Ein diskutables Podcast-Format
Als ich sechs Jahre alt war, habe ich im Wohnzimmer meiner Großmutter vor dem Schallplattenschrank gesessen und auf Vinyl gepresste Hörspiele gehört. Dornröschen. Die Irrfahrten des Odysseus. Fünf Freunde auf Schmugglerjagd. Dabei habe ich Lego-Raumschiffe gebaut und ihre Besatzungen in endlose Weiten reisen lassen. Später, als ich meinen ersten Kassettenrekorder hatte, sind dann Die Drei Fragezeichen dazugekommen. Ich erinnere mich an Bandsalat zum Mittagessen, daran, dass ich Tarzan, Karl und Klößchen richtig scheiße fand und an die vom Kabelfernsehen verseuchten Europa-Hörspiel-Sammlungen meiner Freunde. Alf. Knight Rider. Das A-Team. Es war furchtbar. Ich habe es geliebt.
Heute, 30 Jahre später, stellen Podcasts die vorläufig letzte Entwicklungsstufe meiner Hör-Evolution dar. Auf den Fahrten zur Arbeit, zu bewusstseinserweiternden Inspirationszwecken, beim Kochen, zum Einschlafen. Podcasts sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil meines Alltags.
Der Schritt vom User zum Contentdesigner ist in einer Kultur der Digitalität nur ein kleiner. „Wenn die das können, dann können wir das auch!“, haben sich mein Kollege Karsten Lucke und ich in maßloser Selbstüberschätzung selbst gesagt und 2016 das zurecht wenig beachtete Podcast „Euducation“ gestartet. Zu zweit haben wir über politische Bildung, das Internet und Politik gesprochen. Und dabei einfach Spaß gehabt. Nach einer kritischen Sendung über die Bundeszentrale für politische Bildung bekamen wir aufgeregte Anrufe mit Nachfragen aus verschiedenen Büros. Dabei hatten wir nur das Nähkästchen geöffnet. Es war eine zaghafte Bestätigung für unseren verschämten Aktivismus. Aus Zeitmangel haben wir das Projekt nach 21 Sendungen eingestellt. „Euducation“ war nicht nur ein furchtbarer Titel, sondern auch unerhörter Luxus neben all der „richtigen“ Arbeit.
Erst 2020, mit dem Beginn der Corona-Pandemie und dem vorläufigen Ende von Präsenzveranstaltungen in unserer Stiftung, kam das Thema Podcast wieder auf den frisch desinfizierten Tisch. Auf einmal waren die Ressourcen „Zeit und Geld“ für neue Projekte da – und wir wollten es noch einmal versuchen. Aber wie? Und warum überhaupt? Statt eines voreiligen Schnellschusses haben wir uns zunächst hingesetzt und uns gefragt, was uns selbst interessieren würde. Einfach nur einen Podcast produzieren, um einen Podcast zu produzieren? Das wollten wir nicht. Aus unserem Findungs-Prozess sind die beiden folgenden Orientierungssätze entstanden:
1. Dieser Podcast ist für uns!
Gut Ding will Weile haben. Ein guter Podcast auch. Das Zeitinvestment in ein solches Projekt ist nicht zu unterschätzen. Deshalb sind wir, vollkommen eigennützig, zu der Überzeugung gelangt, dass wir dieses Podcast-Projekt zuallererst für uns selbst machen. Wir möchten lernen. Wir möchten uns von anderen Menschen inspirieren und herausfordern lassen. Wir möchten neue Kontakte knüpfen und unsere Horizonte erweitern. Und wir möchten immer bessere Trainer der politischen Bildung werden. Mit mehr Weitblick. Deshalb haben wir uns zu Beginn auch eingestanden, dass wir zwei mittelalte, weiße Männer sind, die neben ein wenig Expertise auch über ein umfassendes Halb- und ein noch größeres Unwissen verfügen. Kreativität und neue Impulse können wir nur in begrenztem Maße aus uns selbst heraus generieren. Hinzu kommt, dass Karsten Lucke und ich seit über 10 Jahren Kollegen sind. Die Tage, in denen wir uns gegenseitig mit unseren Sichtweisen und Perspektiven überrascht haben, sind längst gezählt.
Gut Ding will Weile haben. Ein guter Podcast auch. Das Zeitinvestment in ein solches Projekt ist nicht zu unterschätzen.
