Außerschulische Bildung 4/2022

Die Zukunft der Erinnerung

Herausforderungen der Geschichtskultur in Berlin

Der Beitrag skizziert die Entwicklung von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik seit den 1970er Jahren in Deutschland und zeigt sechs Herausforderungen und Chancen der gegenwärtigen Geschichtskultur auf: Die Integration von DDR-Geschichte, das Erzählen der Geschichte des Kalten Krieges, den Tourismus, die Berücksichtigung postkolonialer und postmigrantischer Perspektiven und die Digitalisierung. Sie werden am Beispiel Berlins und der unterschiedlichen historischen Erinnerungsorte der Stiftung Berliner Mauer diskutiert. von Hannah Berger und Hanno Hochmuth

Erinnerung und Aufarbeitung sind zwei Leitbegriffe unserer gegenwärtigen Geschichtskultur (vgl. Sabrow 2008). Sie ist getragen von dem Bestreben, die eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten, um aus der Geschichte lernen zu können. Auf diese Weise sind in unserer Geschichtskultur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eng miteinander verknüpft. Dies war jedoch nicht schon immer so. Die Geschichtskultur unserer Gegenwart hat selbst eine Geschichte. Sie ist eng verbunden mit dem Utopieverlust der 1970er Jahre. Im Zeichen der damaligen Ölkrisen ging der Glaube an den Fortschritt und die Zukunft verloren (vgl. Jarausch 2008). Zugleich setzte ein bemerkenswerter Geschichtsboom ein, der sich nicht in bloßer Nostalgie erschöpfte, sondern die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus suchte. An die Stelle der früheren heroischen Erinnerung an tatkräftige Männer rückte seit den 1980er Jahren eine postheroische Erinnerung, die das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt rückte. Dies war ein konfliktreicher Prozess, der in der alten Bundesrepublik letztlich jedoch zu einem erinnerungskulturellen Konsens führte. Der Holocaust wurde zum zentralen deutschen Erinnerungsort.

Damit einher ging eine starke Institutionalisierung des Erinnerns. Viele erinnerungspolitische Initiativen hatten als zivilgesellschaftliche Graswurzelbewegungen begonnen und erfuhren nun eine institutionelle Förderung durch die staatliche Geschichtspolitik. 1998/99 verabschiedete die Bundesregierung zum ersten Mal ein Gedenkkonzept und richtete zudem das Amt einer/s Bundesbeauftragten für Kultur und Medien ein, in dessen Ressort fortan die großen Geschichtsmuseen der Ära Kohl und die Gedenkstätten von nationaler Bedeutung fielen. Zugleich wurde der Anspruch, die eigene Geschichte kritisch zu betrachten, nach 1989/90 auch auf die DDR ausgeweitet. Die Geschichte der SED-Diktatur sollte nicht verschwiegen oder verdrängt werden, sondern unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Regimes kritisch aufgearbeitet werden. So rief der Deutsche Bundestag in den 1990er Jahren zwei Enquete-Kommissionen ins Leben und richtete 1998 die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ein (vgl. Beattie 2008). Damit etablierte sich die kritische Aufarbeitung auch im Umgang mit der DDR-Geschichte zum erinnerungskulturellen Standard, wenngleich bei der Erinnerung an die DDR kein vergleichbarer Konsens erreicht werden konnte (vgl. Rudnick 2011).

In Berlin zeigen sich die erinnerungskulturellen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in verdichteter Form. Gedenkstätten von überregionaler Bedeutung erinnern daran, dass Berlin die Hauptstadt des NS-Regimes und der Sitz der Täter war.

