Erweiterung des europäischen Geschichtsbewusstseins als ständige Herausforderung
Auf einer Fahrt aus dem Rigaer Stadtzentrum zum Flughafen hatte ich im August 2022 eine gespenstische Erfahrung, denn was ich im Vorbeifahren sah, wirkte völlig unwirklich. Wir fuhren im Taxi in den frühen Morgenstunden auf einen groß angelegten runden Platz zu, mit einem monumentalen Denkmal in der Mitte. Um diese Uhrzeit gab es praktisch keinen Verkehr, aber der Platz wurde durch vier Polizeiautos in Alarmbereitschaft gesichert. Der Taxifahrer klärte mich in seinem bescheidenen Englisch auf, dass es hier zu Protesten gekommen sei. Im Gespräch stellte sich heraus, der Mann hieß Artjom, war aus der Ukraine geflüchtet und noch nicht lange im Land. Als wir vom Englischen ins Russische wechselten, konnten wir uns besser unterhalten. Aus der Sicht der Menschen in Lettland mache es keinen Unterschied, wer ihr Land besetzt habe im 20. Jahrhundert – beide Regime und ihre Armeen, Wehrmacht und Rote Armee, hätten Unrecht und Unfreiheit über das Land gebracht, so der Taxifahrer. Was ich gesehen hatte, war das Denkmal für die „Befreier von Sowjet-Lettland und Riga von den deutsch-faschistischen Invasoren“, errichtet 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. In dieser Konstellation – ukrainischer junger Mann, der vor der Invasion der russischen Panzer in sein Land nach Lettland flüchtet, 80 Jahre nach der „Befreiung vom Faschismus“, und jetzt als Taxifahrer sein Geld verdient, wirkte das in die Jahre gekommene Denkmal aus sowjetischer Zeit wie ein zynischer Kommentar zum aktuellen Angriff russischer Streitkräfte auf die „ukrainischen Nazis“. Es handelte sich um ein typisches sowjetisches Mahnmal mit symbolischem Obelisk und figürlicher Darstellung von kämpfenden Menschen. Ich wunderte mich, dass der lettische Staat seine Polizei einsetzte, um das Denkmal vor Übergriffen oder Demonstrationen zu schützen. Ich dachte mir, diese Maßnahme folge sicherlich aus zwischenstaatlichen Verpflichtungen gegenüber der Russischen Föderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Zurück in Deutschland erfuhr ich in den Nachrichten vom Abriss des Denkmals, das ich gerade erst gesehen hatte. Das Denkmal stand im sogenannten Siegespark – lettisch Uzvaras Park – und besteht aus einem 79 Meter hohen Obelisken und mehreren Bronzeskulpturen kämpfender Soldaten. Sprengung und Abriss wurden in der letzten Augustwoche vorgenommen (vgl. www.dw.com/de/abriss-von-sowjetischem-siegesdenkmal-in-riga/a-62904826, Zugriff auf diesen und alle in diesem Beitrag genannten Links: 23.09.2022). Dafür musste die lettische Regierung tatsächlich frühere Regelungen aus einem internationalen Vertrag mit Moskau aufheben. Das war bereits im Mai 2022 als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine entschieden worden. In Lettland lebt eine große russische Minderheit, die fast ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Am „Tag des Sieges“ kam es hier jedes Jahr zu Kundgebungen und auch am 9. Mai 2022 legten russische Gruppen Blumen nieder und bekundeten ihre Loyalität zur russischen Kriegspolitik gegenüber der Ukraine. Das Denkmal war zu diesem Zeitpunkt bereits durch einen Bauzaun abgesperrt und Versammlungen verboten. Aufgrund dieser Auseinandersetzungen stand also die Polizei an jenem Morgen im August Wache.