2. Dieser Podcast ist für euch!
Was uns interessiert, interessiert auch euch. Ein Podcast, mit dem wir uns selbst erweitern, wird auch unsere Hörer*innen – im besten Falle – inspirieren und mit neuen Impulsen versorgen. Das jedenfalls war und ist unsere verwegene Hoffnung. Und weil die politische Bildung in Deutschland weder eine echte Lobby hat noch gute Öffentlichkeitsarbeit macht, sollte unser Podcast auch gleich zu einer kleinen, feinen Bühne für jene werden, die mit ihren beachtlichen Projekten zu wenig Beachtung finden. Kreative Projekte (Folge 21: „Das Geld hängt an den Bäumen“; Folge 23: Die Fotografie-Aktivistin Anna Spindelndreier), politische Bildungsideen (Folge 6: „Bildungsarchitekturen“; Folge 11: Die Schönheit Non-Formaler Bildung), Gesellschaftsentwürfe (Folge 15: Das BGE) und die großen, philosophischen Fragen (Folge 7: Tod den Dualismen) – all das wollten wir für uns und für euch hörbar machen und damit auch nach außen dokumentieren, dass die politische Bildung in Deutschland nicht nur lebt, sondern dringend benötigtes, gesellschaftliches Gestaltungspotenzial hat.
Unser Format: „Diskutabel – Gespräche aus der Bildungsbehörde“
Unser erstes Konzept trug den Arbeitstitel „Flurfunk“. Wir fanden den Titel gut. Das ging anderen allerdings ganz ähnlich. Eine reichlich verspätete Recherche auf Spotify förderte einen „Flurfunk“ zutage – ein Medienpodcast aus der Kommunikationsbranche. Mit denen wollten wir nicht verwechselt werden.
Wir haben kurz geflucht, uns gefragt ob „Flurfunk“ nicht trotzdem geht, seufzend die Köpfe geschüttelt und uns dann für „Diskutabel“ entschieden. Nicht ganz so „catchy“, aber auch nicht völlig daneben. Format und Storytelling blieben von dieser Umtaufe glücklicherweise verschont:
„Die Tastaturen klackern rhythmisch. Hier und da werden leise Telefonate geführt und im Hintergrund druckt irgendwer das Internet aus. Alltag in der Bildungsbehörde. Immer wieder mal treffen sich Menschen zwischen Kopierer, 3D-Drucker und Faxgerät. Hier werden zwanglos Geschichten von guter Bildung und Gesellschaft miteinander geteilt. Einige dieser inspirierenden Gespräche zeichnen die Studienleiter des Europahaus Marienberg, Anselm Maria Sellen und Karsten Lucke, nun regelmäßig für euch auf … Der Podcast ‚Diskutabel – Gespräche aus der Bildungsbehörde‘ beleuchtet, zusammen mit spannenden Menschen neue, innovative Formate aus der politischen Bildungslandschaft. Hier wird über brennende politische Themen unserer Zeit gesprochen und politischer Bildung auf den Grund gegangen. Diskutabel soll inspirieren, den Blick weiten und eine öffentliche Bühne für all jene sein, die in Zeiten radikalen Wandels mutig Neues wagen, frische Perspektiven entwickeln und sich den drängenden Fragen unserer Zeit stellen. Tief. Persönlich. Politisch. Unterhaltsam. Und immer absolut diskutabel.“
Unsere Gäste sind Wissenschaftler*innen, Philosoph*innen, Aktivist*innen, Praktiker*innen, Entrepreneur*innen, Politiker*innen, Entscheidungsträger*innen und Coaches. Kurz: Sie alle sind Teil einer mulitperspektivischen, transdisziplinären und holistischen politischen Bildung, wie wir sie uns wünschen. Mutig. Innovativ. Systemrelevant. Und tatsächlich ist es so, dass wir bisher aus jeder Sendung herausgekommen sind und etwas gelernt haben. Viele unserer Recherchen und Vorgespräche werden zu kurzen, intensiven Selbststudiums-Erfahrungen: Der Öko-Kollaps, das Bedingungslose Grundeinkommen, „Sinnfluencing“, Persönlichkeitsbildung, die Kultur der Digitalität, Politik-Philosophie und ganz viele konkrete gesellschaftspolitische Projekte … Wann findet man sonst die Zeit, um sich in Tiefe mit diesen Themen und den Menschen dahinter zu beschäftigen? Zu häufig bleibt für die eigenverantwortliche Fortbildung kein Raum, weil wir zu beschäftigt sind – oder aber glauben, es zu sein. Wir haben „Diskutabel“ kurzerhand zur Priorität erklärt und institutionalisiert: Wir veröffentlichen mittlerweile eine Sendung pro Woche (immer freitags um 15.00 Uhr), ein Rhythmus, der verpflichtet und agil hält. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels werden wir fast 50 einstündige Gespräche geführt und veröffentlicht haben (www.europahaus-marienberg.eu/diskutabel-podcast).
