Außerschulische Bildung 4/2021

Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen

Für einen rebellischen Universalismus

Ausgehend von der Analyse aktueller Debatten wird eine „große Koalition“ der Anti-Identitätspolitik identifiziert und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede befragt. Die Analyse der Delegitimierungsstrategien dieser Koalition dient dem Ziel, in kritischer Spiegelung das emanzipatorische Kernanliegen der als Identitätspolitik kritisierten Positionen stark zu machen. Es wird gezeigt, dass die aktuelle Delegitimierung von Identitätspolitik ihren Gegenstand so verfälscht, dass ein kritisches Lernen aus Erfolgen und Fehlern unmöglich gemacht wird. Was bedeutet das für unsere Demokratie? von Silke van Dyk

„Identitätspolitik“ ist in der jüngsten Vergangenheit zu einer ubiquitären Chiffre für die Probleme der Linken und ihrer Verantwortung für den Erfolg der Neuen Rechten avanciert: Sie sei partikular und verstelle den Blick auf die großen Fragen der Zeit, akademisch-elitär und komplizenhaft verschwistert mit dem Neoliberalismus. Die Allgegenwart der Identitätspolitik im Modus der Kritik zielt dabei vor allem auf linke Identitätspolitiken, die Politik Neuer Sozialer Bewegungen und das Erbe von 1968. Wer ausgehend von den aktuellen Debatten zu unterscheiden versucht, was linke Identitätspolitik war und ist und was die zahlreichen aktuellen Kritiker*innen mit Identitätspolitik meinen, bewegt sich auf dünnem Eis. Ausgerechnet in Zeiten, da rassistische, antisemitische und sexistische Positionen durch rechte Kräfte in neuer Quantität und „Qualität“ artikuliert werden und damit die Errungenschaften sozialer Bewegungen unter Druck geraten, findet sich eine erstaunliche „Anti-Identitätspolitik“-Diskursgemeinschaft aus (links-)liberalen und klassenpolitischen Akteur*innen zusammen.

Die Allgegenwart der Identitätspolitik im Modus der Kritik zielt vor allem auf linke Identitätspolitiken, die Politik Neuer Sozialer Bewegungen und das Erbe von 1968.

Ausgehend von dieser Diagnose, verfolge ich folgende zwei Ziele: Zum einen soll die „große Koalition“ der Anti-Identitätspolitik ausgeleuchtet und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede befragt werden. Die Analyse ihrer Delegitimierungsstrategien soll zum Zweiten dazu dienen, in kritischer Spiegelung das emanzipatorische Kernanliegen der als Identitätspolitik kritisierten Positionen stark zu machen: eine Politik der Antidiskriminierung und Herrschaftskritik, die Partei ergreift für alle, denen eine Existenz als Subjekt unter Gleichen verwehrt wird. Damit ist keine Glorifizierung jeglicher identitätspolitischer Praxis bezweckt; es soll vielmehr gezeigt werden, dass die aktuelle Delegitimierung von Identitätspolitik ihren Gegenstand so verfälscht, dass ein kritisches Lernen aus Erfolgen und Fehlern unmöglich gemacht wird. Das ist in Anbetracht des Erstarkens autoritärer Kräfte fatal, liegt doch im identitätspolitischen Erbe das Potenzial für einen rebellischen Universalismus, der auch für eine neue Klassenpolitik unverzichtbar ist.

Große Koalition gegen die Identitätspolitik

Der Wahlsieg Donald Trumps, das Brexit-Votum, der Aufstieg der AfD und die Stärke rechter Parteien in zahlreichen Ländern Europas haben eine kontroverse Debatte über die Ursachen der Rechtswende und das Scheitern linker Politik ausgelöst. Die einhellige Antwort auf die Frage „Linke, was hat dich bloß so ruiniert?“ (Roberts 2018) lautet derzeit: die Identitätspolitik. Tatsächlich hat es in fast allen sozialdemokratischen Parteien Europas eine Wende hin zu einer Politik neoliberaler Alternativlosigkeit gegeben, während zugleich Gender-Mainstreaming und multikulturelle Diversitätspolitiken an Bedeutung gewonnen haben. Abgesehen davon, dass der Zusammenhang zwischen beidem keineswegs zwingend ist, macht die Suche nach identitätspolitisch Schuldigen hier keineswegs Halt. Obwohl ein liberaler Multikulturalismus wenig mit der Bewegung „Black Lives Matter“ und Gender-Mainstreaming kaum etwas mit kritischem Feminismus zu tun hat, werden sie in der derzeitigen Kritik zu einer identitätspolitischen Abgrenzungsfolie verdichtet.

Identitätspolitik eine Waffe zur Selbstverteidigung? Foto: AdB

Im liberalen Feld wird der Verlust eines über citizenship vermittelten Gemeinsamen beklagt, paradigmatisch für diese Position steht der US-amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla: „Wir brauchen einen Linksliberalismus, der die Identitätsfrage hinter sich lässt und sich auf seine früheren Errungenschaften stützt. Ein solcher Linksliberalismus würde sich auf die Verbreiterung seiner Basis konzentrieren und die Amerikaner als Amerikaner ansprechen; dabei würde er den Anliegen Priorität geben, die einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen. Er würde an die Nation im Geiste gemeinsamen Bürgersinns und gegenseitiger Hilfsbereitschaft appellieren.“ (Lilla 2017, S. 51) Ähnlich argumentiert der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama: Nachdem das von ihm diagnostizierte Ende der Geschichte nicht eingetreten ist, plädiert er unter der Überschrift „Against Identity Politics“ für ein Ende linker und rechter Identitätspolitik: „Es geht darum, größere und integrativere nationale Identitäten zu definieren, die der faktischen Vielfalt liberal-demokratischer Gesellschaften Rechnung tragen.“ (Fukuyama 2018) Linke Identitätspolitik weise zwei zentrale Probleme auf: Sie sei erstens selten repräsentativ für die Mehrheit und entfremde Mainstream-Wähler*innen, zweitens habe sie den Aufstieg rechter Identitätspolitik begünstigt, die sich gegen die linken Anerkennungsbegehren zur Wehr setze.

