmälern oder Straßenbezeichnungen heroisiert. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in der lokalen Gestaltung von Diversität die globalen Verflechtungen, die die Grundlage für Rassismus bilden, nicht umfassend betrachtet werden.
Wird heute von „Integration“ gesprochen, werden die aufgezeigten historischen Zusammenhänge und deren Wirkmächtigkeit auf unsere Gegenwart ungenügend bis gar nicht betrachtet. Postkoloniale Ansätze sind deswegen umso wichtiger für die Diskussion um das Zusammenleben in einer globalisierten Welt.
Die Konstruktion von „Wir“ und „den Anderen“, die das Integrationsdogma „Sie müssen sich integrieren!“ prägt, können nur durch das Hinterfragen der eurozentrischen Denkmuster dekonstruiert werden – und so der Vielfalt unserer Welt gerechter werden.
Ohne Thematisierung der gegenwärtigen Macht- und Repräsentationsverhältnisse und deren Dekonstruktion können gleiche Rechte für alle nicht realisiert werden. Ein zentrales Ziel ist es, rassismusfördernde Handlungs- und Denkmuster, die unbewusst reproduziert werden, zu thematisieren und kritisch einzuordnen.
Ein Verständnis von rassistischen Strukturen, Denk- und Handlungsmustern als Phänomene, die nur bestimmten Gruppen und/oder Einzeltäter*innen zuzuordnen wären, greift zu kurz und verdeckt die systemische Verankerung von ungleichen Machtverhältnissen, die über individuelle Einstellungen hinaus ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Vielmehr müssen diese als Teil eines historischen Erbes verstanden werden, das nur in gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitung aufgedeckt und abgebaut werden kann.
Erinnerungsorte in der postmigrantischen Gesellschaft
Die Rede von Chimamanda Ngozi Adichie „The danger of a single story“, die sie im Juli 2009 auf der TED Konferenz in Edinburgh gehalten hat (www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story?language=de; Zugriff: 29.08.2021), hat uns zu dem Projekt „Erinnerungsorte in der postmigrantischen Gesellschaft“ inspiriert. Historische und gegenwärtige Ereignisse werden unterschiedlich bewertet, je nachdem wer die Geschichte erzählt und wie sie in die Öffentlichkeit transportiert wird. Dies hat Auswirkungen auf die Erinnerungskultur der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Generation. Eine postmigrantische Perspektive betrachtet historische Ereignisse nicht abgelöst von der Gegenwart, in der Rassismus als unsere Gesellschaft prägendes Merkmal nicht nur am rechtsextremen Rand festgemacht werden kann, sondern sich auch in der „Mitte der Gesellschaft“ wiederfindet und immer wieder neu reproduziert wird.
Weiterhin besteht eine große Herausforderung, das Themenfeld im bildungspolitischen Kontext und in eine durch Diversität gekennzeichnete Gesellschaft einzubinden. Insbesondere das Nichtaufzeigen von Kontinuitäten rassistischer Handlungen, Gesetzgebungen und Praktiken und das veränderte Sprechen von und über die Zeit des Kolonialismus und auch des Nationalsozialismus zeigt Handlungsbedarf. Wenn akzeptiert wird, dass über diese historischen Ereignisse in einer verharmlosenden Sprache gesprochen wird, wenn die Terroranschläge bspw. in Halle oder Hanau nicht zur einer grundsätzlichen Änderung der Strukturen führt, besteht die Gefahr der Verharmlosung und der weiteren Etablierung rassistischen Denkens, Sprechens und Handelns. In unserem Vorhaben möchten wir aufzeigen, wie Kapitel in der Geschichte aus postmigrantischer Perspektive betrachtet werden müssen. Damit möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass diese Kapitel niemals abgeschlossen werden, weil wir alle die Verantwortung dafür tragen, antirassistisch zu denken, zu sprechen und zu handeln.
Die digitale Karte zu kolonialen Erinnerungsorte in der Stadt Köln
In unserem Vorhaben haben wir eine Webseite mit einer interaktiven Karte erstellt. Auf dieser Karte sind Orte aufgeführt, die mit der deutschen Kolonialgeschichte verbunden sind. Zum einen gibt es hier Straßennamen, die Kolonialverbrecher ehren, zum anderen sind Orte und Straßen mit der Kolonialgeschichte durch verschiedene Ereignisse verwoben. Die Webseite richtet sich an alle Menschen, vor allem an die Kölner Bevölkerung, die mehr über das koloniale Erbe der Stadt Köln erfahren möchte. Die Beiträge sind im Audio- sowie in Textformat abrufbar, damit Besucher*innen die Möglichkeit erhalten, die Audiobeiträge anhand der Transkriptionen nachzuverfolgen. Weiterhin wurden die Texte in die englische und in die französische Sprache übersetzt.
Am Anfang des Projektes haben wir uns mit verschiedenen Initiativen im Kölner sowie im NRW-Raum auseinandergesetzt, die sich mit dem kolonialen Erbe beschäftigen. Wir haben geschaut, welche Informationen schon vorhanden sind und mit welchen unterschiedlichen Ansätzen versucht wird, diese historischen Ereignisse in die Gegenwart zu transportieren. Anhand dieser Recherche wurde eine Liste erstellt, die auf der Webseite abrufbar ist, damit die Besucher*innen über weitere Angebote erfahren können. Die Erstellung der Audio- und Textbeiträge erfolgte in Kooperation mit Professorin Marianne Bechhaus-Gerst, die sich mit dem Thema seit langem beschäftigt und in diesem Bereich forscht. Daneben besteht durch Migrafrica auch eine Kooperation mit dem Eine-Welt-Netz, vertreten vor allem durch Serge Palasie. Neben einführenden Beiträgen, steht die digitale Karte im Mittelpunkt der Website.
