Vom Wahrnehmen und Handeln in der (Klima)krise
Zu Beginn eine kleine Zeitreise: Noch im Januar 2020 war ich fest davon überzeugt, dass das gerade angebrochene Jahr das Jahr der Klimakrise werden könnte, ja müsste. Die Überzeugung rührte daher, dass die öffentliche und die politische Aufmerksamkeit sich 2019 zunehmend auf die Bedrohungen durch den Klimawandel ausgerichtet hatte. Die Fridays for Future-Bewegung hatte große Aufmerksamkeit und Zuspruch erfahren. Für den Ausgang der Europawahl im Frühjahr war der Klimawandel ein wichtiges Thema. Das Europaparlament erklärte im Herbst den „Klimanotstand“ und der Begriff der „Klimahysterie“ wurde zum Unwort des Jahres bestimmt. Angetrieben durch die hierin zum Ausdruck kommenden gestiegenen gesellschaftlichen Erwartungen erwartete ich nun entschiedenere politische Entscheidungen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner existenzbedrohenden Folgen.
Doch es kam anders. Spätestens im März 2020 war klar, dass eine andere akute Krise die Aufmerksamkeit zunächst vollständig auf sich ziehen sollte. Die Corona-Pandemie erzeugte einen unmittelbaren Handlungsdruck, hinter dem andere Herausforderungen und Bedrohungen zurückstanden. Mehr noch, die notwendigen Kontakt- und Reisebeschränkungen führten dazu, dass bisherige Protestformen nicht fortgesetzt und wichtige Konferenzen, wie die UN-Klimakonferenz in Glasgow, zunächst verschoben wurden. Dass die gesunkenen Emissionen durch die Lockdown-Politik nur ein kurzfristiger Effekt sein würden, aus dem keine langfristige Transformation folgt, war auch zu erwarten.
Die Corona-Pandemie verdeutlichte einen Grundsatz des Konzepts von Krise eindringlich, nämlich den, dass die Krise alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und bündelt. Dies ist zum einen notwendig, um außergewöhnliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise zu ermöglichen. Es hat aber auch den Nachteil, dass sich Probleme und Bedrohungen in anderen Politikfeldern verstärken können. Es zeigt sich daran, dass eine der größten Herausforderungen für das politische Entscheiden in der Gegenwart darin besteht, besser mit der Lage multipler und miteinander verbundener Krisen umzugehen zu lernen. Dies erfordert beides, politische Prioritäten zu setzen, aber auch Zusammenhänge zwischen Gesundheits-, Umwelt- und Sicherheitskrisen zu erkennen.
Was ist Krise?
Krisen sind durch drei Elemente gekennzeichnet. Krisen sind existentielle Bedrohungen, die einen unmittelbaren Handlungsdruck erzeugen. Dabei besteht aber Unsicherheit, wie sich die Bedrohung weiter entwickeln wird und was die geeigneten Mechanismen sind, um die schlimmsten Gefahren abzuwenden (Boin et al. 2018). Dieser letzte Punkt unterscheidet Krisen von Katastrophen. Durch die richtigen Entscheidungen und aktives Krisenmanagement, kann der worst case – die Katastrophe – verhindert werden (Koselleck 1982). Ein wichtiger Aspekt von Krisen ist, dass eine Bedrohung auch als Bedrohung erkannt werden muss. Eine Krise ist nur dann gegeben, wenn eine Bedrohung auch als Krise wahrgenommen und sprachlich so gefasst ist (Graf 2020).

Veränderungen des Klimas und Biodiversitätsverluste sind existentielle Gefahren. Zur Krise werden sie dadurch, dass sich in der politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung die Einsicht durchsetzt, dass diese Gefahren existentiell sind und entsprechend schnell und tiefgreifend gehandelt werden muss. Der Rückblick zu Beginn des Textes illustriert diesen Aspekt des Krisenkonzepts. Wissenschaftler*innen warnen seit Jahrzehnten vor den Folgen des Klimawandels. Eine Krisendynamik, die auf entschiedenes politisches Handeln drängt, war im Zuge der sich verändernden Debatte 2019 zu erkennen; und mit der Fokussierung auf die Pandemie dann zunächst wieder verpufft.
Krisen sind existentielle Bedrohungen, die einen unmittelbaren Handlungsdruck erzeugen. Dabei besteht aber Unsicherheit, wie sich die Bedrohung weiter entwickeln wird und was die geeigneten Mechanismen sind, um die schlimmsten Gefahren abzuwenden.
