… ist auch eine Verteilungsfrage
In freier Anlehnung an Augustinus kann man drei Dimensionen von Gegenwärtigem ausmachen: Die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Gegenwart und die Gegenwart der Zukunft (vgl. Augustinus 401, 11. Buch, 20. Kap./26. Abschn.). Gewendet auf das Thema dieses Beitrags könnte das bedeuten, dass die Zukunft des Arbeitens auch im Gegenwärtigen zu finden ist, wie dieses wiederum auf dem Weiterwirken von (vermeintlich) Vergangenem beruht. Der Blick auf die Vergangenheit lohnt sich allemal. Wenn er gut aufbereitet ist wie bei Klaus Türk (2000), kann er über die Unmassen der Literatur über die vergangene Gegenwart der Arbeit bzw. des Arbeitens und dessen Zukünfte Zukünfte hieß eine von 1991 bis 2008 erschienene Zeitschrift, die von Robert Jungk, einer Leitfigur der kritischen Zukunftsforschung, mitbegründet wurde (www.netzwerk-zukunft.de/index.php/ueber-zukuenfte.html; Zugriff: 20.01.2021). Zukünfte verweist begrifflich auf politische Gestaltbarkeit und Alternativen. orientieren. Das zu leisten, ist hier nicht beabsichtigt. Eher ausschnitthaft sind hier Themen angesprochen, die für wichtig erachtet werden. Etwa vergangene Zukünfte der Arbeit, das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit, die mit der Arbeit verbundenen Verteilungsfragen. Aus diesen Impressionen ergeben sich mehr offene Fragen als Antworten. Zum Schluss wird allerdings die Behauptung aufgestellt, dass die Gestaltung der Zukunft der Arbeit ein politisches Projekt darstellt, das einen zentralen Beitrag zur Sicherung eines demokratischen Gemeinwesens leisten kann.
Eine vergangene Zukunft der Arbeit
Die Universalisierung der Industriearbeit als Modus des Arbeitens bestimmte Jahrzehnte den Erwartungshorizont der sozialistischen Arbeiterbewegung. Technik, Organisation, Produktivität und Profitabilität schienen augenscheinlich – aber natürlich nicht unbedingt empirisch – so überlegen, dass sie sich naturnotwendig gegen andere Produktionsformen durchsetzen mussten. Verbunden damit war die Erwartung, dass die diese Produktionsweise tragende arbeitende Bevölkerung die Mehrheit bilden würde. Auch dies war mehr Wunschtraum als realistische Beobachtung. Vornehmlich die Entwicklung der Arbeitsproduktivität trug dazu bei, dass sich dies anders entwickelte. Der arbeitssparende technische Fortschritt fand überwiegend im Sektor der Industrie statt, sodass nun gerade dort eine Bremse der Beschäftigung und damit des Wachstums der industriellen Lohnarbeiterschaft „naturwüchsig“ stattfinden musste. Es ist gewissermaßen dieser Erfolg des Industriekapitalismus, dass die auf die industrielle Arbeiterschaft gestützten Transformations- oder Revolutionsvorstellungen nie eine breite gesellschaftliche Mehrheit in den entwickelten Industriegesellschaften des Westens erringen konnte.
Auf der anderen Seite waren und sind die industriellen Unternehmen in ihrer Gesamtheit während dieser langen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert politisch und ökonomisch derart wirkmächtig, wandlungs- und strategiefähig, dass eine ernsthafte Infragestellung ihrer Gestaltungsmacht allenfalls in gesamtgesellschaftlichen, außerökonomischen Krisensituationen erfolgen konnte. Ihre Organisationsmodi wurden Vorbild all jener Industrialisierungsstrategien der Länder des globalen Ostens und des Südens. Die wenigsten Länder, die eine Industrialisierungsstrategie verfolgten, waren dabei erfolgreich. Aber auch die vormaligen industriellen Champions erfuhren einen industriellen Niedergang. Die ehemalige „Werkstatt der Welt“ Großbritannien erlebte nach dem zweiten Weltkrieg einen solchen, die USA seit den siebziger Jahren, die Sowjetunion, das am jüngsten industrialisierte Land, spätestens seit den Achtzigern. Es ist eher verwunderlich, dass ehemalige sogenannte Latecomer des 19. Jahrhunderts wie Deutschland und Japan heutzutage weiterhin noch als Industriegesellschaften wahrgenommen werden. Die „Sicherung industrieller Kerne“ ist immer noch ein zentrales Axiom des bundesrepublikanischen wirtschaftspolitischen Konsenses. Wenn auch die Strategien, die dies gewährleisten sollen, durchaus Unterschiede aufweisen.
