Soziale Bewegungen in der Praxis politischer Bildung
Über die Entstehungen und die Dynamiken Sozialer Bewegungen herrscht vielerorts Unklarheit. Erklärungsnot kann dabei schon bei der Frage nach dem Wesen einer Sozialen Bewegung entstehen. Nicht einfacher wird es, wenn nach den Forderungen – müssen diese sozial sein? – gefragt wird, oder nach den Erfolgsfaktoren. Daher standen diese Fragen im Fokus des Seminars „We like to Move It!? Soziale Bewegungen in Deutschland und Europa“, das vom 2. bis 6. März 2020 an der Georg-von-Vollmar-Akademie in Kochel am See durchgeführt wurde und allen Interessierten offenstand.
Soziale Bewegungen als Teil der Gesellschaft – aber was sind sie?
Die Jahre 2010 bis 2019 sind als ein Jahrzehnt des Protests in die Geschichte eingegangen. Angefangen mit dem Arabischen Frühling, der Occupy Wallstreet-Bewegung und den Platzbesetzungen der Indignados in Spanien und des Syntagma-Platzes in Athen, bis zu den Erhebungen in Algerien, dem Widerstand gegen China in Hongkong und der Gelbwesten in Frankreich. Allein dieser kurze und unvollständige Überblick zur Einrahmung des letzten Jahrzehnts zeigt, dass Soziale Bewegungen ein Teil unserer modernen Gesellschaft sind und diese auch prägen. Dies gilt natürlich nicht nur für die internationale Ebene, sondern auch für Deutschland. Lange war die Arbeiterbewegung ein herausstechendes Beispiel dafür. Spätestens seit den 1960ern sind jedoch ebenso die Studenten-, Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung zu nennen. Gerade letztere hat durch Fridays for Future wieder einen Aufschwung erfahren, der sowohl durch die Dringlichkeit des Themas Klimawandel als auch durch die neue Art des Schülerprotests verstärkt wahrgenommen und kontrovers diskutiert wurde.
Dabei besteht die Umweltbewegung selbstredend nicht nur aus Fridays for Future, sondern aus einem Netzwerk von Organisationen, Gruppen, Initiativen und Individuen. Eine Vielschichtigkeit, die typisch ist für Soziale Bewegungen. Dies macht jedoch eine einheitliche Definition umso schwieriger. Dazu kommen die unterschiedlichen Formen Neuer Sozialer Bewegungen, wie die Schwulen- und Lesbenbewegung, Bewegungen wie Recht auf Stadt oder Occupy, die alle auf einen Nenner gebracht werden müssten. Dennoch haben wir im Seminar nicht auf eine Definition verzichtet, sondern uns an Felix Kolb orientiert:
„Eine soziale Bewegung ist ein Netzwerk bestehend aus Organisationen und Individuen, das auf Basis einer geteilten kollektiven Identität mit Hilfe von überwiegend nicht-institutionalisierten Taktiken versucht, sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen, sich ihm zu widersetzen oder ihn rückgängig zu machen.“ (Kolb 2002, S. 10)
Zur Verdeutlichung wurde im Seminar die Anti-Atomkraft-Bewegung im Speziellen untersucht. Hierbei wurden die verschiedenen Gruppen innerhalb der Bewegung mit unterschiedlichen Zielen und Strategien herausgestellt. Nach Felix Kolb lassen sich vier Akteursgruppen beschreiben, die sich die Teilnehmenden des Seminars in Kleingruppen anhand von Text- und Filmmaterialien selbst erarbeiteten:
- Aktionsgruppen spielen in Hochzeiten von Mobilisierungsphasen eine wichtige Rolle und greifen nicht selten auf radikalere Aktionen zurück, wie zivilen Ungehorsam.
- Bürgerinitiativen bilden die Basis für Bewegungen und sind oft direkt von einem Problem betroffen („Not in my Backyard“).
- Public Interest Groups sind eher große und etablierte Organisationen, bei denen die eigenen Interessen und ihr Ansehen eine größere Rolle spielen.
- Lobby-Gruppen und „Think Tanks“ betätigen sich vor allem auf den Feldern der Forschung, Öffentlichkeitsarbeit und Lobby-Arbeit.
