Außerschulische Bildung 3/2021

Die Zeichen stehen auf Aufbruch

Arbeiten mit der Europäische Jugendarbeitsagenda

Die Europäische Jugendarbeitsagenda und der damit verbundene Umsetzungsprozess wurde im Kontext der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 verabschiedet. Sie bietet für die europäische Zusammenarbeit ein wichtiges Rahmendokument, das hilft, dass sich die Jugendarbeit von Mobilitätsorientierung zu Lernzwecken hin zur Strukturgestaltung und politischen Bildung auf allen Ebenen bewegt. von Georg Pirker

Die Europäische Jugendarbeitsagenda Dokument in Deutsch: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:42020Y1201(01)&from=DE. Es empfiehlt sich, den englischen Text zu lesen, da die Aufgabenbeschreibungen mitunter treffender formuliert sind als in der deutschen Übersetzung: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=uriserv:OJ.C_.2020.415.01.0001.01.ENG; Zugriff auf alle in diesem Beitrag genannten Links: 02.06.2021 und der damit verbundene Umsetzungsprozess (Bonn-Prozess) www.jugendfuereuropa.de/news/11013-entschliessung-des-eu-rates-zur-europaeischen-jugendarbeitsagenda-eine-grundlage-fuer-den-bonn-prozess, wurde im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 verabschiedet. Die Agenda ist Resultat eines, den europäischen Youth Work Conventions vorangegangenen, über 10 Jahre andauernden Diskussions- und Annäherungsprozesses. Sie nimmt wesentliche Referenzen der EU-Jugendstrategie 2019–2027 https://europa.eu/youth/strategy_de sowie die Empfehlungen des Europarats zur Jugendarbeit und dessen Jugendbereichsstrategie 2030 www.coe.int/en/web/youth/-/recommendation-on-youth-work; www.coe.int/en/web/youth/youth-strategy-2030 auf. Die Europäische Jugendarbeitsagenda ist eine Ratsentschließung (2020/C 415/01) und legt auf nationaler wie europäischer Ebene wichtige und grundsätzliche Orientierungen fest, Jugendarbeit als Feld von (auch selbstorganisierter) Praxis, Politik und Forschung politisch zu unterstützen, ihren eigenständigen Beitrag zu einem demokratischen, pluralistischen und menschenrechtlichen Bildungs-, Sozialisations-, Arbeits-, Forschungs- und Politikfeld leisten zu können. Mit der Jugendarbeitsagenda erfährt Jugendarbeit Anerkennung als ein eigenständiges Feld, an dessen Ausgestaltung die unterschiedlichsten Akteure gleichberechtigt Verantwortung übernehmen und mitwirken.

Die Jugendarbeitsagenda wendet sich an die „community of practice in Europe, i.e. people with a common interest who collaborate over an extended period, sharing ideas and strategies, determining solutions and building innovations. This incorporates all kinds of youth work and all kinds of youth workers. All stakeholders in the youth work community of practice across Europe have, within their respective sphere of competence, different mandates, roles and capacities for further developing youth work. They are welcome and encouraged to get involved in shaping the European Youth Work Agenda and putting it into practice in the Bonn Process to jointly strengthen the field of youth work – for the benefit of all young people in Europe.” http://www.eywc2020.eu/en/agenda/community

Die Jugendarbeitsagenda bietet einen strategischen Rahmen zur Orientierung und Entwicklung von Jugendarbeit in Europa, sowohl auf Ebene der Mitgliedsstaaten als auch auf Ebene der EU.

Die Jugendarbeitsagenda bietet einen strategischen Rahmen zur Orientierung und Entwicklung von Jugendarbeit in Europa, sowohl auf Ebene der Mitgliedsstaaten als auch auf Ebene der EU. Indem sie an maßgebliche Politikprozesse des Europarats anknüpft, bietet sie darüber hinaus mit dem sogenannten Bonn-Prozess Anknüpfungspunkte für eine europaweite Entwicklung.

Was ist drin?

Die Jugendarbeitsagenda beschreibt das Arbeits- und Aufgabenfeld „Youth Work” (i. S. eines weiten Begriffes von Jugendarbeit und einer community of practice). Darüber hinaus sind es vor allem Ziele und politisches Commitment, welche klar beschrieben, benannt und zur Umsetzung eingefordert werden. Die Umsetzung selbst ist im Bonn-Prozess enthalten, zudem sieht die Agenda einen finanziellen Rahmen vor, der u. a. die EU-Jugendprogramme beinhaltet.