In Berlin zeigen sich die erinnerungskulturellen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in verdichteter Form. Gedenkstätten von überregionaler Bedeutung erinnern daran, dass Berlin die Hauptstadt des NS-Regimes und der Sitz der Täter war. Seit 2005 nimmt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas nicht nur topografisch, sondern auch erinnerungskulturell einen zentralen Platz in der deutschen Bundeshauptstadt ein. Die Erinnerung an die deutsche Teilung und an den Kalten Krieg bildet die zweite wichtige Erinnerungsschicht in Berlin, das auch als das „Rom der Zeitgeschichte“ beschrieben wird (vgl. Hochmuth 2017). 2006 verabschiedete der Senat von Berlin das dezentrale Gedenkkonzept an die Berliner Mauer und die Teilung der Stadt (vgl. Klemke 2011). Dessen wichtigstes Ergebnis war die Einrichtung der Stiftung Berliner Mauer, die seit 2009 die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße betreibt. Mit über einer Million Besucher*innen pro Jahr vor der Pandemie etablierte sich die Gedenkstätte zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte in Berlin. Seit ihrer Gründung wurde die Stiftung stetig erweitert: Neben der Gedenkstätte Berliner Mauer und der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde verantwortet die Stiftung seit 2018 auch die Gedenkstätte Günter Litfin und die East Side Gallery und seit 2021 das Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt. Zudem erarbeitet sie ein Konzept für einen Erinnerungs- und Lernort am ehemaligen Checkpoint Charlie.

East Side Gallery Berlin Foto: Stiftung Berliner Mauer

Die historischen Orte, die die Stiftung Berliner Mauer heute verantwortet, verdeutlichen, wie stark bürgerschaftliches Engagement im 20. Jahrhundert die deutsche Erinnerungslandschaft beeinflusst hat, weil keiner der Orte ohne das unermüdliche Engagement Einzelner heute existieren würde. Die Erfahrungen, die in der Stiftung Berliner Mauer und an ihren unterschiedlichen Standorten gemacht werden, spiegeln dabei verschiedene Herausforderungen und Chancen der gegenwärtigen Geschichtskultur, die wir im Folgenden skizzieren möchten.

Integration der DDR-Geschichte

Die Geschichte der DDR erfuhr nach 1989/90 eine breite gesellschaftliche Aufarbeitung durch zahlreiche Gedenkstätten, Bürgerrechtsarchive und zivilgesellschaftliche Initiativen. Und doch ist die Integration der DDR-Geschichte in die Erinnerungskultur des vereinten Deutschlands weiterhin eine Herausforderung. Zum einen wird die Geschichte der DDR in weiten Teilen der alten Bundesrepublik weiterhin als reine Regionalgeschichte verstanden und fristet im Schulunterricht und in der universitären Lehre oft nur ein Schattendasein (vgl. Hüttmann 2004). Zum anderen gibt es einen starken Dissens zwischen der staatlich geförderten öffentlichen Erinnerungskultur, die den Diktaturcharakter der DDR betont, und dem Familiengedächtnis vieler ostdeutscher Familien, das stärker auf vermeintlich unpolitische Alltagserfahrungen abhebt (vgl. Ganzenmüller 2020). Diese erinnerungskulturelle Kluft hat sich entgegen vieler Erwartungen im generationellen Wandel nicht abgeschliffen, sondern in den vergangenen Jahren eher noch verstärkt, zumal populistische Parteien in Ostdeutschland aktiv an der Neuinterpretation der DDR-Geschichte arbeiten und den Unterschied zwischen dem SED-Regime und der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik einzuebnen versuchen.

Die historischen Orte, die die Stiftung Berliner Mauer heute verantwortet, verdeutlichen, wie stark bürgerschaftliches Engagement im 20. Jahrhundert die deutsche Erinnerungslandschaft beeinflusst hat, weil keiner der Orte ohne das unermüdliche Engagement Einzelner heute existieren würde.

