Außerschulische Bildung 2/2022

Eine andere Welt ist möglich

Über den Nutzen von Utopien in der politischen Jugendbildung

Utopien und Dystopien kritisieren Fehlentwicklungen in der Gegenwart und stellen etablierte Problemlösungsmuster in Frage. Sie fragen nach dem guten Leben und eröffnen Räume, um unkonventionelle Alternativen zu entwickeln. Dies macht sie auch für die politische Bildung zu einem spannenden Instrument. Angesichts drängender globaler Herausforderungen erinnern Utopien daran, dass unsere Demokratie und die Welt, in der wir leben, gestaltbar sind. Produktiv wird dieser Begriff für politische Bildung, wenn Utopien nicht als Blaupausen, sondern als unfertige Entwürfe verstanden werden, die kritisch hinterfragt und auf konkrete Handlungsmöglichkeiten in einer pluralistischen Demokratie zurückbezogen werden. von Ole Jantschek

Die Utopie einer europäischen Republik

Erinnert sich noch jemand? Vor wenigen Jahren noch schien das europäische Einigungsprojekt kurz vor dem Ende zu stehen. In Folge der globalen Finanzkrise taumelten die Mitgliedsstaaten ab 2010 in eine Banken- und Staatsschuldenkrise, die sich schnell zu einer Krise des politischen Systems ausweitete. Es zeigte sich, dass die Eurozone eine gemeinsame Währung hatte, aber nicht die politische Union, die dafür sorgen konnte, dass die Wirtschafts- und Fiskalpolitik aufeinander abgestimmt wurden und es einen Finanzausgleich zwischen den Regionen Europas gab. Doch statt die systemischen Ursachen anzugehen, taten die wirtschaftlich starken EU-Staaten so, als ob in einer Währungsunion mit einer transnationalen europäischen Wertschöpfungskette noch immer jeder Staat seines eigenen Glückes Schmied wäre. Sie verordneten eine harte Austeritätspolitik zur „wirtschaftlichen Gesundung“, die mit Rezession und einer massiven Verarmung einherging. Entsolidarisierung und Rückkehr zum Nationalismus, das Anwachsen rechtsextremer, nationalistischer, populistischer Bewegungen – das war das Bild, das sich nach und nach verfestigte. Und all das, weil diese Politik, die noch immer auf der Fiktion und Ideologie der Nationalstaaten beruhte, angeblich „alternativlos“ war.

Politische Bildung, die Utopien zum Thema macht, schafft damit Räume, um sich kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, mit Denkgebäuden, Machtstrukturen und Legitimationsstrategien auseinanderzusetzen und neue Handlungsoptionen zu reflektieren.