„1. Jugendarbeit ist ein breiter Begriff, der eine große Vielfalt an sozialen, kulturellen, bildungsorientierten, umweltbezogenen und/oder politischen Aktivitäten von und mit jungen Menschen und für junge Menschen, sei es in Gruppen oder als Einzelpersonen, abdeckt. (…) Jugendarbeit ist eine durch und durch soziale Praxis, bei der mit jungen Menschen und den Gesellschaften, in denen sie leben, gearbeitet wird und so ihre aktive Teilhabe und die Einbeziehung in ihre Gemeinschaften und in Entscheidungsprozesse erleichtert werden.
2. Durch Jugendarbeit können jungen Menschen universelle Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Frieden, Pluralismus, Vielfalt, Inklusion, Solidarität, Toleranz und Gerechtigkeit vermittelt und von ihnen erlebt werden. (…)
5. Jugendarbeit ist ein eigenständiges Arbeitsfeld und ein wichtiges nicht-formales und informelles Sozialisationsfeld. Jugendarbeit orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen junger Menschen und geht unmittelbar auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen ein, mit denen sie konfrontiert sind. Ein wesentlicher Bestandteil der Jugendarbeit ist die Schaffung sicherer, zugänglicher, offener und autonomer Räume in der Gesellschaft sowie von unterstützenden und erfahrungsorientierten Lernumgebungen für junge Menschen. Die Teilhabe junger Menschen an der Gestaltung und Durchführung von Jugendarbeit ist von wesentlicher Bedeutung, um zu gewährleisten, dass Organisationen, Programme und Tätigkeiten auf die Bedürfnisse und Wünsche junger Menschen eingehen und für sie relevant sind. (…).“ https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:42020Y1201(01)&from=DE

Die Agenda fordert die Mitgliedsstaaten auf, Voraussetzungen für eine adäquate Umsetzung zu schaffen, denn: Jugendarbeit steht in Europa vor einer Vielzahl von Herausforderungen: Sie muss z. B. konzeptionell, thematisch und methodisch auf Veränderungen in der Gesellschaft und im Alltagsleben junger Menschen reagieren, die Qualität von Jugendarbeit muss verbessert und evaluiert werden, die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren in Politik und Gesellschaft muss besser gefördert werden und auch Krisen wie die COVID‐19-Pandemie bringen neue Herausforderungen mit sich (vgl. ebd.).

Man mag einwenden, dass Jugendarbeit und Jugendpolitik in einem „weichen Feld“ europäischer, politischer Kooperation angelegt sind und vielfach der Offenen Methode der Koordinierung unterliegen. In einem auf Wandel angewiesenen europäischen Projekt, kommen gerade den sogenannten weichen Feldern Kernfunktionen zu, oftmals leider von Politik weithin unterschätzt. Hierfür gilt es, sich auf allen Ebenen einzusetzen und Verantwortung verstärkt einzufordern.

Die Zeichen stehen auf Aufbruch Foto: AdB

Die Bedeutung der Jugendarbeitsagenda wird deutlich, da sie laufende politische Prozesse auf beiden relevanten europäischen Ebenen – des Europarats wie auch der EU – aufgreift und hilft, diese auszugestalten und weiterzuentwickeln. Die Jugendarbeitsagenda hat ein enormes Potenzial, in Europa ein besseres Verständnis, eine bessere fachliche Grundlage und bessere Voraussetzungen für non-formales und informelles Lernen herzustellen und somit den leider immer noch viel zu sehr auf den formalen Sektor mit seinem zu kurz gegriffenen Bild von Kompetenzerwerb ausgerichteten Bildungsdiskurs neu zu formulieren und zu weiten. Es geht um die Perspektive einer eigenständigen Jugendarbeit mit eigenständigen und berechtigten Qualitätsdiskursen und Standards. Hierfür gilt es, aktiv Alliierte zu suchen, bspw. im Feld der Erwachsenenbildung und des Lebenslangen Lernens.

Für den Bereich der politischen Bildung ist es erfreulich, dass die Jugendarbeitsagenda die klare Aufforderung an die Mitgliedsstaaten enthält, „(…) aktive, kritische Bürgerschaft und demokratisches Bewusstsein und die Wertschätzung der Vielfalt unter allen jungen Menschen als festen und grundlegenden Bestandteil von Jugendarbeit zu fördern, auch durch die Förderung des Kompetenzaufbaus durch die Aus- und Weiterbildung von Jugendarbeiterinnen und ‐arbeitern; allen jungen Menschen ohne Diskriminierung die Möglichkeit zu geben, auf eigene Initiative zu handeln, ihre Selbstwirksamkeit zu entwickeln und eine positive Einflussnahme auszuüben.“ (Ebd.)