Die Universalisierung der Industriearbeit als Modus des Arbeitens bestimmte Jahrzehnte den Erwartungshorizont der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Ironischerweise hängt der Industriegesellschaftsstatus mit einer absichtsreichen Verballhornung zusammen, die der zeitweise populäre Ökonom Hans Werner Sinn 2005 unter dem Begriff Basarökonomie Ziel seiner Initiative war es, durch drastische Lohnsenkungen „verlorene“ Industriearbeitsplätze in Deutschland wieder zurückzugewinnen. vor mehr als 15 Jahren in die Welt gesetzt hatte. Der rationale Kern des Basarökonomietheorems war nämlich die Etablierung von globalen Wertschöpfungsketten durch transnational agierende Industrieunternehmen, die im Zuge der Globalisierung möglich wurde. Und dabei waren die Unternehmen aus den Ländern des „industriellen Niedergangs“ sehr erfolgreich – allerdings auf Kosten der Beschäftigung traditioneller industrieller Arbeitskräfte zu Hause. Wenn wir heute von einem industriellen Kapitalismus sprechen, dann müssen wir uns ihn als ein globales Phänomen vorstellen, das durch regionale Zentren der Produktion und Beschäftigung gebildet wird – mit außerordentlich heterogenen Arbeitsbedingungen. Das ist nicht neu, wie uns die historische Forschung belehrt. Marcel van der Linden (2017) bietet hierzu einen breit angelegten Überblick. Von hochgradig regulierten und sozial geschützten Formen der Arbeit bis hin zu Formen der Zwangsarbeit.
Die Gegenwart der Vergangenheit
Für durchschnittliche Westeuropäer*innen muss dies als die geographisch ferne Gegenwart der Vergangenheit erscheinen. Zeitlich ist dies weniger fern, als man gemeinhin meint. Schaut man nur ein dreiviertel Jahrhundert zurück und sucht die Orte der Industrialisierung beispielsweise in der Sowjetunion auf, findet man ebensolche Kombinationen von Zwangsarbeit, facharbeitsgestützter industrieller Massenproduktion und Ingenieurskunst, die den Vergleich zu heutigen Produktionsprozessen von Smartphones nicht zu scheuen brauchen. Der Mythos der „sauberen Arbeit“ im smarten Kapitalismus kann nur dann ernsthaft vertreten werden, wenn konsequent alle Vorproduktionsprozesse seiner Produkte ausgeblendet und verdeckt werden und der Blick ausschließlich auf die Anwendung der High-Tech-Produkte durch Konsument*innen und „saubere Betriebe“ gerichtet wird (vgl. sehr knapp: Fuchs 2015). Gleiches gilt ohne Abstriche auch für den ältesten industriellen Sektor, die Textilindustrie. Dies hat viel mit dem Schein zu tun, jenem eigentümlichen Unsichtbarmachen des realen Wertschöpfungsprozesses in einer kapitalistisch organisierten Warenproduktion, was Marx schon im 19. Jahrhundert umtrieb.
Der Mythos der „sauberen Arbeit“ im smarten Kapitalismus kann nur dann ernsthaft vertreten werden, wenn konsequent alle Vorproduktionsprozesse seiner Produkte ausgeblendet und verdeckt werden und der Blick ausschließlich auf die Anwendung der High-Tech-Produkte durch Konsument*innen und „saubere Betriebe“ gerichtet wird.
