Aufsuchende Bildungsarbeit als inklusiver Ansatz in prekarisierten Stadtteilen Ostdeutschlands
Soziale Ungleichheit in der und durch die außerschulische Bildung?
In der Bundesrepublik Deutschland nimmt die soziale Ungleichheit zu: Wohlstandsgewinne konzentrieren sich bei einer winzig kleinen Minderheit der Bevölkerung, knapp 17 % der Gesamtbevölkerung und 20 % der Kinder und Jugendlichen sind armutsbetroffen. Hinzu kommen Obdachlose und Menschen in Notunterkünften (vgl. Butterwegge 2018). Zudem ist die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu et al. 1971) im Schul- und Hochschulsystem (vgl. Becker/Lauterbach 2010) sowie des Aufstiegs in die Funktionseliten (vgl. Hartmann 2002) mit Blick auf soziale Herkunft und familiäre Migrationsgeschichte eine seit langer Zeit gut belegte Tatsache. Und die Deutung, dass damit das meritokratische Prinzip demokratischer Klassengesellschaften verletzt und die Legitimation ungleicher Teilhabe untergraben wird, gehört zum kritischen Diskurs um Diskriminierung in den Sozialwissenschaften (vgl. Scherr 2017).
Ähnliches gilt für Diagnosen zum Zustand der parlamentarischen Demokratie: Die Abgeordneten sind etwa mit Blick auf soziale Herkunft und Migrationsgeschichte weit homogener als die Bevölkerung (vgl. Elsässer/Hense/Schäfer 2017) und relevante Bevölkerungsgruppen, insbesondere Migrant*innen, die dauerhaft ohne deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland leben, sind vom Recht auf politische Mitbestimmung (auf Bundesebene) ausgeschlossen. In Kombination mit der schwindenden Wahlbeteiligung insbesondere von sozio-ökonomisch benachteiligten Gruppen geht dies damit einher, dass Interessen von benachteiligten Minderheiten im politischen System deutlich unterrepräsentiert sind (vgl. Tophoven et al. 2017). Bei der Bundestagswahl 2021 bildeten die mehr als 14,3 Millionen Nicht-Wähler*innen die in absoluten Zahlen stärkste „Partei“ (vgl. Bundeswahlleiter 2023). Anstatt die sozial ungleich verteilte Wahlabstinenz als Zustimmung zum neoliberalen politischen Kurs zu deuten, muss davon ausgegangen werden, dass in der mangelnden materiellen und politischen Teilhabe ein veritables Demokratiedefizit zum Ausdruck kommt.
Vor diesem Hintergrund wäre es eine wichtige Aufgabe kritischer außerschulischer politischer Bildung (vgl. Lösch/Thimmel 2010), die ungleichen materiellen und politischen Teilhabemöglichkeiten mit den von dieser Diskriminierung Betroffenen zum Thema zu machen und ihnen zu helfen, ihre Interessen zu artikulieren und in politische Aushandlungsprozesse einzubringen. Dem wird das institutionalisierte Gefüge, zu dem neben den Trägern politischer Bildung auch zahlreiche durch Bundes- und Landesprogramme geförderte Einrichtungen und Projekte gehören, indes in dreifacher Hinsicht nicht hinreichend gerecht: Erstens gehören konzeptionell gesehen Klassenverhältnisse seit geraumer Zeit nicht mehr zu einem zentralen Thema politischer Bildung, sodass zweitens auch Methoden zur Umsetzung entsprechender Bildungsprozesse Mangelware sind; und drittens erreichen die Träger und Einrichtungen überwiegend diejenigen, die traditionellen Bildungsformaten habituell nahe sind. Insofern könnte man sagen, dass die mangelnde materielle und politische Teilhabe bestimmter Bevölkerungsgruppen sich nicht nur im Feld der außerschulischen Bildung niederschlägt, sondern dass dieses Feld das Problem auch – ungewollt bzw. unbewusst – reproduziert.