Das Konzept der Stiftung Berliner Mauer ist es, kein Schwarz-Weiß-Bild zu zeichnen, sondern die Vielschichtigkeit historischer Prozesse zu verdeutlichen. Wer in der Bernauer Straße im ehemaligen Grenzstreifen steht und auf den Wachturm blickt, versteht unweigerlich, welchem Risiko sich Menschen ausgesetzt haben, die versucht haben, die Mauer zu überwinden und aus der DDR zu fliehen. Gleichzeitig hat es jedoch auch einen Alltag an und mit der Mauer gegeben, dem in den Ausstellungen und im Programm der Stiftung Berliner Mauer Raum gegeben wird. Damit folgt die Stiftung den Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von 2006, Herrschaft und Alltag zusammenzudenken und auf diese Weise anschlussfähig für die Erinnerung vieler Menschen zu sein (vgl. Sabrow u. a. 2007). Die Authentizität des historischen Ortes und der Erhalt und die Dokumentation der historischen Spuren sind essentiell für die Arbeit der Stiftung. Der historische Ort wirft Fragen auf, die nicht abschließend beantwortet werden können, aber wenn die Besucher*innen außerschulischer Lernorte sie mit nach Hause nehmen und in ihren Familien thematisieren, kann dies einen Beitrag zur Aufarbeitung von DDR-Geschichte in der Gesellschaft leisten.

Die Geschichte des Kalten Krieges erzählen

Berlin war ein Hotspot des Kalten Krieges. Hier zeigte sich die globale Systemkonfrontation auf besonders dramatische Weise und in ikonisch verdichteter Form, wenn man etwa an die Aufnahmen der Luftbrücke von 1948/49 oder der Panzerkonfrontation von 1961 denkt. Und doch ist der Kalte Krieg in der Berliner Geschichts- und Erinnerungslandschaft eher unterrepräsentiert. Die Erinnerung an die Alliierten wird streng geteilt wahrgenommen. In Berlin-Zehlendorf befindet sich das Alliierten-Museum, das den drei westlichen Schutzmächten gewidmet ist. In Berlin-Karlshorst liegt dagegen das Deutsch-Russische Museum, das angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine vor großen Herausforderungen steht. Am ehemaligen Checkpoint Charlie gibt es seit 1963 zwar ein privat geführtes Mauermuseum, das jedoch weit hinter heutige museale Standards zurückfällt und selbst eher ein Relikt des Kalten Krieges ist (vgl. Hochmuth 2017). Dabei wird der Checkpoint Charlie weltweit als Erinnerungsort des Kalten Krieges wahrgenommen und jährlich von etwa 4 Millionen Menschen besucht, die vor Ort bislang jedoch kein angemessenes museales Angebot vorfinden.

Die Stiftung Berliner Mauer setzt sich seit 2016 dafür ein, auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle Friedrichstraße direkt am Checkpoint Charlie ein neues Museum einzurichten, das unter der Trägerschaft der Stiftung ein moderner Erinnerungsort mit besonderen pädagogischen Angeboten und Möglichkeiten sein soll. Das Ziel des geplanten Museums ist es, ausgehend vom Checkpoint Charlie die globale Dimension der Systemkonfrontation zwischen Ost und West zu vermitteln. Die Ereignisse in Berlin sollen in den historischen Zusammenhang mit den heißen Kriegen in Korea, Vietnam und Afrika gestellt werden. Auf diese Weise sollen die zahlreichen internationalen Besucher*innen, die den Checkpoint Charlie aufsuchen, ein anschlussfähiges Erinnerungsangebot vorfinden, das ihnen dabei helfen kann, die Ost-West-Konfrontation besser zu verstehen und eine Sensibilität dafür zu entwickeln, dass die Systemauseinandersetzungen des Kalten Krieges vor allem im globalen Süden ausgefochten wurden.