Wie viele Menschen, die sich selbstverständlich als Europäer*innen fühlten, war ich damals wütend über die Unfähigkeit der verantwortlichen Politiker*innen, eine handlungsfähige Demokratie jenseits des Nationalstaats zu denken (vgl. Jantschek 2015). Wie inspirierend und aktivierend war demgegenüber eine utopische Alternative, die 2015/16 von Robert Menasse und Ulrike Guérot formuliert wurde und im Diskurs von proeuropäischen Initiativen schnell an Bedeutung gewann: Eine Europäische Republik, die auf der politischen Gleichheit ihrer Bürger*innen basieren sollte – „die erste transnationale europäische Demokratie: dezentral, regional, postnational, sozial und demokratisch.“ (Guérot 2016, S. 82) Es wäre einen eigenen Beitrag wert nachzuvollziehen, welchen Einfluss dieser Entwurf im politischen Diskurs und Handeln in den Folgejahren entwickeln konnte. Für diesen Beitrag geht es mir jedoch um etwas Anderes, eine persönliche Erfahrung zum Wert von Utopien in der politischen Bildung: In einer Situation, in der die politischen Lösungsstrategien offensichtlich inadäquat waren und die mit einem Gefühl von Machtlosigkeit einherging, eröffnete die Utopie der Europäischen Republik vielen – vor allem jungen Menschen – gedankliche Räume, um über alternative Entwicklungsmöglichkeiten nachzudenken und nicht weniger als eine komplette Neukonfiguration der Machtstrukturen und eine Überwindung nationalstaatlichen Denkens in Europa in den Blick zu nehmen. Damit einher gingen konkrete Handlungsoptionen: Denn um dieser Utopie näher zu kommen, war es offensichtlich sinnvoll, eine alternative Problemanalyse zu verbreiten, Akteure transnational zu vernetzen und neue Formen gelebter Solidarität zu erproben, mithin also Dinge, die durchaus in den eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen, wenn man sich zivilgesellschaftlich engagiert und politische Bildungsarbeit macht. Diese Erfahrung entspricht dem Wert von Utopien, den Oskar Negt beschreibt: Utopien ermöglichen es, nicht passiv mit Sorge und „Orientierungsnot“ auf krisenhafte Umbrüche zu reagieren, sondern „aus spezifischen Krisenherden Handlungsfelder zu entwickeln“ als „handhabbare Strategien der Krisenbewältigung, die selbst dann sinnvoll sind, wenn sie nur den selbstbewussten Denkhorizont des Subjekts erweitern.“ Damit verbunden ist ein Begriff der Verantwortung, der auf das konkrete Handeln und kleine Wirkungen im eigenen Einflussbereich zielt (Negt 2012, S. 19). Politische Bildung, die Utopien zum Thema macht, schafft damit Räume, um sich kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, mit Denkgebäuden, Machtstrukturen und Legitimationsstrategien auseinanderzusetzen und neue Handlungsoptionen zu reflektieren.

Utopisches und dystopisches Denken in Krisenzeiten

Zurück in die Gegenwart. Dass wir eine Häufung großer Krisen erleben, dürfte vielen Menschen als eine treffende Zeitdiagnose erscheinen. Die näher rückende Klimakatastrophe, Krieg und Kriegsverbrechen in der Ukraine, Flucht- und Migrationsbewegungen, die andauernde Pandemie, die Infragestellung der Demokratien durch autoritäre Akteure im Innern und von außen, die disruptive Kraft der Digitalisierung – all diese globalen Phänomene entziehen sich zu großen Teilen dem Horizont individueller Handlungsmöglichkeiten und können damit erdrückend und entmutigend wirken. Verschließen kann man sich ihnen in einer mediatisierten Gesellschaft nur durch vollständigen Verzicht auf Nachrichten oder Leugnung der Fakten – zweifelsohne eine Strategie, die für viele Menschen derzeit ebenfalls eine Attraktivität der psychologischen Entlastung birgt. Die kurze Phase der Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Kriegs geht zu Ende. Und – folgt man der These des Soziologen Andreas Reckwitz – so stehen die liberal-demokratischen, pluralistischen Systeme des Westens am Übergang zu einem neuen politischen Zeitalter. Die Zeit des „öffnenden Liberalismus“, der seit den 1980er-Jahren die Politik geprägt hat, geht zu Ende. Kennzeichnend für diese Phase waren Prozesse der ökonomischen, aber auch soziokulturellen Globalisierung einerseits und einer gesellschaftlichen Liberalisierung andererseits. Was Reckwitz als neues Paradigma eines „regulativen, einbettenden Liberalismus“ beschreibt, ist erst im Entstehen begriffen (Reckwitz 2019). Gerade Protestbewegungen der Jugend machen darauf aufmerksam, dass bisherige politische Strategien sich in ihrer Glaubwürdigkeit und Problemlösungsfähigkeit in weiten Teilen erschöpft haben. Dies gilt besonders für Fridays for Future und die junge Klimabewegung, die darauf drängen, die Wirtschaft global stärker zu regulieren und Alternativen zu einem Wirtschaftsmodell zu finden, das auf der Illusion endlosen Wachstums basiert und die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in nächster Zukunft zu zerstören droht. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Proteste eine grundlegende Unzufriedenheit mit einer Politik formulieren, die trotz lange bekannter wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Klimakatastrophe keine überzeugenden Antworten gefunden hat. Sie sind aber auch als Signal einer Generation zu deuten, die den Glauben an die Möglichkeit der Veränderung nicht aufgeben will. Sieht man die Klimabewegung im Kontext weiterer Proteste, wird zudem eine hohe Identifikation mit den Errungenschaften gesellschaftlicher Liberalisierung und der Suche nach einer neuen Verbindung von Vielfalt, Gemeinsinn und sozialem Ausgleich deutlich (vgl. Jantschek 2022).