In der Bundesrepublik Deutschland nimmt die soziale Ungleichheit zu: Wohlstandsgewinne konzentrieren sich bei einer winzig kleinen Minderheit der Bevölkerung, knapp 17 % der Gesamtbevölkerung und 20 % der Kinder und Jugendlichen sind armutsbetroffen.
Hoffnungsvoll stimmt, dass in den letzten Jahren Stimmen hörbarer geworden sind, die unter dem Stichwort Klassismus thematische Erweiterungen in die öffentliche Debatte um soziale Ungleichheiten eingebracht haben (vgl. z. B. Seeck/Theißl 2020), Diskriminierung im Zusammenhang mit dem sozialen Status Eingang ins Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz gefunden hat und auch in der Forschung, die die Entwicklung der Projektlandschaft für Demokratie begleitet, Klassenverhältnisse zum Thema gemacht werden (vgl. Reimer-Gordinskaya et al. 2023). In diesem Kontext ist auch die Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und von Landeszentralen für politische Bildung zu verstehen, die seit einigen Jahren modellhaft versuchen, mittels aufsuchender politischer Bildung auf diese Herausforderungen zu reagieren.
Aufsuchende politische Bildung als Lösungsansatz
Im institutionellen Gefüge der politischen Bildung ist das skizzierte Problem nicht nur erkannt worden, sondern wird seit einigen Jahren auch angegangen. Als eine zentrale Strategie prägt der Ansatz Aufsuchende politische Bildung den fachlichen Diskurs zur Prävention von sozialer Ungleichheit und Politikdistanz. In diesem Zusammenhang gründete sich die Bundesarbeitsgemeinschaft „Aufsuchende politische Bildung“, welche vor allem den theoretischen und fachlichen Austausch absichert. Rückkopplung aus der Praxis erhält die BAG u. a. durch das bpb-Modellprogramm „Gleiche politische Teilhabe – Erprobung von Ansätzen einer aufsuchenden politischen Bildung im Quartier“, das in Kooperation mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt umgesetzt wird.

Die theoretisch-empirischen Grundlagen dieses Diskussions- und Praxiszusammenhangs schließen an die oben skizzierten Debatten zur Entstehung ungleicher Teilhabemöglichkeiten in materieller und politischer Hinsicht an. Z. B. macht Bremer (2012) Zusammenhänge zwischen diesen beiden Formen der Benachteiligung theoretisch plausibel und belegt sie empirisch. So korrespondieren die politischen Teilhabemöglichkeiten mit der sozialen Logik des „politischen Feldes“ (Bourdieu et al. 1971), weil der Zugang zum Feld vom milieuspezifisch ungleich verteilten „politischen Kapital“ abhängt (Bremer 2012). Zwischen hierarchisch angeordneten sozialen Milieus existiert ein Kräftefeld, in dem Differenzen mittels Regeln, Sprache und kultureller Handlungspraxis reproduziert werden. Dabei verfügen obere Milieus als „Expert*innen“ über legitime politische Kompetenz sowie Artikulationsformen und repräsentieren sich und ihre Interessen, z. B. über die Mitarbeit in politischen Ämtern, selbst. Die unterprivilegierten Milieus werden als „politische Laien“ abgewertet, deren Habitus den Ansprüchen politischer Kompetenz nicht entsprechen und werden somit aus politischen Institutionen ausgegrenzt. Die Exklusion wirkt über die symbolische Herrschaft in beiden Richtungen: Als Verinnerlichung der Anerkennung von Kompetenzen und Internalisierung der (zugeschriebenen) Inkompetenz. Wenngleich konzeptionell etwas anders fundiert, belegen empirische Untersuchungen die skizzierte Entstehung ungleicher politischer Teilhabe. So korreliert die Wahlbeteiligung mit der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht und nimmt im Gefälle nach unten hin ab; und die überdurchschnittliche Repräsentanz von Personen aus bildungsnahen und ressourcenreichen Milieus im Deutschen Bundestag geht damit einher, dass im Sinne der Responsivität Präferenzen von Wähler*innen mit hohem Einkommen eher umgesetzt werden. Die Repräsentationslücken öffnen zudem Gelegenheitsfenster für rechtspopulistische Bewegungen und Parteien, deren nationalistisch-rassistische Agenda Konflikte um Teilhabe von einer vertikalen bzw. strukturellen Problemstellung in horizontale Spannungen und Konflikte unter sozial abgedrängten und prekarisierten Gruppen verschiebt.
