Außerschulische Bildung 4/2022

Die Zukunft der Erinnerung

Herausforderungen der Geschichtskultur in Berlin

Der Beitrag skizziert die Entwicklung von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik seit den 1970er Jahren in Deutschland und zeigt sechs Herausforderungen und Chancen der gegenwärtigen Geschichtskultur auf: Die Integration von DDR-Geschichte, das Erzählen der Geschichte des Kalten Krieges, den Tourismus, die Berücksichtigung postkolonialer und postmigrantischer Perspektiven und die Digitalisierung. Sie werden am Beispiel Berlins und der unterschiedlichen historischen Erinnerungsorte der Stiftung Berliner Mauer diskutiert. von Hannah Berger und Hanno Hochmuth

Erinnerung und Aufarbeitung sind zwei Leitbegriffe unserer gegenwärtigen Geschichtskultur (vgl. Sabrow 2008). Sie ist getragen von dem Bestreben, die eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten, um aus der Geschichte lernen zu können. Auf diese Weise sind in unserer Geschichtskultur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eng miteinander verknüpft. Dies war jedoch nicht schon immer so. Die Geschichtskultur unserer Gegenwart hat selbst eine Geschichte. Sie ist eng verbunden mit dem Utopieverlust der 1970er Jahre. Im Zeichen der damaligen Ölkrisen ging der Glaube an den Fortschritt und die Zukunft verloren (vgl. Jarausch 2008). Zugleich setzte ein bemerkenswerter Geschichtsboom ein, der sich nicht in bloßer Nostalgie erschöpfte, sondern die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus suchte. An die Stelle der früheren heroischen Erinnerung an tatkräftige Männer rückte seit den 1980er Jahren eine postheroische Erinnerung, die das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt rückte. Dies war ein konfliktreicher Prozess, der in der alten Bundesrepublik letztlich jedoch zu einem erinnerungskulturellen Konsens führte. Der Holocaust wurde zum zentralen deutschen Erinnerungsort.

Damit einher ging eine starke Institutionalisierung des Erinnerns. Viele erinnerungspolitische Initiativen hatten als zivilgesellschaftliche Graswurzelbewegungen begonnen und erfuhren nun eine institutionelle Förderung durch die staatliche Geschichtspolitik. 1998/99 verabschiedete die Bundesregierung zum ersten Mal ein Gedenkkonzept und richtete zudem das Amt einer/s Bundesbeauftragten für Kultur und Medien ein, in dessen Ressort fortan die großen Geschichtsmuseen der Ära Kohl und die Gedenkstätten von nationaler Bedeutung fielen. Zugleich wurde der Anspruch, die eigene Geschichte kritisch zu betrachten, nach 1989/90 auch auf die DDR ausgeweitet. Die Geschichte der SED-Diktatur sollte nicht verschwiegen oder verdrängt werden, sondern unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Regimes kritisch aufgearbeitet werden. So rief der Deutsche Bundestag in den 1990er Jahren zwei Enquete-Kommissionen ins Leben und richtete 1998 die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ein (vgl. Beattie 2008). Damit etablierte sich die kritische Aufarbeitung auch im Umgang mit der DDR-Geschichte zum erinnerungskulturellen Standard, wenngleich bei der Erinnerung an die DDR kein vergleichbarer Konsens erreicht werden konnte (vgl. Rudnick 2011).

In Berlin zeigen sich die erinnerungskulturellen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in verdichteter Form. Gedenkstätten von überregionaler Bedeutung erinnern daran, dass Berlin die Hauptstadt des NS-Regimes und der Sitz der Täter war. Seit 2005 nimmt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas nicht nur topografisch, sondern auch erinnerungskulturell einen zentralen Platz in der deutschen Bundeshauptstadt ein. Die Erinnerung an die deutsche Teilung und an den Kalten Krieg bildet die zweite wichtige Erinnerungsschicht in Berlin, das auch als das „Rom der Zeitgeschichte“ beschrieben wird (vgl. Hochmuth 2017). 2006 verabschiedete der Senat von Berlin das dezentrale Gedenkkonzept an die Berliner Mauer und die Teilung der Stadt (vgl. Klemke 2011). Dessen wichtigstes Ergebnis war die Einrichtung der Stiftung Berliner Mauer, die seit 2009 die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße betreibt. Mit über einer Million Besucher*innen pro Jahr vor der Pandemie etablierte sich die Gedenkstätte zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte in Berlin. Seit ihrer Gründung wurde die Stiftung stetig erweitert: Neben der Gedenkstätte Berliner Mauer und der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde verantwortet die Stiftung seit 2018 auch die Gedenkstätte Günter Litfin und die East Side Gallery und seit 2021 das Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt. Zudem erarbeitet sie ein Konzept für einen Erinnerungs- und Lernort am ehemaligen Checkpoint Charlie.