Zur praktischen Vertiefung haben wir im Folgenden die Anti-TTIP-Bewegung in den Fokus gestellt. Dort konnte der Autor als Mitarbeiter von Mehr Demokratie e. V. (einer Mischung aus Public Interest Group und Lobby-Gruppe) aus persönlicher Erfahrung berichten und die Zusammenarbeit innerhalb der Protest-Bewegung detailliert beschreiben.
Über gute Geschichten und die Entwicklung Sozialer Bewegungen
Weder die Bewegungen gegen die Atomkraft noch gegen TTIP sind aus dem Nichts entstanden. Kollektive Unzufriedenheit gepaart mit Emotionalisierung mögen eine notwendige Voraussetzung sein, dennoch ist dies für die Entstehung einer Bewegung meist nicht ausreichend. Daher haben wir auf folgende drei Erklärungsansätze nach Kolb (2002) und Herriger (2020) zurückgegriffen und diese an verschiedenen Beispielen untersucht:
- Politische Möglichkeitsstruktur: Die Entstehung Sozialer Bewegungen hängt stark vom Grad der Offenheit des politischen Systems ab: Geschlossene, autoritäre Systeme geben wenig Hoffnung auf Veränderung. Dagegen ist in sehr offenen Systemen Protest kaum notwendig. Dementsprechend hält eine Mischform aus beiden Systemen die größten Entwicklungspotenziale für Soziale Bewegungen bereit. Dass dabei nicht immer die reale Struktur ausschlaggebend ist, sondern die Wahrnehmung der Situation, hat uns nicht zuletzt der Arabische Frühling gezeigt.
- Ressourcenmobilisierung: Die Notwendigkeit für Soziale Bewegungen, Ressourcen wie Geld und Personal zu mobilisieren, ist in den letzten Jahren auch innerhalb der Bewegungen und bei einzelnen Akteuren verstärkt in den Fokus gerückt. Dabei geht es um die Errichtung fester Organisationen, die sowohl für Schubkraft als auch für Beharrungsvermögen (in schlechten Zeiten) notwendig sind.
- Framing-Ansatz: „Wer erfolgreich sein will, muss eine gute Geschichte erzählen.“ Diesem Ansatz wird bei vielen Akteuren in Sozialen Bewegungen eine immer größere Wichtigkeit beigemessen. Damit soll der Rahmen (Frame) für einen Konflikt gelegt bzw. die Problemdefinition im Sinne der Bewegung interpretiert werden. Übernimmt die Öffentlichkeit diese Perspektive, hat dies u. a. positive Auswirkungen auf die politischen Möglichkeiten und die Ressourcenmobilisierung.
Kollektive Unzufriedenheit gepaart mit Emotionalisierung mögen eine notwendige Voraussetzung sein, dennoch ist dies für die Entstehung einer Bewegung meist nicht ausreichend.
Zwar sind Soziale Bewegungen äußerst vielschichtig und die unterschiedlichen Akteure kommunizieren je nach ihren Zielgruppen auf verschiedene Arten, dennoch werden die oben genannten Ansätze verstärkt in die internen Strategien und in die Außenkommunikation einbezogen. Für den Praxistest wurden dazu für die folgenden Tage drei Referenten eingeladen. Zunächst gaben Rainald Manthe vom Zentrum Politische Moderne und Kilian Maier, Aktivist und Student an der TU München, einen vertieften Einblick in die Kommunikation von Sozialen Bewegungen und in Struktur und Hierarchien bei Fridays for Future.
Kommunikation im Praxis-Test
Gerade „junge“ Bewegungen zeichnen sich durch kaum vorhandene Hierarchien aus. Die Bewegung Fridays for Future kann in diesem Kontext mit ihren basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen exemplarisch genannt werden. Der typischen Institutionalisierung (Bewegungen kämpfen für Veränderungen, verändern sich aber auch selbst) wird versucht, durch digitale Kommunikationswege und Ämterrochaden entgegenzuwirken. Dass dabei in der Öffentlichkeit die Bewegung oft mit einer Person, Greta Thunberg, gleichgesetzt wird, ist dagegen nicht der Bewegung vorzuwerfen, sondern der typisch medialen Personalisierung von Sachthemen. Jedoch sind die heutigen Akteure durch die Möglichkeiten der sozialen Medien nicht mehr in dem Maß auf klassische Medien angewiesen, wie das früher der Fall war und versuchen sich immer mehr von deren Maßstäben zu lösen. Nachrichten können selbst erzeugt und verbreitet werden. Deutlich wird dies auch am Beispiel des Aktionsbündnisses Ende Gelände, das bekannt wurde durch seine Großaktionen im deutschen Braunkohlerevier und diese sehr professionell in Szene setzt. Eindrucksvolle Drohnenbilder sollen dabei nicht nur die Botschaft „Kohle abschaffen. Klima schützen!“ unterstreichen, sondern auch die Mobilisierung und Spendenbereitschaft steigern. Gute Geschichten werden eben auch durch gute Bilder erzählt – gerade im Zeitalter der sozialen Medien.