Anstatt die sozial ungleich verteilte Wahlabstinenz als Zustimmung zum neoliberalen politischen Kurs zu deuten, muss davon ausgegangen werden, dass in der mangelnden materiellen und politischen Teilhabe ein veritables Demokratiedefizit zum Ausdruck kommt.
Vor diesem Hintergrund wurden die Bemühungen verstärkt, die politisch marginalisierten und bislang kaum erreichten Gruppen mit Hilfe innovativer Ansätze in Prozesse der politischen Bildung zu involvieren. Dazu veröffentlichte die Berliner Landeszentrale für politische Bildung (2021) eine Bestandserhebung zu allen Projekten in Deutschland, die als aufsuchende politische Bildung verstanden werden können. Außerdem werden vier grundlegende Kriterien aufsuchender politischer Bildung formuliert, deren Umsetzung dazu beitragen könnte, den habituellen, kulturellen und räumlichen Differenzen im politischen Feld entgegenzuwirken: (1) Anstatt in etablierte und traditionelle Räume politischer Bildung einzuladen, sollten die Bildungsangebote dezentral und sozialräumlich aufsuchend angelegt sein. (2) Themen sollen aus den Alltagserfahrungen der Zielgruppe entwickelt und im Kontext ihrer überindividuellen, gesamtgesellschaftlichen politischen Relevanz diskutiert werden, sodass die Bedeutung politischer Prozesse und Entscheidungen für das eigene Alltagsleben verständlich wird und Wege der Einflussnahme und Beteiligung sichtbar werden. (3) Die Kooperation mit anerkannten Einrichtungen und Initiativen vor Ort sowie Brückenpersonen an der Schnittstelle zu Gemeinwesenarbeit soll helfen, das Vertrauen in die von außen kommenden Akteur*innen der politischen Bildung zu stärken. (4) Als zentraler didaktischer Ansatz wird postuliert, Gesprächsanlässe zu inszenieren, die von der eigenen Lebenswirklichkeit ausgehend das Sprechen über gesellschaftliche und politische Themen üben. Diesbezüglich sollen kommunikative Methoden und Elemente inklusiver Pädagogik wie Leichte Sprache oder Kommunikation über Bilder genutzt werden.
Die Kriterien haben im Modellprojekt „StadtseeGeschichten – Deine Geschichte (er)zählt!“ Anwendung gefunden und wurden konkretisiert und ergänzt, wie im Folgenden beschrieben wird.
Das Modellprojekt „StadtseeGeschichten“ in Sachsen-Anhalt
Grundlagen
Das Modellprojekt „StadtseeGeschichten“ wird von der SozialStärken gGmbH in Kooperation mit der Hochschule Magdeburg-Stendal umgesetzt und von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt kofinanziert sowie konzeptionell und organisatorisch begleitet. Dabei soll im Sozialraum Stendal-Stadtsee ein modellhaftes Vorgehen entwickelt und anschließend in vergleichbare Sozialräume des Landes disseminiert werden. In diesem Plattenbaugebiet ist ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung von Armut betroffen und politisch nicht hinreichend repräsentiert. Sie sind keine selbstverständlichen Teilnehmer*innen traditioneller Angebote politischer Bildung.
