Außerschulische Bildung 2/2022

Eine andere Welt ist möglich

Über den Nutzen von Utopien in der politischen Jugendbildung

Utopien und Dystopien kritisieren Fehlentwicklungen in der Gegenwart und stellen etablierte Problemlösungsmuster in Frage. Sie fragen nach dem guten Leben und eröffnen Räume, um unkonventionelle Alternativen zu entwickeln. Dies macht sie auch für die politische Bildung zu einem spannenden Instrument. Angesichts drängender globaler Herausforderungen erinnern Utopien daran, dass unsere Demokratie und die Welt, in der wir leben, gestaltbar sind. Produktiv wird dieser Begriff für politische Bildung, wenn Utopien nicht als Blaupausen, sondern als unfertige Entwürfe verstanden werden, die kritisch hinterfragt und auf konkrete Handlungsmöglichkeiten in einer pluralistischen Demokratie zurückbezogen werden. von Ole Jantschek

Die Utopie einer europäischen Republik

Erinnert sich noch jemand? Vor wenigen Jahren noch schien das europäische Einigungsprojekt kurz vor dem Ende zu stehen. In Folge der globalen Finanzkrise taumelten die Mitgliedsstaaten ab 2010 in eine Banken- und Staatsschuldenkrise, die sich schnell zu einer Krise des politischen Systems ausweitete. Es zeigte sich, dass die Eurozone eine gemeinsame Währung hatte, aber nicht die politische Union, die dafür sorgen konnte, dass die Wirtschafts- und Fiskalpolitik aufeinander abgestimmt wurden und es einen Finanzausgleich zwischen den Regionen Europas gab. Doch statt die systemischen Ursachen anzugehen, taten die wirtschaftlich starken EU-Staaten so, als ob in einer Währungsunion mit einer transnationalen europäischen Wertschöpfungskette noch immer jeder Staat seines eigenen Glückes Schmied wäre. Sie verordneten eine harte Austeritätspolitik zur „wirtschaftlichen Gesundung“, die mit Rezession und einer massiven Verarmung einherging. Entsolidarisierung und Rückkehr zum Nationalismus, das Anwachsen rechtsextremer, nationalistischer, populistischer Bewegungen – das war das Bild, das sich nach und nach verfestigte. Und all das, weil diese Politik, die noch immer auf der Fiktion und Ideologie der Nationalstaaten beruhte, angeblich „alternativlos“ war.

Wie viele Menschen, die sich selbstverständlich als Europäer*innen fühlten, war ich damals wütend über die Unfähigkeit der verantwortlichen Politiker*innen, eine handlungsfähige Demokratie jenseits des Nationalstaats zu denken (vgl. Jantschek 2015). Wie inspirierend und aktivierend war demgegenüber eine utopische Alternative, die 2015/16 von Robert Menasse und Ulrike Guérot formuliert wurde und im Diskurs von proeuropäischen Initiativen schnell an Bedeutung gewann: Eine Europäische Republik, die auf der politischen Gleichheit ihrer Bürger*innen basieren sollte – „die erste transnationale europäische Demokratie: dezentral, regional, postnational, sozial und demokratisch.“ (Guérot 2016, S. 82) Es wäre einen eigenen Beitrag wert nachzuvollziehen, welchen Einfluss dieser Entwurf im politischen Diskurs und Handeln in den Folgejahren entwickeln konnte. Für diesen Beitrag geht es mir jedoch um etwas Anderes, eine persönliche Erfahrung zum Wert von Utopien in der politischen Bildung: In einer Situation, in der die politischen Lösungsstrategien offensichtlich inadäquat waren und die mit einem Gefühl von Machtlosigkeit einherging, eröffnete die Utopie der Europäischen Republik vielen – vor allem jungen Menschen – gedankliche Räume, um über alternative Entwicklungsmöglichkeiten nachzudenken und nicht weniger als eine komplette Neukonfiguration der Machtstrukturen und eine Überwindung nationalstaatlichen Denkens in Europa in den Blick zu nehmen. Damit einher gingen konkrete Handlungsoptionen: Denn um dieser Utopie näher zu kommen, war es offensichtlich sinnvoll, eine alternative Problemanalyse zu verbreiten, Akteure transnational zu vernetzen und neue Formen gelebter Solidarität zu erproben, mithin also Dinge, die durchaus in den eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen, wenn man sich zivilgesellschaftlich engagiert und politische Bildungsarbeit macht. Diese Erfahrung entspricht dem Wert von Utopien, den Oskar Negt beschreibt: Utopien ermöglichen es, nicht passiv mit Sorge und „Orientierungsnot“ auf krisenhafte Umbrüche zu reagieren, sondern „aus spezifischen Krisenherden Handlungsfelder zu entwickeln“ als „handhabbare Strategien der Krisenbewältigung, die selbst dann sinnvoll sind, wenn sie nur den selbstbewussten Denkhorizont des Subjekts erweitern.“ Damit verbunden ist ein Begriff der Verantwortung, der auf das konkrete Handeln und kleine Wirkungen im eigenen Einflussbereich zielt (Negt 2012, S. 19). Politische Bildung, die Utopien zum Thema macht, schafft damit Räume, um sich kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, mit Denkgebäuden, Machtstrukturen und Legitimationsstrategien auseinanderzusetzen und neue Handlungsoptionen zu reflektieren.