Tourismus als Chance begreifen

Die Besucherströme am Checkpoint Charlie sind ein gutes Beispiel für die ungebrochene Anziehungskraft, die von Berlin im internationalen Städtetourismus ausgeht. Bis zum Ausbruch der globalen COVID-19-Pandemie wuchs der Berlin-Tourismus jedes Jahr um bis zu 8 % mit zuletzt fast 14 Millionen registrierten Besucher*innen jährlich (2019). Für die Erinnerungslandschaft in Berlin bildet diese Entwicklung eine doppelte Herausforderung. Zum einen übersteigen die zahlreichen Tourist*innen aus aller Welt zusehends die Kapazitätsgrenzen vieler Museen und Gedenkstätten, ganz abgesehen vom angespannten Berliner Mietmarkt, der die Stadt durch die Vielzahl von Ferienwohnungen vor eine starke innere Zerreißprobe stellt. Zum anderen müssen sich die Berliner Museen und Gedenkstätten auf ein internationales Publikum einstellen, das zum Teil über einen gänzlich anderen erinnerungskulturellen Hintergrund verfügt. Dabei besteht die Herausforderung darin, die internationalen Besucher*innen abzuholen, aber nicht allein bei der Bestätigung der vorab bestehenden Erwartungen zu verharren, sondern neue erinnerungskulturelle Perspektiven zu vermitteln.

Gedenkstätte Berliner Mauer Foto: Alexander Rentsch/Kulturprojekte Berlin

An den Gedenk- und Erinnerungsorten der Stiftung Berliner Mauer gibt es Angebote für unterschiedliche Ausgangssituationen: Überblicksführungen können sowohl in der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße als auch an der East Side Gallery in neun Fremdsprachen und in leichter Sprache gebucht werden. Zudem gibt es leicht zugängliche Angebote wie After-Work-Führungen oder aber mehrtätige Seminare, bei denen eine Führung mit einem Zeitzeugengespräch kombiniert wird oder eine Gruppe sich dem Thema „Migration – Flucht – Ankommen“ über ein mehrstündiges Planspiel widmet. In Zukunft wäre es wünschenswert, das Angebot für Tourist*innen gerade an unbekannteren Orten wie der Gedenkstätte Günter Litfin oder dem Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt im Berliner Regierungsviertel auszubauen und mehr fremdsprachliche Angebote zu entwickeln. Auch die Veranstaltungen könnten über Streaming in digitaler Form mit englischen Untertiteln und Gebärdensprache angeboten und damit einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.

Postkoloniale Perspektiven entwickeln

Die deutsche Erinnerungskultur fokussierte lange insbesondere auf der Geschichte des Nationalsozialismus und der deutschen Teilung. In den letzten Jahren wird diese Perspektive zusehends erweitert. Im Zuge der globalen postkolonialen Debatte wird immer stärker eine kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit gefordert. Dies beschränkt sich nicht allein auf die vergleichsweise kurze Geschichte der deutschen Kolonien in Afrika und Ozeanien und mögliche Entschädigungszahlungen an die Nachfahren der Opfer, sondern zielt vor allem auf die Persistenz kolonialer Denkmuster und den strukturellen Alltagsrassismus in der deutschen Gesellschaft (vgl. Geiger/Melber 2021, S. 21). Debattiert wird dabei, inwieweit die postkoloniale Perspektive eine Erweiterung der bestehenden Geschichtskultur bildet oder aber die Singularität des Holocaust in Frage stellt (vgl. die Debatte um den Beitrag von Conrad 2021). NS-Geschichte und Kolonialgeschichte sollten jedoch nicht gegeneinander ausgespielt werden, zumal die DDR-Geschichte dabei Gefahr läuft, gänzlich „hinten runter“ zu fallen (vgl. Aselmeyer/Jehne/Müller 2022). Vielmehr sollte es darum gehen, die bestehenden erinnerungskulturellen Erzählmuster kritisch zu hinterfragen und postkoloniale Perspektiven zu integrieren. Die Gedenkstätten und Museen in Berlin tragen hierbei eine besondere Verantwortung, wie die Debatte um die Raubkunst im neueröffneten Humboldt Forum zeigt.

Im Zuge der globalen postkolonialen Debatte wird immer stärker eine kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit gefordert.