Die Gegenwart der Zukunft
Um bei Marx kurz zu verweilen: In jüngster Zeit wird wieder viel darüber räsoniert, inwieweit seine berühmten Passagen im Maschinenfragment der Grundrisse (vgl. Marx 1857/1976, S. 581 ff.) eine kluge Vorwegnahme automatisierter Produktionsprozesse im 21. Jahrhundert darstellen. Und welche Implikationen sie für die Arbeit der Zukunft beinhalten. War es nicht Aristoteles, der schon darauf hinwies, dass man keine Sklaven mehr brauche, wenn man Maschinen hätte, die die notwendige Arbeit erledigten? (Vgl. 1992, Buch I 4.125 S. 16) Bezogen auf das weltgesellschaftliche Arbeitsvolumen und die „Empirie der Arbeiten“ sind aber diese Fragmente aus Marx‘ theoretischem Laboratorium begrifflich von großem Interesse, empirisch bezogen auf das weltgesellschaftliche Arbeitsvolumen aber eher belanglos. Möglicherweise genauso wie neosozialistische Strategien, die sich zentral hierauf beziehen (vgl. z. B. Mason 2016).
Bislang haben wir bereits eine vergangene Zukunft der Arbeit und den darauf bezogenen Erwartungshorizont der Arbeitenden kurz skizziert: den Industriekapitalismus. Nun geht es um die wahrnehmbare Gegenwart der Zukunft. Hier wird von deutungsstarken Arbeitssoziologen wie Klaus Dörre (2019), empirisch deutlich geerdeter, diagnostiziert, dass sich vornehmlich die industrielle Arbeit derzeit und absehbar in einer krisenhaften Zangensituation befinde, die von den beiden Herausforderungen Klimawandel und Digitalisierung bestimmt sei, und die den Kern der industriellen Beschäftigung bedrohe. Bezogen auf die Zukunft der Arbeit nochmals brisanter: Diese Krise trifft jenen Sektor der industriellen Produktion wiederum besonders drastisch, der als der Kernsektor des industriellen Produktionsmodells etwa Nachkriegsdeutschlands galt: die Automobilindustrie. Dies ist zudem aus der Perspektive der dortigen Beschäftigten besonders besorgniserregend, weil eine Branche massiv getroffen wird, die bezogen auf die Regulierungsdichte der Arbeitsverhältnisse durch Arbeitgeber und Gewerkschaften, Betriebsräte und Politik besonders herausgehoben erscheint. Nicht zuletzt der gewerkschaftliche Organisationsgrad und der außerordentlich hohe Grad der Tarifbindung und das damit verbundene Einkommensniveau und Beitragsaufkommen machen den „Fall Automobil“ derzeit so zentral. Zumal er deutlich mehr mit globalen Nachfrageveränderungen und technischen Standards zusammenhängt, die lokal nur schwer zu beeinflussen, allenfalls zu moderieren sind. Trotzdem: Es ist schwer vorstellbar, dass das Ende der Automobilproduktion ähnlich verlaufen könnte wie das Ende des Kohlebergbaus in Deutschland über einen gesellschaftlichen Moderationsprozess von nahezu sechzig Jahren.
Eher schon über die Transformation à la Joseph Schumpeter via Produkt- und Prozessinnovationen, die parallel massive Folgen für den Typus der geleisteten Arbeit haben werden. Gesamtgesellschaftlich sinnvoll erscheint dies aber nur, wenn man an den Begriff des berühmten sozialdemokratischen Managers Edzard Reuter denkt, der in den achtziger Jahren aus Mercedes-Benz einen Mobilitätskonzern entwickeln wollte. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Robert Havemann (1980), einer der herausragenden Dissidenten der DDR, dem SED-Regime vorwarf, es hätte nicht einmal im Ansatz versucht, das Verkehrs- und Transportsystem anders zu organisieren als der Kapitalismus. Ironie der Geschichte: Das neue Tesla-Werk soll an Havemanns Rückzugsort Grünheide entstehen. Ob Elektromobilität und autonomes Fahren, für die Tesla auch symbolisch steht, als postfordistisches „grünes“ Mobilitätskonzept eine „sharing economy“ begründen, darüber kann man nur spekulieren. Ich betone: Es geht um die Idee des Mobilitätskonzerns, nicht um seine Vision der Dreifaltigkeit der Produktion von Autos, Flugzeugen und Eisenbahnen, sowie um einen sozial abgefederten, politisch moderierten Pfad des Branchenwandels in der Zukunft.