Die Gegenwart der Vergangenheit
Ich beginne mit dieser sinnlichen Erfahrung, da sie für mich erneut gezeigt hat, wie politisch historische Erinnerung in Mittel- und Osteuropa ist und wie spätestens mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Geschichte dieser Gesellschaften während und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder präsent ist. Die Kurzformel für die Problematik des umstrittenen Siegesdenkmals ist die Erfahrung der doppelten Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, aber die Folgen reichen bis in die Gegenwart und sind weiterhin Thema gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Das Verhältnis zu Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und zur russischsprachigen Bevölkerung im eigenen Land in Lettland, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist geprägt nicht nur durch die Erfahrungen während des Krieges, sondern durch die jahrhundertelange historische Verflechtung. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes, die westeuropäische Gesellschaften in den letzten Jahren stark beschäftigt und bezogen auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts neue Fragen aufwirft, findet im Verhältnis Russlands zu den früheren Republiken der Sowjetunion und den Territorien des Russischen Reiches nicht statt. Im Gegenteil, die aktuelle Situation seit Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 verhärtet die Fronten erneut und fordert klare Bekenntnisse. Während vorher unter Würdigung der Soldaten und im Respekt vor den Opfern unterschiedlicher Ethnien das Denkmal toleriert wurde, wird es jetzt als Provokation des Kriegstreibers Russland empfunden.
Der in der Sowjetunion gefeierte „Sieg über den Faschismus“ verbunden mit der „Befreiung“ der Völker Mittel- und Osteuropas 1944/45 wurde von den Ländern, die bis 1939 als souveräne Staaten in der Mitte Europas bestanden hatten, als erneute Besetzung empfunden. Im Falle der baltischen Länder, die abhängige Republiken der UdSSR blieben, hielt dieser Zustand aus Sicht der Opposition in der Emigration und im Land bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 und zur Auflösung der Sowjetunion an. Eine einzigartige zivile und friedliche Protestaktion aus dem Sommer 1989 erinnerte die Weltöffentlichkeit an dieses gemeinsame Schicksal der baltischen Staaten: Eine Menschenkette von Vilnius über Riga bis nach Tallinn auf einer Strecke von 600 km mahnte am 23. August 1989 daran, dass immer noch die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes die Grenzen Europas bestimmen. Vgl. das Dossier der Bundesstiftung Aufarbeitung zum 60. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes mit vielen Text-, Audio- und Filmhinweisen und u. a. einem Beitrag zum Gedenken an die Konsequenzen des Paktes in Ostmitteleuropa (www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/der-hitler-stalin-pakt). Träger dieses Protestes war in Lettland die „Volksfront“ (Tautas Fronte), eine Oppositionsbewegung, die seit Mitte der 1980er Jahre offensiv gegen die sowjetische Politik in den baltischen Staaten auftrat. Heute erinnern in Riga zwei Museen an die Unabhängigkeitsbewegung und den Widerstand gegen die anhaltende politische und militärische Selbstbehauptung der sowjetischen Parteiführung, auch noch unter Michail Gorbatschow im Jahr 1991, als Menschen die neue lettische Regierung mit spontan errichteten Barrikaden vor sowjetischen Panzern schützten. Vgl. Besprechung und Vorstellung der Mahnmale und Museen in Lettland (Kaminsky/Gleinig/Ens 2019).
Führt man sich diese Erfahrungen vor Augen, wundert es nicht, dass sich nach der EU-Erweiterung von 2004 Abgeordnete insbesondere aus den drei baltischen Staaten im Europäischen Parlament für einen neuen Gedenktag in Europa einsetzten, um an Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft zu erinnern. Seit 2009 ist der 23. August europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Vorausgegangen war eine Debatte über die Erinnerungskulturen in West und Ost. Die Diskussion und die Literatur dazu sind umfangreich, hier sei empfohlen: Uhl 2016 sowie (erweiterte und deutsche Fassung) Uhl 2020. Im westlichen Europa ist dieser Gedenktag nicht nur umstritten, sondern letztlich hat er auch keinen Einzug in das öffentliche Bewusstsein genommen. Der 8./9. Mai bleibt der europäische Gedenktag für den Zweiten Weltkrieg verbunden mit zentralen Denkmälern, nationalen Ritualen, Gedenkreden und öffentlichen Debatten. Im Jahr 2022 erwartete die Öffentlichkeit der Anrainerstaaten Russlands und des Westens mit Anspannung die Rede Wladimir Putins zum „Tag des Sieges“ in Moskau, denn befürchtet wurde eine erneute Instrumentalisierung der Geschichte für die Legitimierung des Krieges in der Ukraine und weiterreichende Ankündigungen zu Kriegszielen.