Wo das Überkommene abgelegt und vom Neuen geschieden werden muss, sollte politische Bildung es als ihre Aufgabe begreifen, Menschen in ihrer Kritik- und Handlungsfähigkeit zu stärken und neue Horizonte zu eröffnen.

Begreift man Krisen dem griechischen Wortsinn nach auch als Momente, in denen eine Entscheidung getroffen werden muss, so wird der Wert von utopischem Denken in einer Zeit des Übergangs offensichtlich: Wo das Überkommene abgelegt und vom Neuen geschieden werden muss, sollte politische Bildung es als ihre Aufgabe begreifen, Menschen in ihrer Kritik- und Handlungsfähigkeit zu stärken und neue Horizonte zu eröffnen. Die Arbeit mit utopischen und dystopischen Erzählungen kann dabei ein Weg sein, um eine gute Balance zu finden – zwischen der Formulierung einer tiefgreifenden Kritik an gesellschaftlichen Zuständen einerseits und dem nötigen Optimismus und Mut für Veränderungen andererseits.

Ein Utopieverständnis für die politische Bildung

Voraussetzung für die Nutzung des Konzepts in der Praxis politischer Bildung ist eine Reflexion, was mit Utopien gemeint sein soll. Ein Blick auf die Geschichte utopischer Erzählungen und ihrer unterschiedlichen Spielarten erweist sich als hilfreich. Utopien als Blaupausen einer besseren Gesellschaft, die um einen idealen Staat, Kollektiveigentum, gesellschaftliche Harmonie und Bilder von einem tugendhaften, altruistischen Menschen kreisen, wie sie seit der Begründung des Genres durch Thomas Morus in unterschiedlichen Varianten formuliert wurden, oder der ungebrochene Fortschrittsglaube der Utopien des Industriezeitalters (vgl. Diedler 2018), vermögen heute nicht mehr zu überzeugen und widersprechen dem Leitbild einer auf Kontroversität und Pluralismus ausgerichteten politischen Bildung. So hält Rutger Bregman zugespitzt fest: „Der heutige Leser findet in Campanellas Buch (Die Sonnenstadt, Anm. d. Autors) erschreckende Andeutungen von Faschismus, Stalinismus und Genozid.“ (Bregman 2018, S. 20; vgl. auch Reese-Schäfer 2018) Er plädiert demgegenüber für ein Verständnis von Utopien als Wegweiser, die keine fertigen Antworten oder Lösungen böten, sondern die richtigen Fragen aufwerfen: „Was wir brauchen, sind alternative Horizonte, die unsere Phantasie anregen. Und ich meine tatsächlich Horizonte im Plural, denn schließlich sind einander widersprechende Utopien das Herzblut der Demokratie.“ (Bregman 2018, S. 28)

Foto: Eduard Janzen, Ev. Jugend Sachsen

Utopien entfalten dabei ihre Kraft einerseits als didaktische Erzählungen mit einem starken Gegenwarts- und Weltbezug, die nicht zuletzt an Lese- und Sehgewohnheiten, insbesondere von Jugendlichen, anknüpfen und damit gute Zugänge bieten (vgl. Kirschbacher 2019). Sie lassen sich anderseits als Experimentierraum sehen, um die positiven und negativen Folgen von Handlungen und Regeln auf das gesellschaftliche Zusammenleben gedanklich durchzuspielen.

Utopien in diesem Verständnis, pluralistisch und widersprüchlich, auf einem realistischen Menschenbild basierend, laden Teilnehmende an Angeboten der politischen Bildung ein, grundlegende Kritik an bestehenden Verhältnissen zu formulieren, dabei Probleme auch aus alternativen Perspektiven heraus zu beleuchten, eigene Positionen zu entwickeln und individuelle und kollektive Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten.