Für die Stiftung Berliner Mauer ist es wichtig, viele – und gerade auch unterschiedliche – Perspektiven zu thematisieren. Im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 32. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2021 war mit Ibraimo Alberto ein ehemaliger DDR-Bürger Hauptredner. 1963 in Mosambik in die Familie eines Medizinmannes auf der Farm eines portugiesischen Großgrundbesitzers geboren, ging er 1981 als Vertragsarbeiter in die DDR. Er träumte davon, ein Sportstudium zu absolvieren, wurde stattdessen aber im Fleischkombinat Berlin als Fleischer ausgebildet. Er begann zu boxen und nahm erfolgreich an mehreren Wettkämpfen in der DDR und im Ausland teil. 1990 zog er von Berlin nach Schwedt und boxte in der Bundesliga. Zudem absolvierte er eine Ausbildung als Sozialarbeiter. In Schwedt wurde Alberto Stadtverordneter und Ausländerbeauftragter. Seine Biografie war auch geprägt von Hass und Rassismus Anfang der 1990er Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. 2011 verließ er Schwedt aufgrund andauernder rassistischer Übergriffe auf ihn und seine Familie. Hier zeigt sich, dass die postkoloniale Geschichte und die DDR-Geschichte deutliche Berührungspunkte haben.

Der postmigrantischen Gesellschaft Rechnung tragen

Die Berliner Museen und Gedenkstätten fokussieren nicht nur in prominenter Weise auf die deutsche Zeitgeschichte. Sie richten sich bislang auch vor allem an ein deutschstämmiges Publikum. Dabei besitzt jeder zweite Mensch, der heute in Deutschland geboren wird, einen Migrationshintergrund. Um eine größere Teilhabe zu ermöglichen, kommt es daher darauf an, in der Erinnerungskultur migrantische Perspektiven aufzunehmen und neue Zielgruppen zu erschließen. Mehrere Berliner Museen und Gedenkstätten haben mit Fördermitteln des Berliner Senats in den vergangenen Jahren Outreach-Stellen eingerichtet. Ziel des Outreach ist es, die Reichweite der jeweiligen Einrichtung hinsichtlich Publikum, Programm, Personal und Zugang zu erhöhen und dabei auf ein diversitätskompetentes Arbeiten hinzuwirken. Die Mitarbeiter*innen sollen dabei nicht nur nach außen wirken und neue Bildungsangebote für breitere Kreise entwickeln, sondern auch innerhalb der Einrichtung die Sensibilität für das Thema fördern und zur sprachlichen Präzisierung der Vermittlungsarbeit beitragen.

Die Stiftung Berliner Mauer hat seit 2018 eine solche Stelle in der Abteilung für historisch-politische Bildung, die sich engagiert, stärker in die Kieze rund um die unterschiedlichen Erinnerungsorte zu wirken: In der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde ist dies umso wichtiger, weil ein Teil des Geländes vom Internationalen Bund als Notunterkunft für geflüchtete Menschen aus europäischen und außereuropäischen Krisen- und Kriegsgebieten genutzt wird. Der oft geforderte Aktualitätsbezug ergibt sich hier bereits aus der räumlichen Nachbarschaft und ihrer Dynamik. Das Thema Migration soll zukünftig noch stärker in den Mittelpunkt der Arbeit und des Programms der Erinnerungsstätte gestellt werden, indem gezielt Kooperationen und gemeinsame Projekte initiiert werden. Veranstaltungsformate wie Erzählcafés können Netzwerke stärken und Betroffenen einen geschützten Raum für Austausch und Dialog und die Chance bieten, sich mit der Geschichte des Ortes zu beschäftigen.

