Was ändert sich für die historisch-politische Bildung?
Digitale Erinnerungskultur – Erweiterung des Möglichkeitsraums?
Digitale Erinnerungskultur, das klingt nach Zukunft, nach Transformation, nach neuen Medien. Es existiert inzwischen eine nicht mehr zu überblickende Vielfalt an digitalen Beiträgen, die sich dem Nationalsozialismus und dem Holocaust widmen. Von themenbezogenen Websites über Stolpersteinrundgänge per App, Instagram-Projekten wie Eva Stories oder @ichbinsophiescholl, YouTube Videos und Videospielen bis hin zu einschlägigen Postings in Sozialen Netzwerken findet sich im digitalen Raum alles. Digitale Spiele sind in den letzten Jahren zum Massenphänomen geworden und prägen unsere Wirklichkeit und unsere Vorstellung von Geschichte zunehmend. Wenn digitale Spiele den Nationalsozialismus als thematischen Hintergrund nutzen, beeinflussen sie die Geschichtsvorstellungen Jugendlicher. Dabei sind die angebotenen Geschichtsbilder mitunter problematisch: Wehrmachtsverbrechen werden ausgespart, der Krieg wird als Abenteuer dargestellt oder die Shoah schlichtweg nicht thematisiert. Vgl. die geschichtsdidaktischen Einordnungen von Videospielen auf dem YouTube Kanal „Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik digital“ des GameLab der Geschichtsdidaktik an der Universität Wien: www.youtube.com/channel/UCSrbCE8mNWbRJw0zO7xwwGQ (Zugriff für diesen und alle weiteren in diesem Beitrag genannten Links: 19.09.2022).
Die Frage, wie sich die Kultur der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust verändert und weiter verändern wird, zielt einerseits darauf, welche neuen Medien und technischen Funktionen zukünftig Erinnerung bewahren werden: So folgte auf die großen Videoarchive mit Zeitzeugenberichten die Idee der Entwicklung von technisch aufwändigen digitalen Zeitzeug*innen Vgl. das Projekt „Dimensions in Testimony“ der USC Shoah Foundation: https://sfi.usc.edu/dit, das Projekt „Volumetrisches Zeitzeugnis von Holocaustüberlebenden“ der Filmuniversität Babelsberg: www.filmuniversitaet.de/forschung-transfer/forschung/newsarchiv/artikel/detail/erinnerungen-fuer-morgen oder das Projekt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: www.lediz.uni-muenchen.de/index.html. mit noch unbestimmtem Mehrwert (vgl. Gring 2021). Die Frage nach der Zukunft der Erinnerung sucht anderseits nach den Veränderungen, die die Digitalisierung aller Lebensbereiche auf die Erinnerungskultur hat und haben wird. In unserer hochtechnologisierten Welt ist das Smartphone Alltagsgegenstand. Mit der entsprechenden Hard- und Software ausgestattet ist es relativ einfach und kostengünstig, selbst kurze Videos oder Bildgeschichten zu produzieren und sie auf digitalen Plattformen zu veröffentlichen. Durch eine Verschlagwortung sind die Inhalte auffindbar und können von anderen kommentiert, erweitert und verlinkt, also in eigene Inhalte eingebunden werden.
Die Frage, wie sich die Kultur der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust verändert und weiter verändern wird, zielt darauf, welche neuen Medien und technischen Funktionen zukünftig Erinnerung bewahren werden.
So sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass nicht mehr nur Politik und Zivilgesellschaft den Umgang mit der NS-Geschichte aushandeln, sondern dass es wesentlich mehr Erinnerungsakteure gibt. Schaut man sich die Praxis des (digitalen) Gedenkens an, so zeigt sich eine unübersichtliche Vielfalt von Akteur*innen. Neben Gedenkstätten und Museen sind das Medienanstalten, Schulen, außerschulische Bildungsträger, Universitäten und Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften, Parteien, die Verwaltung auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene, Städte und nicht zuletzt viele, viele Privatpersonen. Das ist nicht nur im Hinblick auf eine Demokratisierung von Erinnerungskultur zu begrüßen. Dazu kommt, dass der Anspruch, die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust wach- und lebendig zu halten, sie zu erneuern und zu verbreite(r)n, durch die digitalen Möglichkeiten durchaus eingelöst werden kann: Soziale Medien werden „plattformübergreifend zu Erinnerungslandschaften“, in denen Austausch, Verbreitung und Sichtbarkeit von Gedenken und Erinnerung möglich wird (vgl. Ebbrecht-Hartmann 2021, o. S.). Gleichzeitig bewegt sich das Erinnern in dieser Form zwischen den Polen „partizipativer Erinnerungskultur und Trivialisierung“ (ebd.). Dass die Erinnerungskultur sich ändert und weiter ändern wird, wenn Multiperspektivität und Diversitätssensibilität nicht mehr nur in Bezug auf die Darstellung von Geschichte gefordert und – zum Teil – umgesetzt wird, sondern tatsächlich eine vielstimmige Beteiligung an der Auseinandersetzung um die Bedeutung von Geschichte und Erinnerung stattfindet, sollte nicht überraschen. Durch die Digitalisierung werden die Fragmentierung der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust einerseits und die grundsätzlich kontingenten Anschlüsse an „Erinnerungskommunikation“ (wieder) offenbar, die zumindest phasenweise gern als konsensuell phantasiert worden sind. Die Zukunft der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust ist insofern vor allem ein Prozess gesellschaftlicher Aushandlung, bei der die Bedingungen der Digitalisierung eine Rolle spielen. Aber was die spezifischen Veränderungen und Auswirkungen einer digitalen Erinnerungskultur sind, ist bislang weder hinreichend erforscht noch absehbar.
Welchen Beitrag leisten Gedenkstätten und Museen zur digitalen Erinnerungskultur?
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus prägen die Erinnerungskultur der Bundesrepublik in erheblichem Maße und zählen heute zu den seriösesten Quellen der Geschichtsvermittlung. Der Multidimensionale Erinnerungsmotor (MEMO) weist in seinen seit 2018 jährlich durchgeführten repräsentativen Befragungen kontinuierlich solide Zustimmungswerte von etwa einem Drittel der Befragten für Gedenkstätten auf: Gefragt nach den Orten, die am prägendsten für die eigene Meinung zur deutschen Geschichte eingeschätzt werden, werden Gedenkstätten gleichrangig mit Dokumentar-, Kino- und Fernsehfilmen genannt (vgl. Haug 2021). Zeitgeschichtliche Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten sind wichtige Akteure für die Erinnerungskultur in Deutschland. Sie erforschen Geschichte, geben historisches Wissen weiter, ermöglichen Gedenken und halten die Erinnerung aufrecht. Sie arbeiten in allen ihren Tätigkeitsbereichen auch digital (vgl. Hildebrandt 2020):
- Sie veröffentlichen Informationen zu ihren inhaltlichen Fragestellungen im Netz, sei es auf der eigenen Website, in Sammlungsdatenbanken oder auf verschiedenen Social Media Kanälen (vgl. Groschek 2020). Bspw. bietet das Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors den Gedenkstätten und -initiativen eine Möglichkeit an, ihre Sammlung digital zu verwalten und öffentlich zu präsentieren (https://gedenkstaetten.museum-digital.de/home). Dass bei der Digitalisierung und Veröffentlichungen der Sammlungen durchaus noch ein weiter Weg zu gehen ist, beschreibt bspw. Bert Pampel für Sachsen (vgl. Pampel 2022).
- Sie begleiten analoge pädagogische Angebote digital, etwa durch die Bereitstellung von Vor- und Nachbereitungsmaterialien zum Besuch der Ausstellung oder des Ortes auf der Website.
- Sie bereiten die Informationen vor Ort in digitaler Form auf, etwa mit Multimediaguides, bspw. zum Abbau von Barrieren in der dritten Dauerausstellung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, oder in Recherchestationen.
- Sie strukturieren den Besuch, etwa in Form von virtuellen Guides, bspw. der KZ-Gedenkstätte Mauthausen unter https://mm-tours.org/de/1 oder von digitalen, interaktiven Ralleys, wie bspw. der „Digitale Rundgang Trutzhain“ der Gedenkstätte Trutzhain unter https://de.actionbound.com/bound/TestTrutzhain.
- Sie erweitern die Informationen vor Ort, etwa in Form von AR, wie bspw. die AR-Anwendung „Die Befreiung“ der KZ-Gedenkstätte Dachau und des Bayerischen Rundfunks, finanziell unterstützt von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft unter www.br.de/diebefreiung oder VR Anwendungen, wie bspw. die VR-App „Anne Frank House VR“ des Anne Frank Hauses in Amsterdam unter www.annefrank.org/de/uber-uns/was-wir-tun/unsere-publikationen/das-anne-frank-haus-virtual-reality.