Die „Erinnerung an den Krieg als Krieg der Erinnerungen“ – so der Titel einer Studie der Osteuropahistorikerin Katja Makhotina (2017) über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Litauen – verlagert sich zusehends aus den Museen und von öffentlichen Plätzen in die virtuelle Welt. Angesichts der „Memory Wars“, die heute über den gezielten Einsatz von Desinformation und Manipulation der öffentlichen Meinung im Netz und den sozialen Medien geführt werden, kommt einem der Abriss von Denkmälern geradezu hilflos vor. Gleichzeitig wird dadurch die Möglichkeit genommen, Bilder solcher Denkmäler und der sich dort zutragenden politischen Manifestationen zu verbreiten. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Befürworter des geschliffenen Siegesdenkmals neue Orte finden werden, um sich zu versammeln und politisch zu artikulieren. Das Recht, an einem Denkmal oder Friedhof ihrer Opfer unter den Soldaten der Roten Armee zu gedenken, darf man der russischen Minderheit in Lettland nicht nehmen. Den Alleinvertretungsanspruch der politischen Deutung des Denkmals und seiner Botschaft sollte man ihnen hingegen nicht überlassen. In demokratisch verfassten und der universellen Erklärung der Menschenrechte verpflichteten Gesellschaften hat die Erinnerungskultur eine besondere Funktion: Durch Formen des Gedenkens und der Erinnerung vergewissern wir uns, ob wir durch unser politisches Handeln heute verhindern, dass Unrecht, Verfolgung und Gewalt an Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion, politischer oder sonstiger Überzeugungen geschehen kann. Das ist ein hoher Anspruch, aber trotz der aktuellen Anfechtungen durch die Kriegsverbrechen der russischen Armee und Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine sollten wir ihn in Europa nicht aufgeben und eine aktive Gestaltung des Dialogs über historische Erfahrungen in Europa fortsetzen.
Dialog über Erinnerung statt Memory War
Seinen Beitrag zur Förderung dieses Dialogs leistet eine internationale Initiative, die sich im Jahr 2005 gegründet hat unter dem Namen Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität/European Network Remembrance and Solidarity (ENRS) und sich die Aufgabe stellt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren, zu erforschen und zu vermitteln. Das ENRS fördert den Dialog über eine europäische Erinnerungskultur unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Widerstand. Europaweit werden dazu Akteure aus den Bereichen Wissenschaft, Gedenkstätten und Museen, öffentliche Verwaltung, Schule und informelle Bildung über unterschiedliche Formate der Bildungs-, Netzwerk- und Vermittlungsarbeit in einen Austausch gebracht. Träger dieser europäischen Initiative sind bisher fünf Länder, vertreten durch die für Kultur bzw. für historische Aufarbeitung und Erinnerung verantwortlichen Ressorts: Polen, Deutschland, Ungarn, Slowakei und Rumänien. Weitere europäische Länder sind an einer Mitgliedschaft interessiert und halten den Beobachterstatus in den Gremien des Netzwerkes. Das sind aktuell die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland, Georgien, Albanien, Österreich und die Tschechische Republik. In den fünf Mitgliedsländern haben die Ministerien jeweils Einrichtungen beauftragt, die gemeinsame Zusammenarbeit zu koordinieren. Repräsentanten dieser Kooperationspartner bilden den Lenkungsausschuss, der als Exekutive die laufende Arbeit des ENRS plant, berät und beaufsichtigt. In Deutschland ist von Beginn an das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg mit der Koordination durch die Bundesbeauftrage für Kultur und Medien (BKM) beauftragt. Aus Anlass des 15-jährigen Bestehens des Europäischen Netzwerkes berichtete eine Sonderausgabe des Magazins Lernen aus der Geschichte vom 28. Oktober 2020 über die Organisation und ihre Aktivitäten (http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Magazin/14936).