Doch nicht nur progressive Bewegungen haben gelernt, einen starken Fokus auf Framing und Marketing zu legen. Mit dem dritten Referenten, Sebastian Lipp, Journalist und Experte für rechte Bewegungen in Bayern, analysierten wir die Kommunikationsstrategien von Pegida und der Identitären Bewegung als Akteur des rechten Spektrums. Das rechtspopulistische Bewegungen soziale Medien als bevorzugten Kanal für ihre Botschaften nutzen, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, sondern zum Allgemeingut übergegangen. Die Ähnlichkeit der Kommunikations- und Aktionsstrategien der rechtsextremen Identitären Bewegung mit linken oder ökologischen Akteuren war für viele Teilnehmenden dennoch überraschend. Spannender war jedoch die Frage, ob Pegida als Soziale Bewegung einzustufen sei. Zumindest in ihrer Hochphase konnte durchaus davon gesprochen werden, auch wenn die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes eine gegensätzliche inhaltliche Ausrichtung zu den „herkömmlichen“ progressiven Zielen des Fortschritts und der Emanzipation vertraten. Bei den aktuellen Größenordnungen kann bei Pegida aber nicht mehr von einer Sozialen Bewegung gesprochen werden.
Können Bewegungen die Gesellschaft bewegen?
Für die abschließende Vertiefung wurden in Gruppenarbeiten die Gelbwesten in Frankreich, und die spanische Indignados-Bewegung mittels verschiedener Texte als auch per Online-Recherche hinsichtlich ihrer Entstehung und Auswirkungen analysiert. Beide Bewegungen hatten die Ausweitung basisdemokratischer Instrumente als zentrale Forderung. Während die Proteste der Gelbwesten ab November 2018 sich zuerst an einer höheren Diesel-Steuer entzündeten, versammelten sich die Indignados unter den Auswirkungen der Finanzkrise 2011 unter dem Slogan „Echte Demokratie jetzt“ in zahlreichen spanischen Städten. Über Podemos wurde der Weg ins spanische Parlament beschritten und nach den Kommunalwahlen 2015 konnten bewegungsnahe Plattformen, wie Ahora Madrid und Barcelona en Comú die Bürgermeisterinnen stellen. In beiden Städten wurde versucht, die Forderung nach einer anderen Demokratie und mehr Bürgerbeteiligung umzusetzen. In Madrid wurde beispielsweise die digitale Beteiligungssoftware Decide Madrid entwickelt und eingesetzt, um den Bürger*innen und den verschiedenen Stadt-Bewegungen die Möglichkeit zu geben, ihr Lebensumfeld mitgestalten zu können. So wurde nach jahrelangem Streit die autofreie Innenstadt von unten umgesetzt – ehe es von der neuen Stadtregierung wieder gekippt wurde. Ein Paradebeispiel für die politische Möglichkeitsstruktur, der Soziale Bewegungen unterworfen sind.
Soziale Bewegungen sind schwierig zu erfassen, sie sind vielschichtig und nicht als Einheit zu verstehen, sondern als ein Netzwerk, dessen Akteure unterschiedliche Strategien verfolgen. Aber gerade das ist auch ihre Stärke.