Dabei können utopische Erzählungen von einer guten Gesellschaft produktiv sein, indem sie es erlauben, beispielsweise nach besseren Regeln und politischen Optionen zu fragen. Doch auch dystopische Szenarien entwickeln eine große Kraft, zum Beispiel, wenn Entwicklungstendenzen, die sich heute schon abzeichnen, in die Zukunft weitergedacht und mögliche Folgen für das Zusammenleben kritisch hinterfragt werden. Denn damit verbinden sich Entscheidungsmöglichkeiten in der Gegenwart: Dystopische Entwicklungen sind denkbar; sie sind aber nicht unausweichlich und können durch richtige Weichenstellungen noch verhindert werden. Dabei ist es sinnvoll, Dystopien nicht zuletzt immer auch als Warnung gegenüber den möglichen Gefahren zu begreifen, die in der vollständigen Umsetzung von Utopien selbst liegen (vgl. Schölderle 2018; Stauffer/Dziudzia 2022).

Weitere Überlegungen zum Einsatz von dystopischen und utopischen Erzählungen in der politischen Bildung sollen im Folgenden an zwei Themenfeldern – Digitalisierung und Transformation – verdeutlicht werden.

General Solutions – kritische Dystopie der digitalen Gesellschaft

Beginnen wir mit einer kritischen Dystopie. Für ihr Escape Game „General Solutions“ hat die Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) ein Szenario entwickelt, das typische Elemente einer dystopischen Erzählung enthält. Die Rahmenhandlung ist in der nahen Zukunft im Jahr 2025 angesiedelt und zeichnet das Bild eines globalen Technologiekonzerns, der den Teilnehmenden aus ihrem eigenen Alltag und ihrer Nutzung von Social Media, Apps oder Online-Shopping nur allzu vertraut sein dürfte. Das fiktive Unternehmen General Solutions – kurz GS – ist globaler Marktführer bei einer Vielzahl digitaler Dienste und Produkte, verspricht smarte, vernetzte Lösungen für „alle Probleme der Welt“ unter dem Slogan „Brighter future, better me“. Gleich zu Beginn des Escape Games erfahren die Teilnehmenden in einem Werbevideo, dass GS bereits das Internet privatisiert hat und ein eigenes Hypernet betreibt. Es verhindert unter anderem Verbrechen bevor sie entstehen oder betreibt eigene Megacities mit selbstfahrenden Autos und smarten Häusern. Nun steht GS kurz vor der nächsten Entwicklungsstufe, der Einführung des sogenannten General Score. Dabei handelt es sich um ein „innovatives soziales Bewertungssystem“, so die Werbung, das Menschen einen Punktwert anhand ihres Verhaltens zuweist. Dabei werden sämtliche digitalen und digital vermessbaren Aktivitäten ausgewertet – von der pünktlichen Zahlung von Rechnungen, über die Fitness, das Social Media-Verhalten bis zu einer erfolgreichen Partnerschaft und sozialen Tugenden. Je höher der Score ausfällt, desto mehr Vorteile winken den „High Performern“: Ein Platz in der GS Performer Class im Zug, Besuche beim Arzt ohne Wartezeit oder die Studienmöglichkeit an den besten Universitäten der Welt. Im Spiel erfahren die Teilnehmenden von einem Whistleblower, dass mit dem General Score noch viel mehr möglich sein wird und erhalten die Aufgaben innerhalb von 60 Minuten die Welt vor einer drohenden digitalen Diktatur zu retten. Das komplette Szenario ist nachzulesen bei Gramoll/Jantschek 2020. Das Spiel steht als offene Bildungsressource zur Verfügung. Alle notwendigen Materialien können für den Einsatz in der Bildungsarbeit entliehen werden.