Die Entstehung dieser materiellen und politischen Benachteiligung liegt in der langfristigen Entwicklung dieser Stadtteile vor und nach der Wende begründet, die für Stadtsee auch auf der Grundlage narrativer Interviews mit langjährigen Bewohner*innen des Stadtteils nachvollzogen werden konnte (vgl. Reimer-Gordinskaya 2020). In der Nachwendezeit waren die Stadtteile angesichts von Geburtenrückgängen und Wegzügen einerseits von Rückbau und Bevölkerungsverlust geprägt, andererseits fanden unterschiedliche Gruppen von Migrant*innen vorzugsweise in diesen Stadtteilen ihr Zuhause. Gemeinsam waren und sind größere Teile der heterogenen Bevölkerung von der Prekarisierung von Erwerbs- und Lebensverhältnissen im Zuge der neoliberalen Transformation seit den 1990er Jahren betroffen. Darunter befinden sich nicht nur die im o. g. Forschungsprojekt befragten Senior*innen, sondern auch Kinder und Jugendliche. Angesichts unterschiedlicher theoretisch fundierter, empirischer Einblicke in den Stadtteil eröffnete sich vor Projektbeginn eine Vorstellung von lebensweltlich relevanten Themen und Herausforderungen, mit denen die heterogene Bevölkerung konfrontiert ist und die Ansatzpunkte der aufsuchenden politischen Bildung sein könnten: nämlich die Auseinandersetzung mit spezifisch ostdeutsch geprägten Klassenverhältnissen und Klassismus in Verschränkungen mit anderen Formen der Diskriminierung.
Themen sollen aus den Alltagserfahrungen der Zielgruppe entwickelt und im Kontext ihrer überindividuellen, gesamtgesellschaftlichen politischen Relevanz diskutiert werden, sodass die Bedeutung politischer Prozesse und Entscheidungen für das eigene Alltagsleben verständlich wird und Wege der Einflussnahme und Beteiligung sichtbar werden.
Im Modellprojekt „StadtseeGeschichten“ wird beabsichtigt, eine mit Blick auf ostdeutsche Sozialisation, Migrationsgeschichten, Geschlechtsidentitäten, körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen etc. heterogene Gruppe zu erreichen und in gemeinsame Bildungsprozesse zu involvieren. Alltagserfahrungen sollen so reflektiert werden, dass Möglichkeiten verändernder, solidarischer Praxis unter Nutzung vorhandener Ressourcen und entstehender Fähigkeiten sicht- und realisierbar werden. Dies wird durch das dreiköpfige heterogene Projektteam unterstützt.
Das Projekt umfasst vier Formate, durch die die angestrebten Zielgruppen erreicht und in denen aufsuchende politische Bildung unterschiedlich umgesetzt wird: Offener Treff mit Exkursionen, Theaterprojekt, StadtseeHäuschen und StadtseeRundgang.
Offener Treff: Aktion und Reflexion
Beim Offenen Treff handelt es sich, wie der Name andeutet, um ein freies Format ohne feste Gruppe. Er findet als Angebot regelmäßig jeden 2. Donnerstag im Monat mit kostenlosem Frühstück und jeden letzten Samstag mit kostenlosem Mittagessen im Stadtteilbüro statt. Die Termine wurden bewusst gewählt, da an diesen beiden Tagen einige Meter entfernt die Ausgabe der Stendaler Tafel erfolgt. Viele Bewohner*innen Stendals sind auf eine Unterstützung durch die Tafel angewiesen und die Warteschlange ist ein informeller Ort des Austauschs, der vom mehrsprachigen Team anfangs genutzt wurde, um auf das Angebot mit Flyern auf Arabisch, Russisch und Deutsch aufmerksam zu machen. Das Stadtteilbüro hat seinen Sitz in der recht belebten Ladenzeile mit kleinen Läden wie einem russischen und arabischen Supermarkt, dem Kulturzentrum Kunstplatte e. V. sowie der Stendaler Tafel. Zugleich hat dort das Quartiersmanagement seinen Sitz. Der Ort ist ideal für aufsuchende Bildungsarbeit, da er zentral in Stadtsee liegt, den Bewohner*innen vertraut ist und von unterschiedlichen sozialen Gruppen genutzt wird.