Ein wichtiges Anliegen des Netzwerkes ist es, Differenzen in der europäischen Erinnerungskultur durch den Austausch und das gegenseitige Zuhören, Verstehen und Argumentieren wahrzunehmen. Ein wichtiges Medium dafür ist das jährliche „European Remembrance Symposium“, das als offene Konferenzveranstaltung ausgehend von einem Schwerpunktthema an der Schnittstelle von Wissenschaft und Bildungspraxis aktuelle Fragestellungen auf Podien, in Projektbörsen und während gemeinsamer Exkursionen zu Gedenkorten behandelt. Das jährliche Symposium findet im Wechsel in einer der europäischen Hauptstädte statt und wird jeweils mit lokalen Partnern organisiert. Die letzten drei Symposien fanden der Reihe nach in Paris, Tallinn und Dublin statt und versammelten jeweils ein internationales Publikum von rund 200 Teilnehmer*innen. Der Austragungsort des Symposiums bestimmt auch das Thema. So wurde 2022 in Dublin, gegeben durch das (nord)irisch-britische Verhältnis, über „Reconciliation. A Long and Winding Path“ diskutiert. Viele der Gäste aus Mittel- und Osteuropa profitierten von dieser Perspektive für einen Blick von außen auf die Geschichte und Nachbarschaft des eigenen Landes.
Das jährliche Symposium ist zugleich ein Treffpunkt für die wachsende Zahl der europaweiten Partner des Netzwerkes, zu denen Museen, Gedenkstätten, Aufarbeitungsinitiativen, Dachverbände, Universitäten und Forschungsinstitute zählen. Diese sehr unterschiedlichen und weit gestreuten Kooperationen machen die Bildungs- und Netzwerkarbeit des ENRS aus. Einen guten Überblick kann man sich auf der Internetseite (www.enrs.eu) verschaffen, wo die regelmäßigen und aktuellen Projektbeschreibungen und Ausschreibungen zu finden sind. Einstieg über die Seite „Projects“: https://enrs.eu/project/list. Interessenten können einen elektronischen Newsletter abonnieren. Fester Bestandteil des Portfolios sind Angebote für junge Menschen. Dazu zählen die jährlich durchgeführten Veranstaltungsreihen für Schüler*innen „Sound in the Silence“ – Workshops in jeweils jährlich wechselnden Gedenkstätten, verbunden mit kultureller Bildung über Performance und Musik – und die study visits für Studierende „In Between“ – forschendes Entdecken europäischer Grenzregionen verbunden mit oral history und späterer audiovisueller Dokumentation. Lehrer*innen und Schüler*innen sind eingeladen, die online-Plattform „Hi-Story lessons“ für die Gestaltung ihres Geschichtsunterrichtes zu nutzen. Hier finden sich kurze Animationsfilme, die bestimmte Schlüsselereignisse oder Begriffe aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erläutern, wie zum Beispiel das Jahr 1968 oder das Ende der Sowjetunion. Ergänzt werden sie um Arbeitsblätter für den Unterricht, Zeitstrahlen und Texte von Historiker*innen und Kulturwissenschaftler*innen aus verschiedenen Ländern. Diese Bildungsplattform wurde in den letzten Jahren gemeinsam mit dem Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung entwickelt. Aktuell ist eine umfangreiche Materialsammlung zum Thema Desinformation erarbeitet worden, mit der auf die zunehmenden historischen Fake News und Manipulationen in den sozialen Medien reagiert wurde. Der einführende Kurzfilm entschlüsselt die Mechanismen der „Memory Wars“ und der Macht der Bilder im Netz (https://hi-storylessons.eu/no-to-disinformation).
Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes, die westeuropäische Gesellschaften in den letzten Jahren stark beschäftigt und bezogen auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts neue Fragen aufwirft, findet im Verhältnis Russlands zu den früheren Republiken der Sowjetunion und den Territorien des Russischen Reiches nicht statt.