Das Szenario des Spiels verwendet dabei gezielt Anwendungen aus dem Lebensalltag, wie die Nutzung von Fitness-Tracking-Devices, oder nimmt Bezug auf den sozialen Druck, Likes auf Social Media zu generieren. Es spinnt diese bekannten Elemente nur ein kleines Stück weiter zu der Erzählung von einer Gesellschaft, in der alle Chancen im Leben von der „Performance“ abhängig gemacht und von einem privaten Unternehmen kontrolliert werden. Es erinnert damit an „The Circle“ von Dave Eggers (2013) oder „Quality Land“ von Marc-Uwe Kling (2017/2020) und greift die große Faszinationskraft auf, die solche Geschichten in zeitgenössischen Büchern, Filmen, Serien oder Computerspielen haben. Dieses dystopische Szenario, verbunden mit dem Ansatz des Game-based Learning, ermöglicht einen niedrigschwelligen Einstieg in vielfältige Fragen zum Zusammenleben in einer digitalen Welt. Es lässt aber auch ausreichend Möglichkeit, davon wieder Distanz zu gewinnen und die Rollen des Spiels abzulegen. Themen wie das eigene Mediennutzungsverhalten, die Sammlung von Daten, die Geschäftsmodelle digitaler Plattformen, Social Scoring und Diskriminierung können dann im nächsten Schritt teilnehmendenorientiert vertieft werden. So bietet es sich zum Beispiel an, jeweils einen Bezug zur Lebenswelt herzustellen, zusätzliches Wissen zu vermitteln, die Möglichkeiten und Grenzen individuellen Handelns zu diskutieren und den Blick auf die notwendige politische Gestaltung der Digitalisierung zu lenken.

Das dystopische Szenario ist aus Sicht der Teilnehmenden – das zeigt die Erfahrung – sehr realistisch, nicht nur angesichts der Macht und Innovationskraft globaler Technologiekonzerne oder der Erkenntnisse zur Nutzung solcher umfassenden Daten durch westliche Geheimdienste, sondern insbesondere auch mit Blick auf den fortschreitenden Ausbau einer digital gestützten Diktatur in der Volksrepublik China. Umso größer ist die Motivation, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Digitalisierung gestaltet werden kann, um die Menschenwürde, Freiheit und Demokratie zu erhalten und zu verhindern, dass eine solche dystopische Entwicklung eintritt.

Transformative Bildung – utopisches Denken und gelebte Alternativen

Eine ganz andere Funktion kann utopisches Denken in der politischen Bildung für eine sozial-ökologische Transformation übernehmen. Der Ausgangspunkt muss hier der ernüchternde Befund sein, dass es keiner dystopischen Szenarien mehr bedarf, um auf die Dringlichkeit einer tiefgreifenden Transformation unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells hinzuweisen: Die Klimakatastrophe ist, wie der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) noch einmal deutlich gemacht hat, selbst mit schnellen, entschiedenen Schritten bestenfalls noch zu begrenzen.

Das wirft die Frage auf, wie politische Bildung angesichts einer solchen Zukunftsprognose Teilnehmende darin unterstützen kann, nicht zu resignieren, sondern konkrete Handlungsmöglichkeiten kennenzulernen. Fridays for future und andere Akteure verweisen zu Recht auf die Verantwortung politischer Akteure für große, systemische Veränderungen. Diese Verantwortung kann nicht auf eine individuelle Ebene verschoben werden – und doch wird die sozial-ökologische Transformation nur gelingen, wenn sie von einer großen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird. Politische Bildungsarbeit muss daher einen Beitrag leisten, damit ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das heute erst in Ansätzen erkennbar ist und utopisch erscheint, Wirklichkeit werden kann.

Foto: Eduard Janzen, Ev. Jugend Sachsen

Wie dies gelingen kann, zeigen nicht zuletzt die Engagierten in Klimacamps: Es entstehen selbstorganisierte und informelle Bildungsprozesse, die auf den Austausch von Fähigkeiten, Wissen und Erfahrungen zielen. Und auch der „Aufbau von Alternativen und das Leben von Utopien“ spielen eine entscheidende Rolle (Lingenfelder 2021, S. 40 f.). Wo der große systemische Wandel allenfalls schleppend vorankommt, werden neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens dezentral entwickelt, praktiziert und multipliziert. Politische Bildung kann diese gelebten Utopien in ihren Angeboten aufgreifen und damit Handlungsalternativen anbieten, die am Lebensalltag der Teilnehmenden ansetzen. Menschen, die solche alternativen Modelle bereits umsetzen, können mit ihrem Handeln inspirieren, irritieren und zur Reflexion anregen.