Obwohl sehr unterschiedlich betrieblich organisiert, haben sich der Care-Sektor und die Sozialwirtschaft, der Handels- und Logistikbereich als leidlich resistent gegenüber durchdringenden gewerkschaftlichen Organisationsversuchen erwiesen.
Im Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der betroffenen Industriearbeiter*innen ist allerdings derzeit schwerlich der Vorschein einer gar besseren Zukunft wahrnehmbar. Das liegt vornehmlich sicherlich auch daran, dass die Arbeitsplätze, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Bereich der industriellen Produktion ausgegliedert wurden oder außerhalb zusätzlich oder neu entstanden sind, nicht jenen immer noch anzutreffenden Standards des klassischen fordistischen Normalarbeitsverhältnisses in Industrieunternehmen entsprechen. Unbefristet, sozial abgesichert, Vollzeit, gewerkschaftlich repräsentiert, um nur die wichtigsten Kernbestandteile des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses zu benennen. Das generelle Wachstum der Dienstleistungsarbeiten ist unbestritten. Der quantitative Bedarf an qualifizierten Dienstleistungsbeschäftigten steigt seit Jahren, sodass der Wegfall industrieller Arbeitsplätze durchaus kompensiert werden könnte. Es droht also wegen der Transformation der Automobilwirtschaft nicht Massenarbeitslosigkeit. Wohl aber Einkommens- und Statusverlust bei gleichzeitig geringerer gewerkschaftlicher Repräsentanz und damit verbundenen niedrigerem kollektiven Schutzniveau. Das gilt im Übrigen von Amazon bis zum Pflegeheim. Obwohl sehr unterschiedlich betrieblich organisiert, haben sich der Care-Sektor und die Sozialwirtschaft, der Handels- und Logistikbereich Die Kostendegression im Transportsektor war ein wichtiger Treiber globaler Wertschöpfungsnetzwerke. als leidlich resistent gegenüber durchdringenden gewerkschaftlichen Organisationsversuchen erwiesen. Gleiches gilt für die Lebensmittelindustrie, den Tourismusbereich u. v. a. m. Ohne gewerkschaftliche Repräsentanz erhält man aber auch nicht die gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die zu korporatistischen Arrangements führt, allenfalls mitleidiges Bedauern oder wohlfeilen Applaus.
Arbeitsgesellschaftliche Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte
Interessanterweise kennen wir ein vergleichbares Arbeitsnarrativ wie im industriellen Sektor im Bereich der Dienstleistungsarbeit kaum. Hier dominieren deutlicher als im Kernbereich der industriellen Produktion die Vielgestaltigkeit von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten. Die Bedrohung der Arbeitsplätze und der Fachlichkeit der geleisteten Arbeit durch Technisierung war beispielsweise im Bildungssektor bis vor kurzem noch eine esoterische Schrulle. Parallel zur politisch forcierten Digitalisierung des Schulsystems, zusätzlich grundiert durch die Wahrnehmung von Rückständigkeit im internationalen Vergleich und der Herausforderung Pandemiebewältigung, wird daraus zunehmend eine als realistisch wahrgenommene Bedrohungskonstellation. Das ist zwar bezogen auf das allgemeinbildende Schulsystem wenig realistisch, hinkt doch selbst der Verwaltungsprozess im System Schule weit hinter den technischen Möglichkeiten her. Gleichwohl entwickelt sich an den Rändern des Sektors eine Dynamik, die über Rückkoppelungsmechanismen das bisherige Arbeitsarrangement in Schulen infrage stellen könnte. Veränderungsimpulse kommen aus den Bereichen der universitären Ausbildung und der beruflichen Weiterbildung, die entweder staatlichen Imperativen oder dem betrieblichen Rationalkalkül und der Marktnachfrage folgend hier deutliche Markierungen setzt. Damit geraten die Erfahrungsräume – Raum auch ganz banal natural gedacht – und die Erwartungshorizonte zukünftigen Lehrpersonals in Bewegung. Von der Kreidetafel zum Whiteboard und vom Polylux/Overheadprojektor zum Beamer und dem Computerkabinett des Informatikunterrichts seit den Siebzigern war es eine vergleichbar langsame Technisierung. Clouds und interaktive Lernsoftware, Homeschooling und Fernunterricht markieren einen technologischen Sprung, der die Kernsubstanz der Beruflichkeit, die pädagogische Kompetenz, das situative Handeln und das damit verbundene Erfahrungswissen mindestens tangieren wird. Und damit auch den sozialen Status, der bislang noch, gerade in Deutschland, durch den Bezug zum Beamtentum fundiert wird. Die Marktkonstellation hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass der Beamtenstatus wieder größere Bedeutung gewonnen hat, weil nur so die konkurrierenden Bundesländer attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten konnten. Inwieweit durch die zunehmende Höhergruppierung von Grundschullehrkräften auch eine Bewegung zur Wiederherstellung von Eingruppierungsabständen einsetzt, bleibt abzuwarten. Generell gilt eher: Sektoraler Fachkräftemangel muss nicht notwendigerweise zu besseren Arbeits- und Entlohnungsbedingungen führen, wie der Pflegesektor und die Tourismusbranche belegen.