Ein beliebtes Instrument der Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung eines europäischen Geschichtsbewusstseins sind Wanderausstellungen als Ergebnis internationaler Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen und Bild-Autor*innen. Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität hat bereits mehrere solcher Ausstellungen konzipiert, zuletzt aus Anlass des 100. Jahrestages des Endes des Ersten Weltkrieges. Seit 2018 reist die multimediale Freiluftausstellung „After the Great War. A New Europe. 1918–1923“ durch Hauptstädte und auf zentrale Plätze Europas. Gezeigt wird die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa in Verbindung mit der Wieder- oder Neugründung souveräner Staaten in diesem Teil Europas. Aufbruchsstimmung und Modernisierungsprozesse werden ebenso gezeigt wie die Bewährungsproben der jungen Demokratien angesichts des schwierigen politischen Erbes des 19. Jahrhunderts, neuer sozialer Spannungen, Wirtschaftskrisen und internationaler Instabilität. Die Ausstellungstexte werden jeweils in die Sprache des Ausstellungsstandortes übersetzt und in Kooperation mit lokalen Partnern wird ein Begleitprogramm mit Führungen entwickelt. Ein Katalog liegt in englischer Sprache vor. Mehr Informationen zu bisherigen Standorten und online-Ressourcen: https://enrs.eu/afterthegreatwar Der mehrjährige Prozess der Entwicklung und Produktion einer solchen Ausstellung, die Übersetzung in andere Sprachen und Kontexte sowie die Diskussion über Ereignisse und Begriffe und deren unterschiedliche Wertigkeit in den beteiligten Ländern, hat einen hohen Wert für die spätere Vermittlung. Dieser Austausch im Kreis von internationalen Kurator*innen und beratenden Wissenschaftler*innen ist Teil des Erfolgs, denn alle Beteiligten haben am Ende des Tages viel gelernt über ihre jeweiligen Perspektiven, blinden Flecken, nationale Gebundenheit und bisweilen politische Befangenheit.
Eine andere in door-Wanderausstellung des ENRS behandelt die spezifischen Bedingungen und Formen der Verfolgung und Rettung der europäischen Juden in unterschiedlichen Ländern unter deutscher Besatzung. Gezeigt werden Geschichten des Überlebens und der Beziehungen zwischen Rettern und Verfolgten aus 12 Ländern. Das Besondere an dieser Tafelausstellung unter dem Titel „Between Life and Death. Stories of Rescue during the Holocaust“ besteht darin, dass sie ständig wächst und weiterentwickelt wird, je nach Ziel ihrer Präsentation. Zurzeit reist eine Kopie dieser Ausstellung durch Japan, die eigens dafür übersetzt und erweitert wurde um das Thema der Hilfe für Verfolgte durch japanische Diplomaten in Europa. Kuratoren der Ausstellung sind Mitarbeiter*innen des POLIN-Museum der Geschichte der Polnischen Juden in Warschau und der Gedenkstätte Stille Helden in Berlin, jeweils ergänzt um lokale Autoren aus den internationalen Kooperationseinrichtungen. Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit allen Texten, der online auf Deutsch abzurufen ist: https://enrs.eu/https//enrs-eu/uploads/media/5f467f2495574-life-and-death-de-2020-pdf
Erinnerung als Zeichen der Solidarität
Als Beitrag zu einer europäischen Erinnerungskultur legt das Netzwerk besonderen Wert auf eine ausgewogene Darstellung der unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen. So werden beispielsweise Gedenktage und historische Daten der Geschichte des 20. Jahrhunderts durch Beiträge in den sozialen Medien gewürdigt, aber ebenso über soziale Kampagnen auf Informations-, Forschungs- und Recherchemöglichkeiten aufmerksam gemacht. Die Erinnerung an den Holocaust wird in den unterschiedlichen Projekten ebenso behandelt wie die Erinnerung an Verfolgung und Unrecht unter kommunistischer Zwangsherrschaft. Ein Beispiel dafür sind öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zur Würdigung der beiden europäischen Gedenktage 27. Januar und 23. August. Vgl. die Projektseiten zu den jährlichen Aktivitäten aus Anlass dieser Gedenktage: Internationaler Holocaust-Gedenktag: https://enrs.eu/january27; Remember August 23: https://enrs.eu/august23
Durch Formen des Gedenkens und der Erinnerung vergewissern wir uns, ob wir durch unser politisches Handeln heute verhindern, dass Unrecht, Verfolgung und Gewalt an Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion, politischer oder sonstiger Überzeugungen geschehen kann.
