Außerschulische Bildung 4/2022

Geteilte oder trennende Erinnerung?

Erweiterung des europäischen Geschichtsbewusstseins als ständige Herausforderung

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verleiht der historisch belasteten Beziehung der Länder Mittel- und Osteuropas zur eigenen Vergangenheit im sowjetischen Machtbereich neue Aktualität. Die Reaktionen, hier an einem Beispiel aus Lettland illustriert, führen uns vor Augen, wie sehr die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nach wie vor „umkämpft“ ist. Am Beispiel der Bildungsarbeit des Europäischen Netzwerkes Erinnerung und Solidarität zeigt die Autorin, welche Herausforderungen die aktive Gestaltung einer europäischen Erinnerungskultur mit sich bringt. von Annemarie Franke

Auf einer Fahrt aus dem Rigaer Stadtzentrum zum Flughafen hatte ich im August 2022 eine gespenstische Erfahrung, denn was ich im Vorbeifahren sah, wirkte völlig unwirklich. Wir fuhren im Taxi in den frühen Morgenstunden auf einen groß angelegten runden Platz zu, mit einem monumentalen Denkmal in der Mitte. Um diese Uhrzeit gab es praktisch keinen Verkehr, aber der Platz wurde durch vier Polizeiautos in Alarmbereitschaft gesichert. Der Taxifahrer klärte mich in seinem bescheidenen Englisch auf, dass es hier zu Protesten gekommen sei. Im Gespräch stellte sich heraus, der Mann hieß Artjom, war aus der Ukraine geflüchtet und noch nicht lange im Land. Als wir vom Englischen ins Russische wechselten, konnten wir uns besser unterhalten. Aus der Sicht der Menschen in Lettland mache es keinen Unterschied, wer ihr Land besetzt habe im 20. Jahrhundert – beide Regime und ihre Armeen, Wehrmacht und Rote Armee, hätten Unrecht und Unfreiheit über das Land gebracht, so der Taxifahrer. Was ich gesehen hatte, war das Denkmal für die „Befreier von Sowjet-Lettland und Riga von den deutsch-faschistischen Invasoren“, errichtet 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. In dieser Konstellation – ukrainischer junger Mann, der vor der Invasion der russischen Panzer in sein Land nach Lettland flüchtet, 80 Jahre nach der „Befreiung vom Faschismus“, und jetzt als Taxifahrer sein Geld verdient, wirkte das in die Jahre gekommene Denkmal aus sowjetischer Zeit wie ein zynischer Kommentar zum aktuellen Angriff russischer Streitkräfte auf die „ukrainischen Nazis“. Es handelte sich um ein typisches sowjetisches Mahnmal mit symbolischem Obelisk und figürlicher Darstellung von kämpfenden Menschen. Ich wunderte mich, dass der lettische Staat seine Polizei einsetzte, um das Denkmal vor Übergriffen oder Demonstrationen zu schützen. Ich dachte mir, diese Maßnahme folge sicherlich aus zwischenstaatlichen Verpflichtungen gegenüber der Russischen Föderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Zurück in Deutschland erfuhr ich in den Nachrichten vom Abriss des Denkmals, das ich gerade erst gesehen hatte. Das Denkmal stand im sogenannten Siegespark – lettisch Uzvaras Park – und besteht aus einem 79 Meter hohen Obelisken und mehreren Bronzeskulpturen kämpfender Soldaten. Sprengung und Abriss wurden in der letzten Augustwoche vorgenommen (vgl. www.dw.com/de/abriss-von-sowjetischem-siegesdenkmal-in-riga/a-62904826, Zugriff auf diesen und alle in diesem Beitrag genannten Links: 23.09.2022). Dafür musste die lettische Regierung tatsächlich frühere Regelungen aus einem internationalen Vertrag mit Moskau aufheben. Das war bereits im Mai 2022 als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine entschieden worden. In Lettland lebt eine große russische Minderheit, die fast ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Am „Tag des Sieges“ kam es hier jedes Jahr zu Kundgebungen und auch am 9. Mai 2022 legten russische Gruppen Blumen nieder und bekundeten ihre Loyalität zur russischen Kriegspolitik gegenüber der Ukraine. Das Denkmal war zu diesem Zeitpunkt bereits durch einen Bauzaun abgesperrt und Versammlungen verboten. Aufgrund dieser Auseinandersetzungen stand also die Polizei an jenem Morgen im August Wache.

Die Gegenwart der Vergangenheit

Ich beginne mit dieser sinnlichen Erfahrung, da sie für mich erneut gezeigt hat, wie politisch historische Erinnerung in Mittel- und Osteuropa ist und wie spätestens mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Geschichte dieser Gesellschaften während und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder präsent ist. Die Kurzformel für die Problematik des umstrittenen Siegesdenkmals ist die Erfahrung der doppelten Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, aber die Folgen reichen bis in die Gegenwart und sind weiterhin Thema gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Das Verhältnis zu Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und zur russischsprachigen Bevölkerung im eigenen Land in Lettland, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist geprägt nicht nur durch die Erfahrungen während des Krieges, sondern durch die jahrhundertelange historische Verflechtung. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes, die westeuropäische Gesellschaften in den letzten Jahren stark beschäftigt und bezogen auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts neue Fragen aufwirft, findet im Verhältnis Russlands zu den früheren Republiken der Sowjetunion und den Territorien des Russischen Reiches nicht statt. Im Gegenteil, die aktuelle Situation seit Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 verhärtet die Fronten erneut und fordert klare Bekenntnisse. Während vorher unter Würdigung der Soldaten und im Respekt vor den Opfern unterschiedlicher Ethnien das Denkmal toleriert wurde, wird es jetzt als Provokation des Kriegstreibers Russland empfunden.