Die Sorge um die Sorgearbeit
Von solchen Konstellationen können pflegende Angehörige nur träumen. Wer von der Zukunft der Arbeit redet, darf nicht aus dem Blick verlieren, dass es auch den Erfahrungsraum unbezahlter Arbeit gibt. Ein Blick auf das gesamtgesellschaftlich geleistete Arbeitsvolumen belegt, dass Erwerbsarbeit nur einen Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit umfasst. Unter Bezug auf die statistische Arbeitszeitverwendungsrechnung verhält sich die unbezahlte zur bezahlten Arbeit im Verhältnis drei zu zwei (vgl. Stahmer 2009, S. 22). Die exakte Relation ist nicht entscheidend. Sie bietet nur einen Hinweis auf Gestaltungsmöglichkeiten. Und natürlich auch auf das Gewicht der gesellschaftlichen Reproduktion, die vornehmlich nicht in Erwerbsbezügen erbracht wird. Private Sorgearbeit ist somit nicht nur zeitlich umfänglich, sondern auch – trotz des hohen Grades der Vergesellschaftung – zur gesellschaftlichen Reproduktion essentiell. Ihre Ungleichverteilung ist das Spiegelbild ungleicher Erwerbsmöglichkeiten vornehmlich entlang der Geschlechterlinie. Einkommen, Bildung und berufliche Autonomie markieren hier weitere – häufig kumulierte – Ungleichheitssachverhalte. Hier belegt die aktuelle Pandemie, dass der derzeitige gesellschaftliche Organisationsmodus der Arbeit an vielen Stellen Brüche aufweist, die im Kern vor allem auf einen Mangel an lebenslang existenzsichernder bezahlter Arbeit zurückzuführen ist.
Arbeit, Eigentum und Einkommen
Das Beruhigende an dieser eher impressionistischen Schilderung unterschiedlicher Erfahrungsräume gegenwärtiger Arbeiten ist: Der Gesellschaft geht die Arbeit nicht aus. Dabei ist noch nicht einmal in Rechnung gestellt, dass bezogen auf die Bewältigung des Klimawandels nicht weniger, sondern mehr gearbeitet werden muss. Die Kosten, die dafür in Anschlag gebracht werden, Vgl. „Stern Report“ 2006; https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20100407172811/http://www.hm-treasury.gov.uk/stern_review_report.htm (Zugriff: 20.01.2021) verweisen ja auf damit verbundene Arbeitsleistungen und nicht auf Nichtarbeit.
Für die Zukunft des Arbeitens könnte es essenziell sein, politische Projekte normativ daran zu messen, inwieweit sie gewährleisten, dass eine Mindestgarantie existiert, die eine lebenslange Reproduktion durch Erwerbsarbeit sicherstellt.