Sind die Herausforderungen, vor denen Jugendarbeit steht, alle aufgezählt? Beileibe nicht. So finden sich im Dokument keine Verweise auf aktuelle politische Beeinflussung von Jugendarbeit, wie wir zu Genüge im Terminus der „patriotic education“, aber auch in einer klaren Ablehnung von Vielfaltsdiskursen kennen. Sie geht auch nicht auf „Shrinking spaces” ein. Es fehlen Hinweise auf Jugendarbeit als Gestaltungsfaktor im gesellschaftlichen Wandel im Sinne eines critical youth citizenships (vgl. Ohana 2020). Hier bleibt das Dokument erstaunlich technisch und wenig konkret.

Dies ist jedoch nicht unbedingt eine Schwäche: Mit der Benennung der Rolle und der Verantwortungsbereiche von Jugendarbeit für Demokratie, Menschenrechte, Pluralismus und der klaren Positionierung von Jugendarbeit als dem eigenständigen Feld non-formalen und informellen Lernens sowie der Aufforderung zur europaweiten Anerkennung eines qualifizierten Arbeitssektors und Berufsbildes Youth Work, bietet die Jugendarbeitsagenda einen Ausgangspunkt für eine tiefe Debatte über strukturelle und systemische Entwicklung, ohne voreilig Benchmarks oder Ziele zu setzen.

Die Betonung, über Jugendarbeit autonome und selbstbestimmte Räume für demokratische Selbstwirksamkeit zu schaffen, bieten argumentative Hilfen, Jugendarbeit im Kontext wichtiger Felder europäischer Politiken (z. B. Grundrechtepolitiken) als eigenständiges und qualifiziertes Aufgabenfeld auszugestalten. Über die Umsetzung im Bonn-Prozess, bietet sich eine Möglichkeit, das Feld europaweit zu qualifizieren und sich strukturell aus dem Windschatten von Leitdiskursen der Beschäftigungsfähigkeit und des formalen Kompetenzerwerbs, hin zu einem Feld sui generis zu bewegen.

In mehreren Ländern stehen Jugendorganisationen, die sich z. B. für LGBTQI-Rechte, für macht- und herrschaftskritische Demokratiebildung, für eine humanitäre Asyl- und Migrationspolitik oder einfach für mehr Demokratie oder gegen Rassismus einsetzen, unter extremem Druck und werden kriminalisiert.

Sicherlich hat die Corona-Pandemie eigene Schwachstellen, vor allem aber eine politisch defizitäre Vorstellung von Jugendarbeit offen zutage treten lassen. Meist ist über die Köpfe junger Menschen hinweg entschieden worden. Dennoch ist der gewählte Rekurs der Jugendarbeitsagenda auf die Corona-Krise zu kurz gegriffen: Politischer Vereinnahmung von Jugendbildungsarbeit zu unlauteren Zwecken, die Verschlechterung der Bedingungen für zivilgesellschaftliche Jugendbildungsarbeit in immer mehr europäischen Ländern, unter Druck geratene oder arbeitsunfähig gewordene Bereiche etc. benötigen eine breite Diskussion über ein politisches Instrumentarium zum Schutz der demokratischen Grundfreiheiten und Rechte, der Anliegen von Vielfalt im Jugendbereich. In mehreren Ländern stehen Jugendorganisationen, die sich z. B. für LGBTQI-Rechte, für macht- und herrschaftskritische Demokratiebildung, für eine humanitäre Asyl- und Migrationspolitik oder einfach für mehr Demokratie oder gegen Rassismus einsetzen, unter extremem Druck und werden kriminalisiert.

Was bedeutet das für den deutschen Kontext? Die Jugendarbeitsagenda bietet für europäische Zusammenarbeit ein lange ausstehendes Rahmendokument, das hilft, Jugendarbeit auf allen Ebenen strukturell zu verändern. Der Arbeitsbereich erfährt durch die Jugendarbeitsagenda eine wichtige Aufwertung. Sie fordert die Politik europaweit auf, für Strukturen, Rahmen, Ausbildung und eine qualifizierte, demokratiebildende, non-formale Jugendarbeit zu sorgen.

In der Frühjahrssitzung 2021 der AdB-Fachkommission „Europäische und Internationale Bildungsarbeit“ entstand der Vorschlag, die europäische Jugendarbeitsagenda auch als Hilfestellung für die kritische Befragung des eigenen Arbeitsfeldes, der eigenen Verbandsarbeit und der Strukturen und Arbeit politischer Bildung allgemein zu nutzen und darauf basierend Handlungsempfehlungen und -schritte abzuleiten und anzugehen – auf allen Ebenen der Arbeit, in allen Bereichen von Jugendarbeit in Deutschland.

Zum Autor

Georg Pirker ist Referent für internationale Bildungsarbeit im AdB und Vorsitzender des europäischen Netzwerks DARE – Democracy and Human Rights Education in Europe.
pirker@adb.de

Literatur

Ohana, Yael (2020): What’s politics got to do with it? European youth work programmes and the development of critical youth citizenship. In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung; Heft 2/2020, S. 30–33