- Sie erstellen digitale Ausstellungen, 360 Grad Rundgänge Es gibt keine bundesweite oder internationale Übersicht über digitale Ausstellungen und Rundgänge. Auf der Homepage von Gedenkstätten und Erinnerungsorten gibt es häufig einen eigenen Bereich zu digitalen Angeboten. oder digitale Lernmaterialien, bspw. die Lern-App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“ (2018) von erinnern.at: www.erinnern.at/zeitzeuginnen/lernen-mit-video-interviews/lern-app-fliehen-vor-dem-holocaust.
- Viele bieten auch digitale Veranstaltungen für unterschiedliche Zielgruppen an, etwa Führungen, Gespräche mit Zeitzeug*innen oder interaktive Workshops.
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus prägen die Erinnerungskultur der Bundesrepublik in erheblichem Maße und zählen heute zu den seriösesten Quellen der Geschichtsvermittlung.
Unter den Bedingungen von Lockdown, Home-Schooling und der physischen Unerreichbarkeit haben sich viele Gedenkstätten und Museen beeilt, ihre digitalen Angebote auszubauen. Der Digitalisierungsschub wurde in erster Linie auch deswegen nötig, weil die 2020 anstehenden 75. Jahrestage der Befreiung vor Ort feierlich begangen werden sollten, dann aber die pandemiebedingte Schließung zuvorkam (vgl. Ebbrecht-Hartmann 2020). Während digitale Tools bis zur Schließung aufgrund der Covid-Pandemie eher dazu eingesetzt wurden, Wahrnehmungsdimensionen zu erweitern, wurde jetzt versucht, den Besuch selbst ins Digitale zu verlegen (#closed but open). Es konnten zusätzliche Gelder eingeworben werden, die etwa die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien als umfassendes Rettungs- und Zukunftsprogramm für den Kultur- und Medienbereich ausgeschrieben hatte, und es stand Personal zur Verfügung, das vor der Pandemie analog gearbeitet und sich jetzt schnell in die neue Materie eingearbeitet und mit anderen in derselben Situation vernetzten hatte. Allerdings zeigten sich Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung aufgrund der allgemein schlecht ausgebauten digitalen Infrastruktur (bspw. günstige, datenschutzsichere Programme, Hardware-Ausstattung der Nutzer*innen, stabile Internetverbindungen). Die Erforschung der Konzeptionierung sowie der Rezeption der Angebote stellt ein Desiderat dar (vgl. Flügel 2022).
Digitale Ausstellungstechnik und der Einsatz digitaler Medien wurden in Museen und Gedenkstätten vor der Covid-19-Pandemie nie als eigenständiges Angebot gedacht. Vielmehr liegt hier die besondere Bedeutung in den physischen Räumen, die die Besucher*innen erleben und an denen sie sich begegnen. Besucher*innen kommen zwar mit unterschiedlichen Interessen an die Orte, aber die Orte selbst sind das wichtigste Medium. Bei Museen liegt die besondere Bedeutung in der Bewahrung von originalen Objekten und ihre Präsentation im Raum. Der Kern von (KZ-)Gedenkstätten ist die räumliche Kontinuität von Geschichte und Gegenwart. Die Orte sind nicht nur Flächendenkmale, sondern auch weiterhin Beweismittel – für die NS-Verbrechen ebenso wie dafür, wie mit den Orten nach der Befreiung umgegangen wurde.
Museen und Gedenkstätten bringen ihre Expertise verstärkt in den digitalen Raum ein und entwickeln sich ständig weiter, müssen aber in nach-pandemischen Zeiten vor dem Hintergrund der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen Analoges und Digitales in Einklang bringen und genau abwägen, auf welchen Wegen sie ihre Ziele bestmöglich erreichen.
Museen und Gedenkstätten bringen ihre Expertise verstärkt in den digitalen Raum ein und entwickeln sich ständig weiter, müssen aber in nach-pandemischen Zeiten vor dem Hintergrund der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen Analoges und Digitales in Einklang bringen und genau abwägen, auf welchen Wegen sie ihre Ziele bestmöglich erreichen. Ihre Präsenz im Digitalen ist wichtig: Sie sind eben nicht mehr nur Orte, denen vor allem aus ihrer topografischen Beständigkeit Autorität beigemessen wird, auch wenn diese ihre Hauptanziehungskraft ausmacht. Sie genießen aufgrund jahrelanger professioneller Arbeit in all ihren Aufgabenbereichen auch als Institutionen großes Vertrauen. Sie besitzen breite Expertise nicht nur über die tiefe Kenntnis der Geschichte vor Ort und ihrer Kontextualisierung, sondern auch im Umgang mit den Untiefen der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Damit sind Gedenkstätten und ähnliche Einrichtungen wichtige Akteure im digitalen Raum, um Orientierung in der Unübersichtlichkeit digitaler erinnerungskultureller Angebote zu geben. Sie beteiligen sich im digitalen Raum aber nicht aus einer hegemonialen Position heraus, sondern sind Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber, wie die Erinnerung und Gedenken aufrechterhalten und erneuert wird.