Das sagt aber nun nichts über die Organisationsformen der Arbeit und deren Gestaltungsperspektiven. Hier stehen sich Verwertungsimperative auf der einen Seite und Vergesellschaftungsperspektiven auf der anderen Seite gegenüber. Das hört sich altbackener an als es wirklich ist. Gerade bei den modernen Technologien, Branchen und Sektoren, den Plattformkonzernen, der Digitalwirtschaft, der Biotechnologie, deren Erfolg auf der Fähigkeit der Monopolisierung von Infrastrukturen, Datensätzen und Patenten beruht, ist eine gesellschaftliche Regulierung nicht nur Vorrausetzung weiteren technologischen Fortschritts. Und sei’s nur, um Markteintrittsbarrieren zu senken. Darüber hinaus, weil ein Großteil der Profit- und Rentierseinkommen auf gesamtgesellschaftlichen Vorleistungen wie staatlichen Subventionen und öffentlich finanzierter Grundlagenforschung beruhen (vgl. hierzu Mazzucato 2014). Vor allem aber, weil sie mittlerweile zu einem festen Bestandteil der lebensnotwendigen gesellschaftlichen Infrastruktur gehören.
Das gilt auch für die „traditionellen Infrastrukturen“, wie die Wasserversorgung, das Bildungssystem, die Verkehrsinfrastruktur, die Krankenversorgung usw. (so argumentiert das Foundational Economy Collective 2019). Nicht zufällig kommen Vorstellungen der Erweiterung der öffentlichen Verantwortung und kapitalistischen Produktion von grundlegenden Infrastrukturen aus Großbritannien, dem Land, das zu Beginn der 1980er Jahre anfing, konsequent weite gesellschaftliche Bereiche der privatkapitalistischen Verwertung zu öffnen. Noch in den neunziger Jahren konnte man in Deutschland Gewerkschafter sagen hören, dass es leidlich egal sei, ob sich ein Betrieb in privater Hand befinde oder in öffentlichem Eigentum, das sei für die Beschäftigten einerlei, solange sie unter den gleichen gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifvertrag fielen und durch Betriebsräte repräsentiert würden. Die seitherige Entwicklung hat das Gegenteil bewiesen. Am augenscheinlichsten wird dies an den Arbeitsbedingungen im mittlerweile weitgehend privatwirtschaftenden Krankenhaus- und Pflegebereich. Personell unterbesetzt, schlecht bezahlt, belastende Arbeitsbedingungen und mangelnde gewerkschaftliche Repräsentanz bilden hier den Rahmen. Von „Guter Arbeit“ im Sinne des DGB-Indexes kann hier nicht die Rede sein, sondern wie der entsprechende Report es zuspitzt: „Weiblich, systemrelevant, unterbezahlt“ und dann fortfährt, „besondere Belastungen entstehen aus atypischen Arbeitszeitlagen (Schicht-, Nacht-, Wochenendarbeit), denen die Beschäftigten vor allem in den Pflegeberufen häufig ausgesetzt sind. Gesundheitliche Belastungen entstehen zudem aus verbreiteten körperlichen Anforderungen und einer hohen Arbeitsintensität. Der Anteil der Beschäftigten in den vier betrachteten Berufsgruppen, die sich nach der Arbeit häufig leer und ausgebrannt fühlen, liegt deutlich über dem Durchschnitt der übrigen Berufsgruppen.“ (Institut DGB-Index Gute Arbeit 2020)
Ohne gesamtgesellschaftliche Verantwortung wird sich die Misere im Bereich des Pflegesektors nicht verändern lassen. Das Vertrauen auf gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit und Fachkräftemangel alleine wird nicht ausreichen. Der Anreiz, die Arbeit via Technisierung zu rationalisieren und belastungsärmer zu organisieren, scheitert vielfach an entsprechender Technologie und niedrigen Arbeitskosten. Die alte gewerkschaftliche Vision einer „Rationalisierungspeitsche“, die Viktor Agartz in den fünfziger Jahren propagierte, versagt hier, „Eine expansive Lohnpolitik (…) zugleich das wirksamste Mittel, die Betriebe laufend zu höherer Rationalität anzuhalten, die Produktivität zu steigern und damit die Lohnexpansion zu fundamentieren.“ (Agartz 1953, S. 246) weil dafür viele Voraussetzungen fehlen.
Umverteilung als gesellschaftliches Projekt?