Der Anspruch einer Bildung, die sich als transformativ begreift, geht jedoch wesentlich über die Erweiterung von Wissen und Fähigkeiten hinaus und zielt auf eine „grundlegende qualitative Veränderung von Welt- und Selbstbildern“. So formuliert zum Beispiel das Konzeptwerk Neue Ökonomie den Anspruch, etablierte Denkgebäude und Gewissheiten grundsätzlich zu hinterfragen: „Es geht dann um erlernte Denk-, Fühl- und Handlungsmuster, um gewohnte Bewertungen und gesellschaftliche Leitbilder, um Normen und das, was wir als ,normal‘ betrachten.“ Wo die bisherigen politischen Strategien versagen, will eine transformative Bildung „Menschen dazu ermutigen, sich Zukunft als etwas anderes vorzustellen als die bloße Verlängerung der Gegenwart“ und dadurch die Wahrnehmung für die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Veränderungen stärken (Wortmann 2022, S. 57).

Eine entscheidende Rolle in diesem Bildungsansatz spielt die Begegnung mit konkreten kleinen Utopien, „erprobten Alternativen, die bereits heute eine zukunftsfähige Form des Wirtschaftens umsetzen.“ (Ebd., S. 57) Deren grundsätzliche Realisierbarkeit zeigt, dass auch die möglicherweise noch utopisch erscheinende sozial-ökologische Transformation auf der gesamtgesellschaftlichen oder auch globalen Ebene tatsächlich aktiv realisiert werden kann. Dieser Ansatz unterstreicht das eingangs benannte Verständnis von Utopien als „Wegweiser“ auf dem Pfad zu einer besseren Gesellschaft und die Bedeutung einer auf Verantwortungsübernahme und kollektive Prozesse zielenden Bildungspraxis, um eigene Handlungsspielräume zu erweitern.

Keine Utopie ohne Utopiekritik

Die Beispiele verdeutlichen den Mehrwert der Arbeit mit Utopien und Dystopien in der politischen Bildung. Diese können gerade in Zeiten großer Herausforderungen und Krisen dabei helfen, Distanz zu dem zu gewinnen, was als unveränderbar gilt, und den Blick für alternative Gesellschafts- und Politikentwürfe zu weiten. Sie schaffen einen narrativen Rahmen, der es uns als Gesellschaft ermöglicht, positive Zukunftsvisionen überhaupt erst zu beschreiben. Dabei sind die Teilnehmenden gefordert, aktuelle Entwicklungen zu hinterfragen und einer tiefgreifenden Kritik zu unterziehen, die mit neuem Wissen über die jeweiligen strukturellen Zusammenhänge und mit der Analyse von Handlungsmöglichkeiten einhergehen. Sowohl kritisch-dystopische wie auch utopische Szenarien können Resignation entgegenwirken und zu einer Inspirations- und Kraftquelle für die Entwicklung von eigenem Engagement werden. Denn Utopien stellen die Frage nach dem guten Leben in den Mittelpunkt und erinnern daran, dass vieles, was uns heute selbstverständlich ist, einmal utopisch erschien. Gerade der Blick auf bereits erzielte gesellschaftspolitische Fortschritte kann helfen, trotz aktueller Bedrohungsszenarien positive Entwicklungen nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern sich davon inspirieren zu lassen.

Damit dieser anregende Charakter utopischer und dystopischer Erzählungen seine Funktion für politische Bildungsprozesse entfalten kann, bedarf es jedoch einer kritischen Reflexion. Zu ihrem Einsatz gehört damit notwendigerweise auch die Utopiekritik. So sollten politische Bildner*innen im Kontext eines Seminars Utopien mit anderen Elementen verbinden, die diese Erzählungen an die Gegenwart unserer pluralen, demokratischen Gesellschaft zurückbinden. Dazu gehört es, Utopien auf blinde Flecken gegenüber den Auswirkungen auf die Anliegen und Teilhaberechte unterschiedlicher Menschen und gesellschaftlicher Gruppen zu hinterfragen. Gerade angesichts der aktuellen Konjunktur an Desinformation und Verschwörungsideologien darf die Arbeit mit Utopien und Dystopien nicht zu einer falschen Komplexitätsreduktion beitragen oder den Glauben an einfache Lösungen propagieren. Daher müssen unterschiedliche konkrete politische Lösungsansätze und Handlungsmöglichkeiten im Sinne des Kontroversitätsgebots eingebracht und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile abgewogen werden, um den Teilnehmenden selbst die Möglichkeit zur Urteilsbildung zu geben.