Digitale Formate nutzen

Die Digitalisierung der Gesellschaft prägt auch die Geschichtskultur: Zum einen ist die Distribution historischer Inhalte nicht mehr vorrangig staatlich geförderten Institutionen vorbehalten, sondern durch das Internet und die sozialen Medien ungleich vielfältiger als zuvor. Dadurch können mehr Menschen an der erinnerungskulturellen Wissensproduktion teilhaben, aber auch problematische und tendenziell geschichtsverzerrende Inhalte viel leichter in Umlauf geraten. Zum anderen stellt die prinzipiell unbegrenzte digitale Verfügbarkeit historischen Wissens viele Bildungseinrichtungen vor neue Herausforderungen, weil in mancherlei Hinsicht kein Besuch vor Ort mehr nötig ist. Allerdings zeigt sich, dass die Aura des Authentischen weiterhin ungebrochen ist und digitale Angebote eher als Ergänzung der Präsenzangebote wahrgenommen werden (vgl. Hochmuth 2022, S. 183). Dies gilt nicht zuletzt vor allem für die sozialen Medien, die zur virtuellen Verifizierung des Besuchs verwendet werden. Dieses Nutzungsverhalten lässt sich produktiv machen, indem digitale Zusatzangebote der Museen und Gedenkstätten hier anknüpfen.

Foto: Stiftung Berliner Mauer

Die Digitalisierung bedeutet eine große Chance für die Erinnerungsarbeit. Es ist möglich, mit den digitalen Besucher*innen eine Zielgruppe anzusprechen, die vielleicht nicht die Möglichkeit hat, in Berlin historische Orte zu besuchen oder an einer Veranstaltung teilzunehmen. Diese Gruppe kann aber online und über die sozialen Medien historische Inhalte aufnehmen. Außerschulische Lernorte können von audiovisuellen Inhalten und gegenseitiger Teilhabe sehr profitieren, indem etwa historische Bilder und Erläuterungen sowie Mitschnitte von Veranstaltungen online bereitgestellt werden oder Online-Recherchen in Datenbanken ermöglicht werden. Netzwerke und Diskussionen können online weiterentwickelt werden. Ein Beispiel aus der Arbeit der Stiftung Berliner Mauer ist das Projekt „Mauergeschichten“, eine Website zur Dokumentation vorhandener Mauerspuren (www.stiftung-berliner-mauer.de). Nutzer*innen können hier eigene Bilder von historischen Spuren machen oder aber – wenn sie nicht vor Ort sind – sich intensiv über die Bilder der anderen über das Thema informieren. Außerdem erweitert die Digitalisierung die Möglichkeiten und Verbreitungsformen historischer Aufarbeitung: So können Podcasts, Apps oder Online-Ausstellungen die Informationsdichte vertiefen, ohne viel Platz vor Ort zu beanspruchen. Mehrsprachige Angebote können integriert werden und zum Beispiel Audiowalks und Online-Tourguides die individuellen Möglichkeiten eines Besuchs sinnvoll ergänzen und Interessierte inspirieren, historische Orte zu erkunden.

Außerschulische Lernorte können von audiovisuellen Inhalten und gegenseitiger Teilhabe sehr profitieren, indem etwa historische Bilder und Erläuterungen sowie Mitschnitte von Veranstaltungen online bereitgestellt werden oder Online-Recherchen in Datenbanken ermöglicht werden.

Ausblick

Die Zukunft der Erinnerung wird anders aussehen, als wir sie uns heute vorstellen können. Die gegenwärtigen Krisen werden der Erinnerungskultur ihren Stempel aufdrücken. Zugleich bleiben die hier skizzierten Herausforderungen bestehen. Sie können aber auch als Chance verstanden werden. Zwei Aspekte sind dabei besonders relevant: Zum einen geht es um eine systematische Perspektivenerweiterung, sei es durch eine Integration der DDR-Geschichte oder durch postkoloniale und postmigrantische Perspektiven. Zum anderen steht Partizipation und die Frage nach mehr Teilhabe durch breitere Bildungsangebote, gemeinsame Gesprächsforen und digitale Formate im Fokus. Partizipation bedeutet dabei auch, Widersprüche zuzulassen und auszuhalten, weil dadurch kritische Reflexion entstehen kann. Gerade an außerschulischen Lernorten gilt es, diese Reflexion weiterzuentwickeln. Dabei ist es wichtig, historische Prozesse als Kontinuum zu begreifen, ohne künstliche Zusammenhänge zu konstruieren. Es ist zu erwarten, dass auch in Zukunft unterschiedliche Anlässe und geschichtspolitische Bedarfe sowohl Orte des kollektiven Erinnerns wie auch des individuellen Opfergedenkens erfordern. In beiden Fällen werden die historischen Orte zentral für die Erinnerungsarbeit sein.