Für die Zukunft des Arbeitens könnte es somit essenziell sein, politische Projekte normativ daran zu messen, inwieweit sie gewährleisten, dass eine Mindestgarantie existiert, die eine lebenslange Reproduktion durch Erwerbsarbeit sicherstellt. Das bisherige Sicherungsniveau in Deutschland ist hiervon weit entfernt, wie etwa die Relation von lebenslangem Vollzeitmindestlohnbezug und Rentenhöhe belegt. Jegliche Form von Klimaschutzpolitik – etwa das Konzept eines New Green Deals – bekommt eine Schlagseite, verliert an Zustimmung und provoziert Gegnerschaft, wenn dies nicht nur bei unmittelbar Betroffenen, sondern auch bei der breiten Mehrheit der Beschäftigten nicht glaubwürdig eingebettet werden kann in eine Arbeitspolitik, die sich an den Normen „Guter Arbeit“ orientiert (vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit 2020). Ganz offenbar damit verbunden wäre auch eine neue „Kultur der öffentlichen Güter“. Neben den alten Infrastrukturen, die seit den Deregulierungs- und Marktöffnungswellen seit den achtziger Jahren immer häufiger ihre Funktion nicht erfüllen, gehören auch die neuen digitalen Infrastrukturen dazu. Deren gesellschaftliches Machtpotenzial schreit nach demokratischer Kontrolle. Damit verbunden sein müsste die staatliche Abschöpfung dort anfallender Rentierseinkommen. John Stuart Mill, der Ahnherr des Linksliberalismus, forderte schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine konfiskatorische Erbschaftsteuergesetzgebung, hielt allerdings die progressive Einkommensteuer für dysfunktional und ungerecht (vgl. zum historischen Kontext Myrdal 1932, S. 207 ff.). Nicht erst seit Thomas Piketty (vgl. dazu v. a. Bofinger et al. 2015) wissen wir, dass sich die Einkommens- und Vermögenverteilung in den letzten Jahrzehnten so grundlegend zu Ungunsten der unteren und durchschnittlichen Einkommensbezieher*innen entwickelt hat, sodass selbst John Stuart Mill heute möglicherweise seine Meinung revidieren würde.
Was, wenn das nicht gelingt?
Eine Reform zugunsten eines „Guten Kapitalismus“ (Dullien et al. 2015), wie er kurz nach der Finanzkrise von kritischen Ökonomen vorgeschlagen wurde, ist ein Jahrzehnt später noch dringlicher geworden, die mühsam errungenen Positionsgewinne der Beschäftigten bezogen auf Einkommenszuwächse und Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und Zukunftsunsicherheit schmelzen in der derzeitigen Krise dahin, wie der Schnee in der Sonne. Die Instrumente sind vorhanden, auf eine solche Herausforderung angemessen zu reagieren, die politischen Mehrheiten nicht und auch die Zukunftsgewissheit der alten Arbeiterbewegung ist verloren gegangen. Wahrscheinlich zu recht! Gleichwohl, wie schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stellt sich die Frage: Wer wird die vorhandenen Instrumente und Konzepte zur Umgestaltung politisch umsetzen und welche Folgen hat dies für die Weltgesellschaft? Insofern gibt es nicht „die Zukunft des Arbeitens“, sondern allenfalls Zukünfte von Arbeiten. Wie damals stellt sich die Frage, wie global persönliche Freiheit, wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit in Übereinstimmung gebracht werden können. Ergänzt um den nachhaltigen Schutz der Biosphäre. Heute wie damals wird es kein liberales Projekt sein, aber möglicherweise ein demokratisches. Die Gefahr besteht allerdings ebenfalls wie damals, dass sich gerade autoritäre Regimes aus dem Instrumentenkasten „Trotzdem kann die Theorie der Produktion als Ganzes (…) viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden als die Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen Maßes von laissez-faire erstellten Produktion.“ (Keynes 1936, S. XI). Die Nähe Keynes zum Faschismus wurde von Marxisten-Leninisten und Neoliberalen wie Murray Rothbard behauptet; Bertram Schefold und Harald Hagemann (2006) haben dies als absichtsvolle Mär nachgewiesen. besser zu bedienen wissen als demokratische.
Zum Autor
rossbach@arbeitundleben-thueringen.de