Anfangs wurde der Offene Treff von fünf Personen besucht, die über direkte Ansprache unter den Nutzer*innen der Tafel erreicht worden waren. In der kleinen Anfangsgruppe konnten vertrauensvolle Beziehungen zwischen Teilnehmer*innen und dem Team aufgebaut werden. Innerhalb von wenigen Monaten wuchs die Gruppe auf etwa 30 Personen an, die regelmäßig kommen. Dabei hat insbesondere die Mundpropaganda durch Teilnehmer*innen, die teils gut vernetzte Schlüsselpersonen in ihren Communities sind und (unbezahlte) Sorgearbeit im Stadtteil übernehmen, für den Zuwachs gesorgt. Entscheidend war dabei, dass sich das Team für die Teilnehmer*innen als vertrauenswürdig erwiesen hat. Die Teilnehmer*innen sind heterogen und von materieller, symbolischer und politischer Ausgrenzung betroffen. Unter den Besucher*innen sind u. a. Erwerbslose, Ältere, chronisch Erkrankte, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und unterschiedlichen Migrationsgeschichten sowie Geschlechtsidentitäten.

Das offene Angebot bietet ihnen in erster Linie einen Raum, um in Gemeinschaft zu sein und einen sozialen Austausch pflegen zu können. Andere kostenfreie Angebote gibt es kaum noch und einen Cafébesuch können sich die meisten nicht leisten. Der Raum ist angesichts der sozialen Isolation vieler armutsbetroffener Menschen wichtig. Eine häufige Rückmeldung ist, wie wohltuend die gemeinsamen Treffen für die Seele sind und dass das Projekt eine Art Familienersatz darstellt.
Im Rahmen des Offenen Treffs finden Begegnungen zwischen Bewohner*innen statt, die zwar im selben Stadtteil leben, sich aber kaum kennen, etwa aus Gründen der Abgrenzung entlang von Differenzen der gesprochenen Sprachen oder der Herkunft. Bei diesen Begegnungen kommt es zu politischen Diskussionen, denn die Teilnehmer*innen sind politisch interessiert und sprechen ein Spektrum von globalen Themen der Weltpolitik (z. B. Krieg gegen die Ukraine) über Themen der EU- und Bundespolitik (z. B. Inflation und Preissteigerungen) bis zu lokalen Themen der Kommunalpolitik (z. B. mangelnde Barrierefreiheit, keine schattigen Sitzplätze im Sommer) an. Die Diskussionen sind oft affektiv aufgeladen, weil die angesprochenen Umstände sich auf die ohnehin äußerst prekär lebendenden Teilnehmer*innen drastisch auswirken. Gerade aus der unmittelbaren Betroffenheit von sozialer Ungleichheit sind die Menschen also sehr politisiert. Im Offenen Treff können sie ihre Gefühle und Gedanken in einen Austausch einbringen. Sie erleben gehört zu werden und mit Dissens umzugehen, ohne einander abzuwerten oder auszugrenzen. Damit dies gelingt, ist es Aufgabe des Teams, aktiv zuzuhören, den Raum für alle Beteiligten offen zu halten und das Gespräch zu moderieren.
Wiederkehrende Themen werden als zentral identifiziert. Zu diesen werden Kontextinformationen eingebracht, um Wissenslücken zu füllen, Perspektivwechsel anzuregen und informierte Einordnungen vornehmen zu können. Zur Erweiterung von Erfahrungen und Wissen dienen Exkursionen, z. B. zum Winckelmann-Museum.
