Außerschulische Bildung 2/2023

Geschichten von Kontinuität und Wandel

Einordnungen von Armut in Deutschland seit 1945

Armut ist ein schillernder, ein emotional und ideologisch aufgeladener und folglich umkämpfter Begriff. Das Sprechen über „Armut“ befördert ganz unterschiedliche Lesarten des Sozialen und Einschätzungen über die Betroffenen. Wie Armut eingeordnet wird und wurde, ist zudem immer abhängig von gesellschaftlichen Strukturen und Kontexten. Blickt man auf die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, so lassen sich neben teils großen Unterschieden auch Ähnlichkeiten bei der Bewertung und Einordnung von Armut feststellen. Diese stehen im Mittelpunkt des Beitrages. von Christoph Lorke

Was unter Armut eigentlich zu verstehen ist, hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab. Der Begriff „Armut“ ist emotional, politisch und ideologisch stark aufgeladen und transportiert zugleich eine gewisse definitorische Offenheit. Dieser Umstand wiederum führt dazu, dass er von unterschiedlichen Nutzer*innen zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschiedentlich funktionalisiert und instrumentalisiert worden ist bzw. werden konnte. Diese Umgangsweisen mit Armut und sozialer Ausgrenzung, die sich stets mit Fragen um soziale Gerechtigkeit, mit gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen sowie der Kritik oder Hinnahme bestimmter sozialer Notlagen verbinden, lassen sich bis in die heutige Zeit beobachten. Denn auch in gegenwärtiger wie zeithistorischer Hinsicht lassen sich zahlreiche Beispiele für die in Teilen sehr unterschiedlichen Deutungen des Begriffs finden. So haben etwa politik- und sozialwissenschaftliche Arbeiten Muster der Verdrängung, Dramatisierung, Skandalisierung und Politisierung des Themas Armut im öffentlichen Raum festgestellt (vgl. Buhr et al. 1991; Leisering 1993; Butterwegge 2009).

Versuchen wir nun, diese Entwicklungen an die gegebenen Zeitumstände und Kontexte rückzubinden und die Entstehungsbedingungen jener Diagnosen und Lesarten des Sozialen zu historisieren. Hierfür bietet die Zeit des geteilten Deutschlands einen durchaus interessanten Untersuchungsgegenstand. Denn beide deutsche Staaten waren bezogen auf ihre politische Verfasstheit und den Charakter der jeweiligen gesellschaftlichen Öffentlichkeiten sehr verschieden. Allerdings lassen sich hinsichtlich der Wahrnehmung, Kategorisierung und Deutung von sozialen Erscheinungen, die als „arm“ bezeichnet werden könnten, durchaus Analogien erkennen. Diese zunächst in vielerlei Hinsicht durchaus vergleichbaren, im späteren Verlauf sodann recht unterschiedlichen Verfahren, mit dem sozialen Phänomen umzugehen, mündeten mit den frühen 1990er Jahren in eine Phase, in der auch solche sozialen Lesarten „wiedervereint“ werden mussten. Diese Entwicklungen sind Thema der folgenden Ausführungen, die auf Vorarbeiten des Autors beruhen (vgl. Lorke 2015; 2021). Darin interessieren weniger „harte“ Zahlen und Sozialstatistiken, wie Durchschnittseinkommen oder Rentenhöhen. Stattdessen werden, ausgehend von einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von „Armut“ als einer Kategorie, die mit dem Soziologen Georg Simmel als Ergebnis öffentlicher Wahrnehmung, sozialer Reaktionen und Definitionen zu verstehen ist (vgl. Simmel 1908), Formen zeitgenössischer Konstruktionen, Zuschreibungen und Charakterisierungen von „Armut“ konturiert. Diese verraten vor der Hintergrundfolie einer „asymmetrisch-verflochtenen Parallelgeschichte“ (Christoph Kleßmann) vieles über die sozialsymbolische Ordnung beider deutscher Gesellschaften nach 1945.

Ausgangslage und Nachkriegszeit