Digitales Gedenken ist nicht gleich historisch-politische Bildung
Gedenkstätten haben allerdings vielfältige Aufgaben, von denen der allgemeine Bildungsauftrag und die Umsetzung konkreter Bildungsangebote nur ein Teil ist. Deswegen sind auch nicht alle digitalen Angebote von Gedenkstätten oder allgemeiner: der digitalen Erinnerungskultur unmittelbar für Bildungszwecke gedacht und konzipiert. Dass damit dennoch die Assoziation „digitale historische Bildung“ zu Nationalsozialismus und Holocaust aufgerufen wird, ist wenig verwunderlich, aber gleichwohl eine Verwechslung. Die enge Verknüpfung von Erinnerung und Lernen ist so fest etabliert, dass oftmals jegliche erinnerungskulturellen Praktiken als pädagogisch verstanden werden. Dabei sind große digitale Projekte wie die Zeitzeugenarchive der Shoah Foundation zunächst vor allem eine enorme Sammlung von Lebensgeschichten. Auch das Crowdsourcing-Projekt #everynamecounts der Arolsen Archives bezeichnet sich selbst bzw. sein Ziel als virtuelle Gedenkstätte. Es geht dabei darum, mithilfe niedrigschwelliger, aber zahlreicher personeller Unterstützung Daten aus Konzentrationslager-Akten digital zu erfassen. Suggeriert wird durch die Selbstbeschreibung aber, es handele sich auch um ein pädagogisches Großangebot mit dem Ziel, dass „auch zukünftige Generationen sich an die Namen und Identitäten der Opfer erinnern können. Es geht zudem um unsere heutige Gesellschaft. Denn der Blick zurück zeigt uns, wohin Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus führen.“ (https://enc.arolsen-archives.org/ueber-everynamecounts) Während Signalwörter wie „zukünftige Generation“, „Gegenwart“ und der zeigende Blick auf pädagogische Absichten verweisen, besteht das Projekt selbst aus der Digitalisierung archivalischer Daten.
Ein pädagogischer Prozess und eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte entstehen aber nicht lediglich aus der Beteiligung an einer guten (und praktischen) Idee, sondern über kritische Fragen: Wer hat die Akten angelegt? Wer hat damals die Daten eingegeben und mit welchen Folgen? Welche Rolle spielte das Verwaltungshandeln bei der Verfolgung und Ermordung von Millionen von Menschen? Warum sehen Personalakten heute ähnlich aber anders aus? etc. Um erkenntnisgewinnend zu sein, müsste also eine Auseinandersetzung mit dem Aktenbestand an sich erfolgen, eine Fragestellung entwickelt, der historische Kontext ermittelt werden usw. Dass dies möglich ist, steht nicht infrage – dass das Projekt aber an sich schon historisch-politischen Bildungswert hat, stellt eine Verwechslung von Aufgabe und Ziel dar und selbst im angestrebten Produkt – eines digitalen Denkmals – eine Verwechslung von Gedenken und Lernen.
Das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl vom Südwestdeutschen Rundfunk und dem Bayerischen Rundfunk aus dem Jahr 2021/2022 wurde in der Öffentlichkeit viel diskutiert. In der Ankündigung wird beschrieben, dass „die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt (geholt wird)“. Die Nutzer*innen können „hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben“ (www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagram-serie-102.html). An dieser Stelle soll nicht auf die Kritik, auf die Inhalte und die Umsetzung eingegangen werden (vgl. Hespers 2022), sondern das Konzept der Auflösung der zeitlichen Grenzen betrachtet werden: Die zu erinnernde Person wird mit Hilfe der neuen Medien quasi in die Gegenwart geholt, Nutzer*innen können mit ihr digital unmittelbar interagieren. Dass dies durchaus eine der strukturellen Veränderungen digitaler Erinnerungskultur darstellt, lässt sich auch an dem bereits eingangs erwähnten 3D-Hologramm-Zeitzeugen-Projekt der Shoah Foundation zeigen. Das Hologramm ist als dialogischer Partner konzipiert, letztlich als „perfektionierte Inszenierung von Nähe und Echtheit (…). Trotz der Vergangenheit des Zeitzeugen wird eine Gleichzeitigkeit mit ihm simuliert und damit zur Auflösung der Grenzen zwischen Geschichte und Gegenwart beigetragen.“ (Knoch 2020, S. 35) Während die digitalen Möglichkeiten eine solche Perfektion ermöglichen, sind die dahinterstehenden Wünsche einer unmittelbaren Begegnung mit Geschichte (nicht selten mit der Hoffnung auf unmittelbare Erkenntnis) keinesfalls neu. Die Aufgabe historisch-politischer Bildung besteht allerdings nicht in der Suggestion von Unmittelbarkeit, sondern genau in der Gewahrwerdung der Spannung von Nähe und Distanz zum historischen Gegenstand und der Reflexion solcherlei Identifikationswünsche.