Das sozialräumliche Ausgreifen des Offenen Treffs über das Stadtteilbüro und den Stadtsee hinaus hat die Gruppe auch auf den Campus der Hochschule Magdeburg-Stendal geführt. Anlass war das Einweihungsfest des neuen Bahnhofs, der den Stadtsee nun mit dem Campus verbindet. Der Bahnhof Stadtsee ist seit 1975 kaum verändert und somit nicht barrierefrei. Er erschwert die Reise für körperlich beeinträchtige Teilnehmer*innen erheblich – ganz im Gegensatz zum barrierefreien Bahnhof am Campus. Genauso gegensätzlich fällt der Vergleich des baulichen Zustands aus – Verfallserscheinungen hier, vollkommen neue und moderne Bauweise dort. Auf dem Einweihungsfest wurde die Gruppe z. T. mit irritierten und bewertenden Blicken empfangen. Hintergrund sind wechselseitig wahrnehmbare habituelle Differenzen (in Kleidung, Auftreten, Sprachausdruck und Lautstärke). Die symbolische Abwertung löste in der Gruppe Gefühle von Ablehnung, Scham und Wut aus, die vor Ort benannt und besprochen wurden. Dadurch konnte sie als kollektive Erfahrung ungerechtfertigter Abwertung verstanden werden. Im leeren Audimax wurde über den Wert von Bildung und die einzelnen Bildungswege der Teilnehmer*innen gesprochen. Dabei bestätigte sich, dass der Stendaler Campus kein vertrauter Ort für die Teilnehmer*innen ist. Trotz der Ausgrenzungserfahrung wurde beschlossen, zukünftig gemeinsam eine Vorlesung zu besuchen. Zudem entstand die Idee für eine weitere Exkursion zur Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe, wo kurz vor Kriegsende etwa eintausend Zwangsarbeiter auf Veranlassung des NSDAP-Kreisleiters und unter Beteiligung eines Teils der lokalen Bevölkerung grausam ermordet wurden. Die Museumspädagogen bereiteten in Absprache mit dem Team eine auf die Gruppe zugeschnittene Führung vor. Durch die Reise und die Führung erschlossen sich die Teilnehmer*innen neue historisch-politische Bildungsräume in ihrer Region.
Als Beispiel der vertiefenden politischen Bildung im Offenen Treff kann ein Angebot genannt werden, das über politische Teilhabemöglichkeiten sowie Funktionsweisen und Aufgaben des Stendaler Stadtrats und des Oberbürgermeisters (OB) informierte. Dazu wurde der OB in den Offenen Treff eingeladen. Da auf Grund von symbolischen Machtverhältnissen die Teilnehmer*innen im Zusammentreffen mit dem OB vermutlich nicht den Mut aufbringen würden zu sprechen, wurden sie gebeten, ihre Anliegen in kleinen Briefchen zu formulieren und in eine Urne zu werfen. Der OB kam der Einladung nach und wie erwartet war die Mehrheit sprachlos, weshalb die Briefe durch das Team vorgelesen wurden. Anliegen wie die mangelnde Barrierefreiheit der Gehwege wurden seitens des OB notiert und die Begegnung inspirierte ihn dazu, eine regelmäßige Sprechstunde in Stadtsee abzuhalten. In Planung ist derzeit, mit der Gruppe ins Rathaus zu gehen und den Arbeitsort des OB und seiner Verwaltung anzuschauen sowie eine Sitzung des Stadtrats zu besuchen, um das Verständnis kommunalpolitischer Prozesse und politischer Teilhabemöglichkeiten zu vertiefen.
Die Theatergruppe, das StadtseeHäuschen und der StadtseeRundgang
Auf Grund von guten Erfahrungen mit der Kunstform des Theaters als Mittel politischer Bildung mit marginalisierten Gruppen wird im Projekt ein Theaterstück von Teilnehmer*innen unter Anleitung einer Theaterpädagogin entwickelt und zur Aufführung gebracht. Die Gruppe besteht aus fünf weiblich und sechs männlich gelesenen Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren, die schon lange in Stendal wohnen oder u. a. aus dem Irak, Syrien und der Türkei kommend hier leben. Die Mehrheit bezieht Arbeitslosengeld II und ihre Theaterarbeit wird vom Jobcenter als Maßnahme anerkannt, ohne dass Sanktionen ausgesprochen werden können. Gerade letzteres zu vereinbaren war aus Projektsicht wichtig, damit die Teilnahme weitestgehend freiwillig ist. Zum Beginn des Theaterprojekts stand eine Phase des intensiven Beziehungsaufbaus der Teilnehmer*innen untereinander und zwischen Leitung und Gruppe. Im Zuge dessen wurden Themen identifiziert, die im Alltag der Gruppe relevant und mögliche Ausgangspunkte für die Entwicklung von Szenen des Stücks werden könnten. Aus der Reflexion der Themen durch die Projektleitung und die wissenschaftliche Begleitung resultierte die Idee, einen Utopieworkshop mit den Teilnehmer*innen durchzuführen, um Impulse und Ideen für eine gerechtere und lebenswertere Gesellschaft zu entwickeln. Die Auswertung des Workshops steht noch aus, ebenso die Entwicklung des Stücks und der begleitenden Materialien.
