Ich sehe die demokratische Streitkultur heute gleich von zwei Seiten her in Gefahr. Zum einen durch das Anwachsen des „Rechtspopulismus“, das zu einer Verwischung der Grenzen zwischen zulässigen und diskutablen „rechtsdemokratischen“ Ansichten und rechtsextremistischen und letztlich demokratiefeindlichen Vorstellungen führt. Zum anderen aber auch durch eine überbordende Political Correctness mit einer Fülle von Sprachregelungen, die bei vielen Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck hinterlässt, man müsse heute überaus vorsichtig sein mit dem, was man öffentlich äußere. Ich sehe hier eine sehr ungute Entwicklung, die durch Social Media erheblich gefördert wird, weil im digitalen Raum extreme Standpunkte eine überproportionale Rolle spielen und in den Filterblasen andere Auffassungen gar nicht mehr ernsthaft zur Kenntnis genommen werden. Einfach gesprochen beklage ich das Fehlen von Maß und Mitte, von Differenzierung und Rationalität. In der Auseinandersetzung mit der neuen Rechten wird manchmal ähnlich undifferenziert agiert wie in den rechten Narrativen von „Lügenpresse“ und „Überfremdung“. Ich fürchte, dass das im Ergebnis die Polarisierung eher anheizt als eindämmt.
Natürlich kann zivilgesellschaftlicher Protest politisches Handeln beeinflussen und das ist auch gut so, weil es zum Wesen der Demokratie gehört, dass die Engagierten mehr gehört werden als die Stillen im Lande. Andererseits aber müssen die demokratisch Gewählten auch die Interessen jener Mehrheit im Auge haben, die sich nicht engagieren. Und es gehört zu den Eigenheiten des zivilgesellschaftlichen Protests, dass er fast immer zu moralisierenden Übertreibungen neigt. Hier muss Politik m. E. die Balance halten.
Die wachsende Spaltung der Gesellschaft, die Schwächezeichen einer stabilen Mitte und die Gefahr eines Verlusts an argumentativer Diskursfähigkeit durch die neuen Medien stellt politische Bildung vor gewaltige Herausforderungen. Längst wäre es nötig, der politischen Bildung an Schulen und gerade auch in den Einrichtungen der Erwachsenenbildung breiteren Raum zu geben. Um es an einem Beispiel zu erläutern: In der Auseinandersetzung mit den vielen Zeichen eines neuen Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 habe ich festgestellt, dass es meinen Studenten keineswegs an Kenntnissen über den Holocaust fehlt. Es fehlt aber die Kenntnis davon, dass der deutsche Nationalsozialismus den Antisemitismus zwar unfassbar radikalisiert, aber keineswegs erfunden hat. Wir haben in Deutschland bei der Entwicklung einer der historischen Schuld angemessenen Erinnerungskultur diese internationale Dimension zu sehr ausgeblendet, vermutlich deshalb, weil wir Angst haben, dies könne als Versuch einer „Entlastung“ missverstanden werden. Ferner fehlt es an elementaren Grundkenntnissen über die Geschichte Israels und des Nahostkonflikts. Wenn das Existenzrecht Israels Staatsräson der Bundesrepublik Deutschlands ist, muss hier viel mehr getan werden.