Nicht die Verwirklichung einer wie auch immer gearteten Utopie ist für die politische Bildung spannend, sondern die Eröffnung von Denk- und Handlungsräumen, die den Austausch über die Frage nach Werten ermöglichen und über einen vermeintlich nicht hinterfrag- und veränderbaren Status quo hinausführen.

Nicht die Verwirklichung einer wie auch immer gearteten Utopie ist für die politische Bildung spannend, sondern die Eröffnung von Denk- und Handlungsräumen, die den Austausch über die Frage nach Werten ermöglichen und über einen vermeintlich nicht hinterfrag- und veränderbaren Status quo hinausführen. So eingebettet und reflektiert können Utopien und Dystopien dazu beitragen, sich intensiver mit strukturellen Faktoren in unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie zu befassen, und zu fragen, wie sich einzelne Regeln verbessern ließen und müssten, um tiefgreifende Änderungen zu bewirken.

Zum Autor

Ole Jantschek ist Bundestutor und Pädagogischer Leiter der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et).
jantschek@politische-jugendbildung-et.de
Foto: Privat

Literatur

Bregman, Rutger (2018): Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb
Diedler, Martin (2018): Die Utopie im politischen Denken. In: Politikum 2/2018, S. 4–15
Gramoll, Annika/Jantschek, Ole (2020): General Solutions – das Escape Game. Handbuch. #etpraxistools Bd. 2; www.etpraxistools.de (Zugriff: 11.04.2022)
Guérot, Ulrike (2016): Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Bonn: Dietz
Jantschek, Ole (2015): Europäische Solidarität oder nationale Egoismen – Zeit für eine Entscheidung. In: Jahresrundbrief der Kreisau-Initiative e. V., S. 7–9; www.kreisau.de/fileadmin/kreisau/Publikationen_und_Bildungsmaterialien/KI_A4_RUNDBRIEF_2015.pdf (Zugriff: 11.04.2022)
Jantschek, Ole (2022): Proteste der Jugend. Eine Chance auf Veränderung. In: Online-Magazin Zeitgeister des Goethe-Instituts; März 2022; www.goethe.de/prj/zei/de/zgt/22769230.html (Zugriff: 11.04.2022)
Kirschbacher, Felix (2019): Vom goldenen Büchlein zu Black Mirror – Utopien als didaktische Erzählungen. In: Jantschek, Ole/Lorenzen, Hanna (Hrsg.): Utopien! Praxiskonzepte für eine kritische, innovative und zukunftsfähige politische Bildung. Jahrbuch 2019. Ev. Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung. Berlin: et, S. 8–13
Lingenfelder, Julia (2021): Politische Bildung in der Klimabewegung. In: Journal für politische Bildung 4/2021, S. 38–42
Negt, Oskar (2016): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen: Steidl
Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp
Reese-Schäfer, Walter (2018): Fortschrittsglaube und Untergangsszenarien. Die Utopie vom idealen Staat. In: Politikum 2/2018, S. 30–36
Schölderle, Thomas (2018): Dystopie als Utopie. Ein Subgenre als politisches Frühwarnsystem. In: Politikum 2/2018, S. 48–58
Stauffer, Isabelle/Dziudzia, Corinna (2022): Dystopische Utopien und utopische Dystopien. In: Dies./Tatzel, Sebastian (Hrsg.): Utopien und Dystopien. Historische Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastrophe. Bielefeld: Aisthesis Verlag, S. 7–20
Wortmann, Julian (2022): Konzeptwerk Neue Ökonomie. In: Journal für politische Bildung 1/2022, S. 56–58