Das StadtseeHäuschen ist ein Gartenhaus, das im öffentlichen Raum Stendal-Stadtsee auf einer Freifläche aufgestellt wird. Damit es zu einem Ort des Gesprächs, der Aktion und Reflexion werden kann, wurde der Ort im Stadtteil sorgfältig gewählt. Zudem sollte das Häuschen gut sichtbar, aber auch an vorhandene Infrastrukturen angebunden sein, um etwa Zugang zu Toiletten zu gewährleisten. Als geeigneter Ort wurde eine Freifläche identifiziert, die von Trampelpfaden der Bewohner*innen durchzogen ist. Das StadtseeHäuschen soll auch eine frühere kollektive Erfahrung, die in Gesprächen häufig als Ausdruck gelebter Nachbarschaft erinnert wird, wieder aktivieren. Es wird von Anfang an unter Beteiligung von Einwohner*innen gestaltet und feierlich eröffnet, um eine positive Identifikation mit dem Häuschen zu ermöglichen. Es kann als Treffpunkt im öffentlichen Raum für Gespräche und mit Möglichkeiten kostengünstiger oder -freier Ernährung genutzt werden. Niedrigschwellige Informationsmaterialien werden über relevantes politisches Geschehen informieren. So können sich Möglichkeiten eröffnen, Anliegen im nachbarschaftlichen Umfeld zu identifizieren und in den kommunalpolitischen Prozess einzubringen.
Das Häuschen soll auch wesentliches Experimentierfeld für die Bearbeitung des Grabens sein, der viele Stadtsee-Einwohner*innen und Angehörige der Hochschule voneinander trennt. Ansatz ist, die Hochschule in den Sozialraum zu bringen. So werden in Kooperation mit Studierenden des Projektstudiums Angewandte Kindheitswissenschaften Kinder- und Jugendangebote entwickelt und auch andere Lehrende der Hochschule werden ermuntert, das Häuschen als Anlaufstelle für aufsuchende Bildungsangebote, etwa public lectures, zu nutzen.

Der StadtseeRundgang wird eine Gegen-Erzählung zur Zuschreibung des „sozialen Brennpunkts“ entwickeln, die für Einwohner*innen wie Besucher*innen der Stadt im öffentlichen Raum zugänglich sein wird. Hintergrund ist, dass die nach der Wende renovierte Altstadt mit ihrer Backsteingotik, dem Roland etc. identitätsstiftend nach innen und außen geworden ist, während das einstige Zentrum Stadtsee medial als Gegenbild fungiert. In der positiven Benennung und Bebilderung von Bildbänden etc. erscheinen die Wahrzeichen der Hanse – in Features über Verfall und Vandalismus besonders vernachlässigte Ecken des Stadtsees. Die Bewohner*innen selbst wissen um die negative Zuschreibung und zugleich auch, dass der Stadtteil viel komplexer und lebenswerter ist, als dargestellt. Zugleich tragen die Bewohner*innen die Geschichte des Stadtteils seit seinem Entstehen, über die Wendezeit bis in die Gegenwart in sich, sind also Zeitzeug*innen von markanten historischen Ereignissen und Entwicklungen, die sie selbst mitgestaltet und -erlebt haben. Eine Auswahl solcher Geschichten, die sich mit bestimmten Orten im Stadtsee verbinden, wird in Gesprächen und Interviews eruiert, verdichtet und in noch zu findenden Formen als Rundgang ausgestellt. An den Stationen werden Informationen über biografische Werdegänge im Kontext politischer Zeitgeschichte sowie die damit einhergehenden Auswirkungen auf den Stadtteil thematisiert. Es wird mit künstlerischen Zugängen und verschiedenen Medien wie Film und Fotografie, analog und digital, gearbeitet. Die Stationen laden über interaktive Elemente auch dazu ein, mit sich selbst und dem Sozialraum neu in Kontakt zu treten. Der StadtseeRundgang soll durch eine Kooperation mit der Stendaler Tourist*innen-Information als Stadtführung durch die Bewohner*innen selbst angeboten werden.