Zwar haben Soziale Bewegungen zu Recht den Ruf als „Labore der Demokratie“ und Experimentierfelder für Demokratieinnovationen: „Direkte Demokratie, Öffentlichkeitsbeteiligung, Partizipation, deliberative Demokratie – all dies gäbe es nicht ohne soziale Bewegungen, die in ihren horizontalen Praxen solche Dinge erproben.“ (Ullrich 2015, S. 15). Dennoch stehen ihnen nur selten verbindliche Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sie ihre Ziele auch einfordern können. Regelmäßig werden die Proteste von politischen Entscheidungsträgern „ausgesessen“ oder durch „faule Kompromisse“ abgeräumt, die zumindest die Öffentlichkeit beruhigen. So waren auch die großen Erfolge der Anti-Atomkraft-Bewegung nicht zuletzt auf den Einfluss externer Faktoren zurückzuführen, wie Tschernobyl und Fukushima. Sollen Bewegungen nicht nur auf den guten Willen politischer Entscheidungsträger*innen angewiesen sein, braucht es verbindliche Beteiligungsinstrumente und direktdemokratische Verfahren. Dass Bewegungen diese zu nutzen wissen, zeigt die hohe Anzahl der erfolgreichen Bürgerbegehren zum Ausbau des Radverkehrs auf kommunaler Ebene und das Volksbegehren gegen das Bienensterben in Bayern (vgl. Rehmet 2018). Auf Bundesebene fehlen diese Möglichkeiten bisher.
Resümee
Soziale Bewegungen sind schwierig zu erfassen, sie sind vielschichtig und nicht als Einheit zu verstehen, sondern als ein Netzwerk, dessen Akteure unterschiedliche Strategien verfolgen. Aber gerade das ist auch ihre Stärke. So können sie ein deutlich höheres Mobilisierungspotenzial erreichen und mit unterschiedlichen Aktionsformen und Kommunikationswegen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzeugen. Dabei haben sich die meisten Sozialen Bewegungen an die heutige Zeit angepasst und nutzen die sozialen Medien für ihre Zwecke – teilweise sehr professionell. Diese Präsenz im digitalen Raum ist nicht nur für die Bewegungen notwendig, um die klassischen Medien als „Gatekeeper“ zu umgehen. Auch für unser Seminar war dies sehr hilfreich: Durch die Online-Auftritte verschiedener Bewegungs-Akteure konnten sich die Teilnehmenden neben dem theoretischen Input und wissenschaftlichen Untersuchungen auch selbst Erkenntnisse zu Framing, Marketing und Strategien erarbeiten und diese auf Einzelfälle anwenden. Vertieft wurde dies durch die Einblicke unserer Referenten, die aus dem „Inneren“ von Bewegungen berichteten – was zu regen und sehr produktiven Diskussionen innerhalb des Seminars führte.
Da Soziale Bewegungen einen politischen Wandel herbeiführen, oder diesen umkehren wollen, stehen sie zwangsläufig im Konflikt mit den politischen Entscheiungsträger*innen. Zwar wurde durch diese Konflikte einiges erreicht, wie uns die Geschichte von der Arbeiterbewegung bis zur Schwulen- und Lesbenbewegung zeigt, jedoch meist in sehr kleinen Schritten. Diese Schrittchen sind in Bezug auf den Klimawandel jedoch nicht ausreichend. Eine Erkenntnis, die auch bei den Teilnehmenden im Seminar gewachsen ist.
Um dieser Politik der kleinen Schritte entgegenzuwirken braucht es neue Formen, die Bürger*innen am Prozess der politischen Entscheidungsfindung zu beteiligen. Wie das gehen kann, zeigt ein Blick nach Frankreich. Dort hatte der französische Präsident Emmanuele Macron nach den Protesten der Gelbwesten die Grand Débat National initiiert, bei der online als auch in organisierten Diskussionsrunden die Bürger*innen aufgerufen waren, u. a. über ökologischen Wandel, Steuern und Demokratie zu diskutieren. Ein Ergebnis war ein Klima-Bürgerrat, bestehend aus 150 per Zufall ausgewählten Französinnen und Franzosen. Diese hatten seit Oktober 2019 mit der Unterstützung von Expert*innen getagt. Herausgekommen sind kürzlich 149 Empfehlungen, z. B. zu einem niedrigeren Tempolimit auf Autobahnen, „Ökozid“ als Verbrechen, nachhaltigere Mobilität, Gebäudesanierungen und Landschaftsschutz. Macron hat versprochen, einen Großteil davon umzusetzen oder Referenden abhalten zu lassen. Damit wäre Frankreich absoluter Vorreiter beim Klimaschutz. Warten wir es ab.
Zum Autor
simon.strohmenger@mehr-demokratie.de