Anders als die Corona-Pandemie, handelt es sich bei der Klimaveränderung um eine langfristige Bedrohung, die in der Krisenforschung als latente oder schleichende Krise beschrieben wird. Latente Krisen sind Bedrohungen, die (noch) nicht als manifeste Krisen wahrgenommen und daher von verantwortlichen Akteuren nicht als Krisen behandelt werden (Boin et al. 2020). Dadurch sind sie keineswegs ungefährlicher, da sie sich jederzeit zu akuten Ereignissen zuspitzen können. Die Zunahme von Waldbränden, Extremwetterereignissen oder auch die Pandemie, deren Ursachen u. a mit Umweltveränderungen in Verbindung stehen, illustrieren dies. Für eine krisenfeste Gesellschaft ist es daher wichtig, ein Verständnis latenter Krisen zu entwickeln, um besser auf akute Ereignisse vorbereitet zu sein. Im besten Falle gelingt es, latente Gefahren durch langfristige gesellschaftliche Veränderungen so zu kontrollieren, dass deren Folgen nicht mehr krisenhaft sind, sondern zu kalkulierbaren Risiken werden.
Rollenverständnisse in der Bewältigung von Krise
Für das politische Entscheiden vor und in Krisen ist wissenschaftliche Expertise von großer Bedeutung. Zwar ist es letztlich eine Anforderung an gewählte politische Entscheidungsträger*innen, eine für die Gesellschaft existentielle Gefahr zu priorisieren und die politischen Entscheidungen daran auszurichten. Für diese Priorisierung benötigen sie aber evidenzbasiertes Wissen, das ihnen Auskunft gibt über unterschiedliche Gefahrenprognosen und die Zusammenhänge unterschiedlicher Gefahrenquellen sowie im besten Fall mögliche Wege, um diesen Gefahren zu begegnen. Wie oben schon betont, ist die Anforderung an dieses Wissen durch die zahlreichen aufeinanderfolgenden und miteinander verbundenen Krisen in der jüngeren Vergangenheit gestiegen.
Der Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung ist also hoch und es wird zukünftig darauf ankommen, Lehren aus der Pandemie zu ziehen und Formate eines kontinuierlichen Austauschs zwischen Politik und Wissenschaft schon vor der Krise zu entwickeln. Es gab vor der Pandemie keinen Mangel an Wissen, dass diese Gefahr drohen könnte. Ein Problem lag vielmehr darin, dass die vorliegenden Szenarien nicht in hinreichendem Maße als reale Möglichkeiten behandelt wurden. Es liegt gegenwärtig eine große Gefahr darin, dass die Warnungen vor den Folgen des Klimawandels ebenso behandelt werden könnten. Noch dazu, wenn akute Lagen wie die Katastrophe (nicht Krise!) des Russland-Ukraine-Kriegs wiederum politische Aufmerksamkeit und Ressourcen notwendigerweise binden.
Der Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung ist hoch und es wird zukünftig darauf ankommen, Lehren aus der Pandemie zu ziehen und Formate eines kontinuierlichen Austauschs zwischen Politik und Wissenschaft schon vor der Krise zu entwickeln.
Aber nicht nur das politische Interesse an Beratung und evidenzbasiertem Wissen muss sich verbessern. Auch das Angebot, das aus der Wissenschaft kommt, sollte weiterentwickelt werden. Denn auch für „die“ Wissenschaft liegen die Lösungen von Krisen nicht auf der Hand. Es erfordert die Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Disziplinen, um den Zusammenhang zwischen Pandemie und Zusammenhalt oder zwischen Klimaveränderung und Sicherheit zu verstehen und daraus abgeleitet direkt umsetzbare Politikempfehlungen zu formulieren. Das Problem von Zeitdruck und Unsicherheit in der akuten Krise betrifft auch die wissenschaftliche Beratung. Diagnosen und Empfehlungen können sich verändern. Wichtig ist aber, dass ein Vertrauen darin besteht, dass es sich um das beste zu diesem Zeitpunkt verfügbare Wissen handelt.
Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen ist auch deshalb eine Herausforderung, weil die Disziplinen ihre jeweiligen Probleme priorisieren. Für die politische Beratung ist es notwendig, dies in einem Prozess auszubalancieren, der der Politik vorgelagert ist, da sich widerstreitende wissenschaftliche Expertisen für politische Entscheidungsträger*innen nur bedingt aufzulösen sind. Der Ansatz von interdisziplinären Gremien, die dauerhaft an gemeinsamen Beratungsansätzen und -prinzipien arbeiten, ist eine weitere Lehre aus der Pandemie, durch die die Politik zur Bewältigung der latenten Klimakrise gewinnen könnte.
Das Vertrauen in die Wissenschaft in der Politikberatung zu bewahren, ist insgesamt von herausgehobener Bedeutung. Gerade vor dem oben geschilderten Hintergrund der Bedeutung von Krisenwahrnehmung für das Phänomen Krise, sind Wissenschaftler*innen gefordert, den Krisenbegriff reflektiert einzusetzen. Da der Krisenbegriff die Aufmerksamkeit verstärkt und politische Veränderungen fordert und bewirken kann, kann er auch instrumentalisiert werden. Der Begriff der „Migrationskrise“ ist ein Beispiel dafür, wie nur zu einem Teil eine Überforderung der Verwaltung angezeigt wurde und wie sich das Konzept auch gegen eine bestimmte Menschengruppe richtete. Das Beispiel der Corona-Krise illustriert, wie wichtig die demokratische Kontrolle ist, um zeitweise notwendige Grundrechtseingriffe zu begleiten und wieder zu beenden.

