Außerschulische Bildung 4/2023

Eine Versachlichung der Debatte zum Ukraine-Krieg im Kontext politischer Bildung wäre wünschenswert

Ein Kommentar zur Kontroverse zwischen Albert Scherr und Bruno Schoch

Es ist bedauerlich, dass die Kontroverse zwischen Albert Scherr und Bruno Schoch in der Ausgabe 3/2023 dieser Zeitschrift zum Ukraine-Krieg und den sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen für politische Bildung relativ nahtlos an die inzwischen schon gewohnten hochemotionalisierten und polarisierenden politischen und öffentlichen Debatten zu diesen Fragen anschließt. Ein Versuch zur Versachlichung der Debatte. von Jürgen Gerdes

In den öffentlichen Debatten geht es vielfach mehr um die Frage von vermeintlich einzig angemessenen Gesinnungen und Haltungen als um Argumente und Abwägung. Offenbar müssen die jeweiligen Gegner*innen – selbst in Fällen sachlicher und abwägender Stellungnahmen – kategorisiert werden: je nach Standort entweder als „Verteidigungsbellizisten“ (Olaf Müller) und Militarist*innen oder als Putin-Helfer*innen (wider Willen) und „Unterwerfungs-Pazifisten“ (Ralf Fücks) u. Ä. Dabei wird die eigene Position regelmäßig als realitätsadäquater und verantwortungsethisch, die der Gegner*innen als realpolitisch naiv und im schlechten Sinn gesinnungsethisch charakterisiert und dem Gegenüber zuweilen auch ideologische Lernblockaden attestiert. Es geht wohl auch um politische Identitäten der Beteiligten. Versuchen, die bestürzenden Ereignisse des aktuellen Angriffskrieges Russlands im Kontext der eigenen gewohnten politischen Deutungsmuster zu interpretieren, stehen Erwartungen gegenüber, dass sich die politischen Kontrahenten nun endlich zu ihren vermeintlichen ideologischen Irrtümern – des unbedingten Primats der Kriegsvermeidung, der Entspannungspolitik, des Wandels durch Handel usw. – bekennen.

Entweder maximal mögliche militärische Unterstützung für den „gerechten“ Verteidigungskrieg der Ukraine oder Dialog, Verhandlung und Verständigung auch mit dem Aggressor? Entweder – Oder! Vor diesem Hintergrund erscheinen in dieser Polarität nicht unmittelbar einzuordnende Stellungnahmen, wie im Fall der Replik von Schoch auf Scherr, als „irritierend widersprüchlich“ und führen zu Missverständnissen und Unterstellungen. So wird Scherrs Hauptargument für einen „relativen, realistischen bzw. pragmatischen Pazifismus“, der die Legitimität und Legalität einer militärischen Verteidigung gegenüber einem Angriffskrieg nicht infrage stellt, aber letztinstanzlich auf die Stärkung von Institutionen einer regelbasierten internationalen Ordnung gerichtet ist, offensichtlich gar nicht wahrgenommen, sondern Schoch argumentiert gegen einen prinzipiellen Pazifismus, für den „Krieg gleich Krieg, das Immergleiche“ sei. Sodann wird Scherr unterstellt, ihm sei seine eigene „friedensbewegte Gesinnung noch immer wichtiger als praktische Solidarität mit der überfallenen und geschundenen Ukraine.“ Schoch identifiziert Scherr als Vertreter eines „sozialwissenschaftlichen Mainstream(s)“, der „mehr die eigenen Feindbilder im Visier (hat) als die wirklichen Feinde.“ Polarisierendes Lagerdenken statt dem Bemühen, die Argumente des Gegenübers nachzuvollziehen. Schoch deutet Scherrs einseitige Illustration von internationaler Politik als militärisch gestützter Machtpolitik offenbar als eine Aussage zu den Kriegsursachen: Scherr hatte auf die USA und die NATO-Osterweiterung verwiesen und die imperiale großrussische Ideologie Putins und die zunehmende Autokratisierung Russlands unerwähnt gelassen. Das ist zweifellos problematisch, beeinträchtigt aber nicht die Logik des Hauptarguments. Dass sich unter den Unterzeichner*innen der verschiedenen Appelle für Verhandlungen keine Autor*innen finden würden, „die sich jemals mit den sozialen und politischen Realitäten in Osteuropa kritisch auseinandergesetzt haben“, weil sie sich einseitig an der Kritik am kapitalistischen Westen und der USA abgearbeitet haben, ist eine Einschätzung, die sich kaum belegen lassen dürfte.

Selbstgewissheit und Selbstgerechtigkeit?