Grundsätzlich können alle Formen des digitalen Gedenkens dem historischen Lernen dienen, wenn man sie als Produkte der Geschichtskultur wahrnimmt und kritisch reflektiert.
Es ließe sich also auch anhand der Instagram-Sophie-Scholl ein Bildungsprozess in Gang setzen. Grundsätzlich können alle Formen des digitalen Gedenkens dem historischen Lernen dienen, wenn man sie als Produkte der Geschichtskultur wahrnimmt und kritisch reflektiert. Dieser analytische Akt der De-Konstruktion (in Abgrenzung zur Re-Konstruktion, dem triftigen Narrativ über historischen Quellen) wird in der Geschichtsdidaktik als eine der Kernkompetenzen beschrieben (vgl. das Kompetenz-Strukturmodell der FUER-Gruppe in Schreiber u. a. 2006). Insofern sind viele digitale Angebote lediglich Rohmaterial für die pädagogische Auseinandersetzung. „Man muss sich bewusstmachen, dass man ein Produkt der Gegenwart gesehen hat, das sich über die Zustände in der Vergangenheit äußert. Man hat also nicht die Vergangenheit gesehen, sondern eigentlich nur, wie man sich heute eine vergangene Zeit vorstellt.“ (www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/505406/geschichte-in-360-grad-erleben)
Bildung ist Gespräch und Prozess
Wo digitale Medien systematisch zu Bildungsprozessen führen sollen, ist eine Einbindung in einen pädagogischen Prozess, in eine wiederkehrende Bewegung von Interaktion notwendig. Materialien der digitalen historischen Bildung unterscheiden sich deswegen in einem wesentlichen Punkt von digitalen Produkten der Erinnerungskultur: Sie schaffen reflexive Zugänge zu dem Material und treten mit jenen, die lernen wollen (oder sollen) in Kontakt. Dass digitale Medien bei Jugendlichen oftmals einen höheren Attraktivitätswert besitzen als Bücher und Arbeitsblätter wird dabei nicht bestritten. Da Lernen aber nur eine Seite des Pädagogischen ist, die im Idealfall auf ein Vermittlungsbestreben folgt, bleibt Pädagogik im Kern altmodisch: Sie braucht den Dreischritt, also die Reaktion auf das Lernen.
Wo digitale Medien systematisch zu Bildungsprozessen führen sollen, ist eine Einbindung in einen pädagogischen Prozess, in eine wiederkehrende Bewegung von Interaktion notwendig.
Die Zukunft der Erinnerung hängt nicht an erster Stelle von den digitalen Möglichkeiten ab, sondern davon, ob es gelingt, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und das Gedenken an die Millionen von Menschen, die verfolgt und ermordet wurden, als gegenwartsrelevant für die jeweilige Gesellschaft zu begreifen. Ob es dafür dreidimensionale Zeitzeug*innen braucht oder Bücher, Apps oder Archivalien ist letztlich keine entscheidende Frage. Dass die Vermittlungs- und Weitergabeformen von Erinnerung sich weiterhin digital entwickeln, davon ist im Moment auszugehen, und dass die digitalen Medien dazu beitragen können, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Beweggründen sich mit den Lebensgeschichten ehemaliger Verfolgter in Verbindung bringen und diese Verbundenheit vielfach teilen und verbreiten, zeigt sich bereits seit vielen Jahren. Die Praxis der Nutzung sozialer Netzwerke und digitaler Vervielfältigungsformen dennoch kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren, was hinter den Selfies und Postings steht, ist wiederum eine Frage, die diskutiert werden muss. Und diesen Prozess anzuregen, an manchen Stellen anzuleiten und Erkenntnisse zu fördern, bleibt auch weiterhin die Aufgabe einer historisch-politischen, kritischen Bildung.
Zu den Autorinnen
haug@annefrank.de
Foto: Ruthe Zuntz
nahm@annefrank.de
Foto: Ruthe Zuntz