Alle Beiträge zu den in der Karte aufgeführten Orten wurden im In-Haus-Radio aufgenommen. Diese Inhalte bildeten eine Basis für den Aufbau der Webseite und Erstellung der digitalen Karte. Die erarbeiteten Stationen wurden zusätzlich durch Fotos erweitert, die auf die Straßennamen und andere Erinnerungsorte hinweisen. Die Webseite umfasst ein Glossar, das die Beschreibung notwendiger Begrifflichkeiten anbietet, sowie eine Literaturliste, die der Vertiefung der Inhalte dient. Um auf die Webseite aufmerksam zu machen, wurden Werbematerialien wie Postkarten, Sticker und Plakate entwickelt. Die Veröffentlichung der Webseite wurde durch eine Pressekonferenz begleitet. Aufgrund der Einschränkungen in Bezug auf die Corona-Pandemie wurden als Erweiterung der Pressekonferenz zwei Videos über die Webseite produziert, die in den sozialen Medien veröffentlicht wurden.
Die digitale Karte zu kolonialen Erinnerungsorten in der Stadt Köln (www.desintegration.ihaus.org) knüpft an ähnliche Projekte aus der gesamten Bundesrepublik an.
Die Auseinandersetzung mit der deutschen und der Kölner Kolonialgeschichte und der Frage nach der Sichtbarkeit dieser im Stadtbild bietet einen historischen und gesellschaftspolitischen Zugang, gerade für jüngere Zielgruppen. Aufgrund dieser thematischen Bandbreite bietet es sich an, die digitale Karte mit weiteren Lerneinheiten wie bspw. zu Themen der Wirtschaft, Migration, Globalisierung etc. zu verbinden, und vor allem im schulischen Kontext fächerübergreifend umzusetzen. Es bietet sich auch an, über ein halbes bis ein ganzes Jahr nach verschiedenen Themenblöcken ausgerichtet, mit der digitalen Karte zu arbeiten.
Bei der Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte muss allen immer bewusst sein, dass sich die Ausbeutung nicht nur auf Land, Ressourcen und Arbeitskraft bezog; mit der Kolonialisierung wurden den Menschen vor Ort in den allermeisten Fällen auch Denkweisen, Wissensbestände und Diskussionskulturen aufgezwungen.
Bei der Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte muss allen immer bewusst sein, dass sich die Ausbeutung nicht nur auf Land, Ressourcen und Arbeitskraft bezog; mit der Kolonialisierung wurden den Menschen vor Ort in den allermeisten Fällen auch Denkweisen, Wissensbestände und Diskussionskulturen aufgezwungen. Damit ging Diversität verloren, und die Dominanz der weißen Weltannahmen hält bis heute an. Aus welcher Perspektive und vor welchem Hintergrund werden wem welche bildungsrelevanten Wissensangebote gemacht? Wessen Perspektiven werden dargestellt bzw. gehört? Wessen Perspektiven werden nicht repräsentiert? Um die Kontinuität des Rassismus und der Kolonialzeit aufzubrechen, kann die reflektierte Aufbereitung dieses Themenfeldes ein kleiner Beitrag sein.
Ziele und allgemeine Hinweise zum Ansatz
Die im Projekt entwickelten Bildungsmaterialien (https://desintegration.ihaus.org/mehr-zum-thema/bildungsmaterial) verstehen sich als eine Anregung für die politische Bildungsarbeit. Wie bei allen Methoden bedarf es einer Modifizierung durch Multiplikator*innen je nach Zielgruppe und Rahmenbedingungen vor Ort. Die Vorschläge lassen sich sowohl unabhängig voneinander als auch zusammenhängend und je nach Rahmenbedingungen an den jeweiligen Orten in Köln oder auch ohne das Aufsuchen der Orte umsetzen.
Insgesamt eignen sich die Materialien zum Aufzeigen der Kontinuität des Rassismus und der Kolonialzeit bis heute in nahezu allen Bereichen. Wie könnte eine Welt ohne Rassismus aussehen? Sich eine gerechtere Welt am Beispiel des Handelns vorzustellen, ist eine Anregung, auch über das eigene Konsumverhalten nachzudenken. Ebenso bieten sich Diskussionsanlässe zur Black Lives Matter Bewegung, zu (Gewalt-)Migration und gesellschaftlicher Teilhabe an.
Ausblick
Projekte wie das hier beschriebene und die Arbeit mit digitalen Karten sind Beispiele für die verschiedenen Ansätze zum Umgang mit kolonialen Erinnerungsorten. Der postkoloniale Blickwinkel auf unsere Gesellschaft trägt zur Bewusstwerdung des historischen Erbes und zur kritischen Auseinandersetzung sowie einem selbstreflexiven Weiterdenken bei. Damit werden eine kritische Herangehensweise und die Bewusstwerdung der historischen Entstehungsbedingungen von Rassismus als globales Herrschaftssystem gefördert.
Zum Autor/zur Autorin
jaroslaw.bak@ihaus.org
elizaveta.khan@ihaus.org