Ein Jahr Diskutabel: eine Podcast-Bilanz
Gute Gespräche brauchen Zeit. Wir haben in fast allen Gesprächen die Erfahrung gemacht, dass wir ab Minute 30 in einen wirklich tiefen Austausch kommen. Das heißt nicht, dass es die ersten 30 Minuten nicht bräuchte. Im Gegenteil. So wie alles andere auch, ist Kommunikation ein Prozess und eine Bestätigung unserer Beziehungsfähigkeiten. Wir sind eben keine Maschinen. Wir können wichtige Unterhaltungen nicht auf binären Knopfdruck führen. Ein Podcast ist dafür als Medium ein interessanter Ort, um zu einer entschleunigten Informationskultur zu kommen, in der Raum zum Teilen von persönlichen Erfahrungen entstehen kann und erhalten bleibt. Der Zeit-Podcast „Alles Gesagt“ setzt diese Annahme radikal um und endet erst, wenn die Gesprächsgäste der Meinung sind, dass eben alles gesagt sei. So kommt es dann, dass „Alles gesagt“ mitunter auch mal acht Stunden und sieben Minuten (Folge mit Juli Zeh) dauern kann.
Einen Podcast zu gestalten führt – im besten Fall – zu persönlichem Wachstum. Ausgehend von der Annahme, dass zwischen unterschiedlichen Menschen auch die Dynamiken unterschiedlich sein müssen, ist von vornherein klar: Kein Gespräch ist wie das andere. Das sich-immer-wieder-neu-einlassen auf wechselnde Gesprächspartner*innen und Themen ist nicht unbedingt einfach. Meine eigene Komfortzone so regelmäßig verlassen zu müssen, um neue Menschen kennenzulernen, kostet mich jedes Mal eine kleine Überwindung. Ich bin nicht der passionierteste Small Talker, das Bekanntschaften machen fällt mir nicht ganz so leicht wie anderen. Aber durch die Corona-bedingte Umstellung von Arbeit und Leben habe ich viele tolle Menschen kennengelernt – einen großen Teil dieser Menschen für und im Rahmen von „Diskutabel“. In der Nachbesprechung einer Aufzeichnung hat der ansonsten kühl-nordlichtige Karsten Lucke es einst so formuliert: „Mir ist dieser Podcast mittlerweile richtig ans Herz gewachsen. Wirklich gute Leute und aufwühlende Gespräche. Ich gehe nicht immer bei allem mit, deswegen bringt’s mich an meine Grenzen. Nervt auch mal. Is’ aber auch geil.“
Ein Podcast ist als Medium ein interessanter Ort, um zu einer entschleunigten Informationskultur zu kommen, in der Raum zum Teilen von persönlichen Erfahrungen entstehen kann und erhalten bleibt.
Ein gutes Gespräch braucht eine gute Vorbereitung. Noch so eine Binse. Und eine schmerzhafte obendrein, denn ich muss zugeben, dass ich mich zu oft nicht ausreichend auf unsere Sendungen vorbereite. Zwischen all den anderen wichtigen Dingen, die in Krisenzeiten zu tun und zu bedenken sind, leidet „Diskutabel“ immer wieder mal an Zeitnot. Vielleicht merkt man es den Gesprächen nicht einmal an, wenn sie nicht in die Tiefen kommen, die möglich gewesen wären, uns aber fällt es auf. Und ich meine dabei nicht nur die inhaltliche Vorbereitung. Um wirklich ins Gespräch zu kommen, ist es wichtig, dass wir uns einstimmen. Vielleicht sogar gemeinsam mit unseren Gästen. Zum Beispiel: 30 Minuten vorher keine Anrufe mehr entgegennehmen, keine Mails mehr schreiben, keine Konzepte durchdenken. Noch einmal sammeln und die Notizen anschauen. Dann – 15 Minuten vorher – den Zoom-Raum öffnen und entspannt ankommen. Dasein. Ein kurzer Austausch. Was sich für einige fast esoterisch lesen mag, ist für mich der steinige Weg zu einem guten Gespräch. Am Ende bestätigt sich immer wieder aufs Neue: Niemand unterhält sich gern mit gehetzten oder abwesend wirkenden Menschen.