Die Aufgabe von Wissenschaftler*innen in diesem Prozess ist, auf Gefahren und deren Hintergründe hinzuweisen und Hilfestellung für die Problemlösung zu leisten. Wissenschaftler*innen haben dabei natürlich die Aufgabe, auch zu alarmieren und sich der politischen Kommunikation des „Krisenbegriffs“ zu bedienen, wenn dies einer interdisziplinären Einschätzung der Bedrohungslage entspricht, wie es bei der Klimaveränderung eindeutig der Fall ist. Wichtig ist dabei aber, dass Wissenschaftler*innen auch in der Krise eine Transparenz über die Grenze und die Reichweite wissenschaftlicher Erkenntnisse herstellen, dass sie in der Formulierung von Problemlösungen Szenarien und Folgen aufzeigen und den Eindruck von Quasi-Entscheidungen vermeiden. Das Letzte dient auch dem Schutz der Wissenschaftler*innen, die, wie wir in der Pandemie beobachten konnten, ebenfalls der öffentlichen Kritik und auch Bedrohungen ausgesetzt waren. Es muss klar sein, dass Beratung die politischen Entscheidungen nur informieren, aber nicht ersetzen kann.
Ein erfolgreiches Krisenerkennen und -managen hängt letztlich davon ab, dass politische Entscheidungsträger*innen, Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Akteure in ihren jeweiligen Rollen zusammenwirken und eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen.
Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass ein erfolgreiches Krisenerkennen und -managen letztlich davon abhängt, dass politische Entscheidungsträger*innen, Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Akteure (einschließlich Unternehmen) in ihren jeweiligen Rollen zusammenwirken und eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen.
2019 und jetzt?
Haben nun Corona-Krise und die Kriegs-Katastrophe die Aufmerksamkeit für die Folgen des Klimawandels so vollständig verdrängt, wie es der Beginn des Artikels nahelegt? Zum Glück ist das nicht der Fall. Das Empfinden für die Bedrohung, die von der Klimaveränderung ausgeht, kehrte nach den ersten akuten Pandemiephasen zurück. Bereits früh wurden auch Parallelen gezogen, was die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des akuten Krisenmanagements in der Klimafrage betrifft. Es wurde deutlich, dass Krisenmanagement den Zusammenhalt und das Vertrauen in politische Entscheidungen und wissenschaftliche Expertise beeinträchtigen und gefährden kann. Ein notwendiger gesellschaftlicher und politischer Wandel ist daher eine langfristige Aufgabe, die über Akutmaßnahmen hinausgeht. Die Proteste, die nun wieder größere Aufmerksamkeit erregen, helfen dabei, politische Entscheidungen herbeizuführen und sie sind in ihrer bisherigen Form auch als ziviler Ungehorsam ein Teil der demokratischen Auseinandersetzung.
Zukünftig muss es darauf ankommen, politische Entscheidungen noch stärker an dieser Evidenz auszurichten und noch mutiger in der Umsetzung zu sein.
Die Lösung des Problems geht aber weit darüber hinaus und sie muss in einer routinierten, nicht krisenhaften Klimapolitik in den latenten Phasen liegen. Auch hier gibt es positive Anzeichen und ich möchte nur ein Beispiel aus meinem Arbeitsgebiet der internationalen Politik zu Illustration nutzen. So wird in der Zeitwende und der Neuorientierung der Friedens- und Sicherheitspolitik die Frage der Klimaveränderung mitbedacht und in Strategiepapieren berücksichtigt. Der Klimaschutz im Rahmen des Pariser Klimaabkommens ist in weiten Teilen eine Enttäuschung, aber es gibt diesen Prozess und seine Bedeutung wird trotz geopolitischer Spannung von den unterschiedlichen Regierungen betont. Ein Ziel muss es sein, angesichts der gemeinsamen Bedrohungen durch die Klimaveränderung zusätzlich dazu eine differenzierte Klimapolitik unter gleichgesinnten und unter Rivalen zu entwickeln, auch wenn diese unterschiedliche Ambitionen und Zeitverläufe haben wird. Denn, und dies konnte der Artikel nicht vertiefen, die Klimakrise ist wie andere Krisen natürlich eine Bedrohung, die nicht an Landes- oder regionalen Grenzen stoppt, sondern nur in einer gemeinsamen inter- und transnationalen Anstrengung bearbeitet werden kann.
Kurz: Die Notwendigkeit, auf die existentielle Bedrohung des Klimawandels hinzuweisen, hat sich nicht verringert. Das Krisenbewusstsein in der Gesellschaft und bei politischen Entscheidungsträger*innen ist aber etabliert und die Klimaveränderung wird als wichtige Herausforderung politikfeldübergreifend berücksichtigt. Eine wichtige Rolle dafür spielt das Wissen von Expert*innen. Zukünftig muss es darauf ankommen, politische Entscheidungen noch stärker an dieser Evidenz auszurichten und noch mutiger in der Umsetzung zu sein.
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