Aus Anlass des 23. August erinnert das ENRS mit kurzen Spots und biographischen Informationen an Menschen, die Opfer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts geworden sind. In diesem Jahr wurden drei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten gewürdigt: Władysław Bartoszewski (1922–2015) aus Anlass seines 100. Geburtstages; Doina Maria Cornea (1929–2018) aus Rumänien, Professorin für Romanistik, Übersetzerin, Menschenrechtsaktivistin und eine der bedeutenden Persönlichkeiten der rumänischen Opposition vor 1989; schließlich Ieva Lase (1916–2002) aus Lettland, von der hier kurz erzählt werden soll. Sie war ebenfalls eine studierte Übersetzerin und Liebhaberin der französischen Sprache. Während des Zweiten Weltkriegs war sie im Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzungspolitik und beteiligt an der Herausgabe und Verbreitung von Flugblättern. Sie wurde 1942 von der Gestapo verhaftet und in das Lager Salaspils gebracht, wo sie bis zum Juni 1944 inhaftiert war. Salaspils liegt 18 km südöstlich von Riga und das Lager trug die vollständige Bezeichnung: Erweitertes Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager Salaspils. Seit 1967 befindet sich hier eine nationale Gedenkstätte (https://salaspilsmemorials.lv/en/index). Sie wurde tatsächlich befreit durch die erneute sowjetische Eroberung Lettlands, aber es dauerte nicht lange, bis sie mit der neuen Besatzungsmacht in Konflikt kam, verhört wurde und zeitweilig in Gefängnishaft saß. Sie arbeitete als Lehrerin für Französisch und westliche Literatur und wurde Mitglied der Französischen Gruppe. Die 13 Mitglieder wurden 1951 verhaftet und wegen „bürgerlichem Nationalismus und Teilnahme an anti-sowjetischen Treffen“ angeklagt. Ieva Lase wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt und in eine Speziallagersiedlung im Osten der Sowjetunion deportiert. Drei Jahre nach Stalins Tod wurde sie 1956 entlassen und konnte nach Lettland zurückkehren. Für ihre Übersetzungen aus dem Französischen wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
Individuelle Lebensgeschichten stehen für sich und überzeugen in ihrer Authentizität jenseits der Konjunkturen öffentlicher Erinnerung oder nationaler Geschichtsnarrative. Es bleibt aber zu fragen, wann und durch wen bestimmte Lebensgeschichten zu „Heldennarrativen“ erhöht werden und wiederum für eine legitimatorische Geschichtserzählung instrumentalisiert werden. Doch der erste Schritt ist das Kennenlernen der unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Empfindsamkeiten in den einzelnen Gesellschaften. Dazu bietet das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität mit seinen Informations- und Dialogformaten vielfach Gelegenheit.
Eine gemeinsame europäische Erinnerung wird immer die Summe ganz unterschiedlicher gruppenbezogener und auch nationaler Erinnerungsgemeinschaften bleiben. Die Erinnerung muss nicht trennen, solange die Bereitschaft besteht, über die Voraussetzungen der Unterschiede und über die jeweiligen Perspektiven im Dialog zu bleiben.
Eine gemeinsame europäische Erinnerung wird immer die Summe ganz unterschiedlicher gruppenbezogener und auch nationaler Erinnerungsgemeinschaften bleiben. Die Erinnerung muss nicht trennen, solange die Bereitschaft besteht, über die Voraussetzungen der Unterschiede und über die jeweiligen Perspektiven im Dialog zu bleiben. Dabei verlangt der respektvolle Umgang miteinander die Bereitschaft zur Erweiterung des eigenen Geschichtsbewusstseins und kann in einem ständigen Prozess des Lernens gelingen.
Zur Autorin
annemarie.franke@enrs.eu
Foto: Lukas Schramm