Zur Autorin/zum Autor

Hannah Berger (*1978) arbeitet als Pressesprecherin und Leiterin der Abteilung für Kommunikation und Veranstaltungen seit 2012 in der Stiftung Berliner Mauer. Sie hat in Berlin und Paris Französische Philologie, Neuere Geschichte sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaft studiert.
berger@stiftung-berliner-mauer.de
Dr. Hanno Hochmuth (*1977) arbeitet als wissenschaftlicher Referent am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und lehrt Public History an der Freien Universität Berlin, wo er selbst Geschichte studiert hat. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Berliner Mauer und forscht zur Zeitgeschichte Berlins.
hochmuth@zzf-potsdam.de

Literatur

Aselmeyer, Norman/Jehne, Stefan/Müller, Yves (2022): „Die DDR hat’s nie gegeben“. Leerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte. In: Merkur, Nr. 879, September 2022
Beattie, Andrew H. (2008): Playing Politics with History: The Bundestag Inquiries into East Germany. New York: berghahn
Conrad, Sebastian (2021): Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert. In: Merkur, Nr. 867, August 2021
Ganzenmüller, Jörg/John, Anke/Kuller, Christiane (2020): Die Ostdeutsche Erfahrung. Auswege aus einem polarisierenden Deutungskampf über unsere Geschichte vor und nach 1989. In: Böick, Marcus/Goschler, Constantin/Jessen, Ralph (Hrsg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2020. Berlin: Christoph Links Verlag, S. 95–119
Geiger, Wolfgang/Melber, Henning (2021): Der deutsche Kolonialismus und seine Wirkungen. In: Dies. (Hrsg.): Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und Geschichtsvermittlung. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 11–30
Hochmuth, Hanno (2017): Berliner Schattenorte. Authentizität und Histotainment im Rom der Zeitgeschichte. In: Eisenhuth, Stefanie/Sabrow, Martin (Hrsg.): Schattenorte. Stadtimages und Vergangenheitslast. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 59–72
Hochmuth, Hanno (2017): Contested Legacies. Cold War Memory Sites in Berlin. In: Jarausch, Konrad H./Etges, Andreas/Ostermann, Christian (Hrsg.): The Cold War. History, Memory, Representation. Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, S. 283–299
Hochmuth, Hanno (2022): Geschichtstourismus. In: Saupe, Achim/Sabrow. Martin (Hrsg.): Handbuch Historische Authentizität. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 178–184
Hüttmann, Jens (2004): Die „Gelehrte DDR“ und ihre Akteure: Inhalte, Motivationen, Strategien: die DDR als Gegenstand von Lehre und Forschung an deutschen Universitäten. Unter Mitarbeit von Peer Pasternack. Wittenberg: Institut für Hochschulforschung
Jarausch, Konrad H. (Hrsg.) (2008): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Klemke, Rainer E. (2011): Das Gesamtkonzept Berliner Mauer. In: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. München: dtv Verlagsgesellschaft, S. 377–394
Rudnick, Carola S. (2011): Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989. Bielefeld: transcript Verlag
Sabrow, Martin (2008): Das Unbehagen an der Aufarbeitung. Zur Engführung von Wissenschaft, Moral und Politik in der Zeitgeschichte. In: Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 11–20
Sabrow, Martin u. a. (Hrsg.) (2007): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Göttingen: Brill Deutschland