Beitrag des Projekts StadtseeGeschichten zum Anliegen aufsuchender politischer Bildung
Das Modellprojekt ist aufsuchend, da das Team im Stadtteil präsent ist und sich dort bewegt. Es werden geeignete Formate an geeigneten Orten etabliert. Am Wichtigsten ist aus Sicht des Projekts, auch die umgekehrte Bewegungsrichtung zu vollziehen und mit materiell, kulturell und politisch marginalisierten Gruppen Orte aufzusuchen, die ihnen ansonsten aufgrund der Wirksamkeit von Machtverhältnissen verschlossen bleiben. Dabei geht es auch darum, die normalisierte Differenz der habituell und sozialräumlich verfestigten Machtverhältnisse zu durchkreuzen und somit auch die Selbstverständlichkeit der Praxis der privilegierten Milieus zu irritieren. Bestenfalls kann dadurch angestoßen werden, was fürs Team selbst gilt: Eine innere Bewegung hin zu einem veränderten Verständnis von Bildungspraxen insgesamt zu vollziehen, um die Reproduktion von Machtverhältnissen in dem und durch das kulturell-politische Feld anzustoßen.
Am Wichtigsten ist, auch die umgekehrte Bewegungsrichtung zu vollziehen und mit materiell, kulturell und politisch marginalisierten Gruppen Orte aufzusuchen, die ihnen ansonsten aufgrund der Wirksamkeit von Machtverhältnissen verschlossen bleiben.
Der Ansatz, an der Lebenswelt und konkreten Erfahrungen der Teilnehmer*innen anzuknüpfen, ist gelungen, indem die Menschen an einem Ort mehr oder weniger regelmäßig zusammenkommen. Entscheidend ist dabei, auf welche Art des Wissens Bezug genommen wird und wie es gelingen kann, dieses Wissen didaktisch angemessen miteinander zu erarbeiten. Die Kooperation mit bereits etablierten Einrichtungen ist im Modellprojekt vor allem zum Projekteinstieg intensiv betrieben worden, um das Vorhaben vorzustellen, mögliche Zielgruppen zu erreichen und sich im Sozialraum zu vernetzen. Zentral ist darüber hinaus aber insbesondere, dass das Team selbst zu etablierten und vertrauenswürdigen Personen wird, wozu zu Beginn der Zusammenarbeit mit Einwohner*innen eine besonders intensive und dann dauerhaft zu haltende Beziehungsarbeit zu leisten ist. Wichtig ist es nun, unterschiedliche und passende Formate zu etablieren, und diese so weit wie möglich auf der Basis von Beziehungsarbeit und partizipativ unter Anerkennung der vielfältigen Ressourcen der Teilnehmer*innen zu gestalten. Die Berücksichtigung der affektiven Dimension in Bildungsprozessen ist ein wichtiger Bestandteil des Modellprojekts, indem Emotionen zum Ausgangspunkt empathischer Unterstützung und Reflexion und dadurch des Empowerments werden. Dabei beruht der Stendaler Ansatz auf einem Subjektverständnis, das die ganze Person in ihrem körperlich-habituellen Gewordensein und ihren kognitiven, emotionalen und motivationalen Kapazitäten im Verhältnis zu den jeweils relevanten gesellschaftlichen Umständen sieht und einbezieht.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Stendaler Projekt dazu beigetragen hat, praktische Wege aufsuchender politischer Bildung mit marginalisierten Gruppen aufzuzeigen sowie zur Differenzierung und Ergänzung von Kriterien und Gelingensbedingungen beizutragen. Insofern bleibt vorsichtig-optimistisch zu erwarten, dass es auch gelingen wird, die Repräsentationslücke unter Bezug auf regional bedeutsame und gesellschaftlich relevante Anliegen ein wenig zu schließen.
Zu den Autor*innen
stefanie.kummer@sozialstaerken.de

katrin.reimer@h2.de
Foto: Kerstin Seela