Ebenfalls bewährt hat sich die Arbeit im Team – zumal Karsten Lucke und ich sehr unterschiedlich sind. Während mein Kollege als Kieler Sprotte ein eher pragmatischer Typ ist, bilde ich den fühligen Gegenpart. Karsten wäre gerne Karl Lauterbach, ich wäre gerne eine Mischung aus Richard David Precht und Maja Göpel. Und tatsächlich stellen wir fest, dass ein positives Spannungsfeld zwischen uns insgesamt zu spannenderen Gesprächen führt. Wenn es gut läuft, dann ergänzen wir einander aus unterschiedlichen Perspektiven und weben Unterhaltungen aus roten Gesprächsfäden. Wenn es schlecht läuft, dann führen unsere Fragen in Sackgassen oder wir nehmen uns gegenseitig den Wind aus den Segeln. Umso wichtiger, dass auch Karsten und ich als Team uns im Vorhinein gut eintunen.
So viel zu den „sozialen Technologien“. Nun zum technischeren Teil. Wir zeichnen unsere Gespräche über Zoom auf und postproduzieren die Tonspur im Anschluss. Es ist uns wichtig, einander zu sehen – am Telefon fehlt die Intimität, die über das Sehen nonverbaler Kommunikation entstehen kann. Also gilt: Kameras an. Selbst wenn wir danach nur die Tonspur verwenden.
Für die Nerds
Für diejenigen, die es noch genauer wissen wollen: Für die Aufnahme verwenden wir die Hör-/Sprechkombination beyerdynamic DT-290/M200/H250 MkII. Das USB-C Audiointerface Presonus Studio 24c übersetzt die Audiosignale so, dass sie via Zoom aufgenommen werden können. Der Klang ist wichtig. Wenig ist nerviger als ein schlecht produzierter Podcast, den man eigentlich gerne hören würde. Die Audiospur bearbeite ich in Audacity nach. Wir schneiden nicht. Gar nicht. Wir wollen sowohl die vermeintliche Fallhöhe als auch den „authentischen“ Gesprächsfluss. Außerdem bedeutet Schnitt in der Postproduktion einen riesigen Mehraufwand. Zu Praktikanten-Zeiten habe ich mal ein 10-minütiges Feature aus 60 Minuten zusammenschneiden dürfen. Noch heute verfolgen mich albdrückende Schreckensphantasien durch schlaflose Nächte. Die fertige mp3 Datei lade ich dann bei Auphonic zur AI gesteuerten Nachbearbeitung hoch. Adaptive Leveling, Loudness Normalization, Noise Filtering und Hum Reduction – alles aus einer vollautomatisierten Hand, die wirklich beeindruckende Ergebnisse zu Ohren fördert.
Nach der AI-Bearbeitung durch Auphonic lade ich die Datei dann auf Anchor hoch und hinterlege dort die Metadaten zur Folge (Titel, Beschreibungstext, Shownotes etc.). Sobald ich auf „publish“ klicke, verteilt Anchor die Folge an die verschiedenen Ausspielungssplattformen wie Spotify, iTunes, Google Podcasts, Breaker etc., wo sie dann innerhalb der nächsten 10 bis 20 Minuten zum Anhören bereitstehen.
All that being said: Wir haben uns weder an unser eigenes Konzept gehalten, noch haben wir mit dem Storytelling der „Bildungsbehörde“ wirklich konsequent gespielt. Manchmal funktionieren unsere Moderationen und manchmal nicht. Manchmal klingen wir wie alte, weiße Männer und manchmal (hoffentlich) nicht. Aber das ist auch in Ordnung so. Wir merken, dass wir uns gemeinsam mit dem Format und unseren Gästen entwickeln. Diskutabel ist ein Prozess. Das ist wichtig. Und weil das so ist, sind wir in der Lage Gespräche zu führen, die auch andere Menschen interessieren könnten.
Zum Autor
sellen@europahaus-marienberg.eu