Die Politikwissenschaftler Ruud Koopmans, Wolfgang Merkel und Michael Zürn haben wiederum eine neue Konfliktlinie ausgemacht, die nicht mehr zwischen rechts und links, sondern zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen verlaufe. Erstere beherrschten den öffentlichen Diskurs, seien akademisch gebildet, privilegiert, an postmaterialistischen Werten, den Rechten von Minderheiten, Antirassismus und globaler Bewegungsfreiheit von Menschen und Kapital interessiert. Letztere verfügten über keine Privilegien, setzten auf gerechte Verteilung, den Nationalstaat und eine Begrenzung von Migration. Auch hier antwortet rechte Politik auf die (Identitäts-)Politik der Kosmopoliten: „Die populistische Revolte kann aus dieser Perspektive vor allem als eine Reaktion auf den überschießenden Kosmopolitismus und Moralismus des Mainstreams und der Bessergestellten gedeutet werden.“ (Merkel 2017, S. 54)

Tatsächlich hat es in fast allen sozialdemokratischen Parteien Europas eine Wende hin zu einer Politik neoliberaler Alternativlosigkeit gegeben, während zugleich Gender-Mainstreaming und multikulturelle Diversitätspolitiken an Bedeutung gewonnen haben.

Viele links-sozialdemokratische, marxistische und klassenpolitische Protagonist*innen aktueller Identitätskritik haben auf den ersten Blick mit Lillas oder Fukuyamas Kritik nicht viel gemein: Ihnen gilt nicht das staatsbürgerliche Kollektiv als Kontrapunkt partikularer Identitäten, sondern die Klasse und damit die ethnische oder geschlechtsspezifische Unterschiede übergreifende sozioökonomische Lage. Der Dramaturg Bernd Stegemann, neben Sahra Wagenknecht Vordenker der Bewegung „Aufstehen“, moniert: „Die Debatten um identitätspolitische Emanzipation sind (…) gefährlich für die Kraft zur solidarischen Haltung. Sie fesseln die kritische Aufmerksamkeit an die partikularen Interessen und provozieren dadurch empörte Diskurse.“ (Stegemann 2017, S. 81) In diesem Diskursstrang ist die Kritik der Identitätspolitik in unterschiedlicher Explizitheit mit dem Argument verknüpft, dass es genuin linke Themen gäbe, die ausschließlich oder vorrangig im Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verorten seien: Die identitätspolitische Schwerpunktsetzung der Linken, gehe „an der Lebensrealität ihrer natürlichen Klientel vorbei“ (Baron 2016, S. 202) und erzeuge die Rechtswende der traditionellen linken Wählerschaft. Dem liegt der Gedanke zugrunde, Identitätspolitik sei an Privilegien gebunden und eine Vorliebe derjenigen, „die es sich leisten (können), tolerant und weltoffen zu sein“ (Jörke/Heisterhagen 2017, S. 9).

Beide Stränge der Kritik teilen den Vorwurf, dass Identitätspolitik Partikularinteressen von Minderheiten zulasten eines – unterschiedlich gefassten – Allgemeinen vertrete. Da die hier problematisierten klassenpolitischen Ansätze auf eine Revitalisierung der Klassenfrage im nationalen Kontext setzen und damit – entgegen der Tradition des Internationalismus der Arbeiterbewegung – auf einen neoliberalismus- und migrationskritischen „Linksnationalismus“, Ich werde abschließend darauf zurückkommen, dass es aktuell natürlich klassensoziologische Arbeiten gibt, die nicht in diese Richtung anschlussfähig sind. ergeben sich aber auch darüber hinaus Anschlusspunkte der auf den ersten Blick so unterschiedlichen Perspektiven. Auch fällt auf, dass rechte (Identitäts-)Politik jeweils einen untergeordneten Stellenwert einnimmt und dass sie – wenn überhaupt als solche tituliert – als Reaktion auf die „Auswüchse“ linker Identitätspolitik gelesen wird, die – so der Tenor – vor allem weiße Männer der Arbeiterklasse ohne Lobby gelassen habe. Der Journalist Owen Jones geht in seinem Buch „Dämonisierung der Arbeiterklasse“ sogar so weit, den Antirassismus als Instrument eines Klassenkampfes von oben zu fassen, mit dem „weiße Arbeiter in die Pfanne“ gehauen würden (Jones 2012, S. 148).

Auch wenn dies ein extremes Beispiel ist, zeigt sich in der Diskurskoalition insgesamt eine Umkehrung der Begründungslogik, in der der Widerstand gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie zur Ursache derselben erklärt wird (vgl. Susemichel/Kastner 2018, S. 15). Diese gelten dann als „uneigentliche“ Phänomene, die Ausdruck einer Notwehr der unteren Klassen respektive der Mehrheit gegen die Identitätspolitik der vermeintlich Privilegierten sind. So müssen der Philosophin Nancy Fraser zufolge die Protagonist*innen links-liberaler Identitätspolitik auf jene zugehen, die sie mit ihrer Politik verletzt und in das rechte Lager gedrängt haben: „Vor allem aber werden sie jener Mehrheit der Trump-Wähler die Hand reichen müssen, die weder Rassisten noch in der Wolle gefärbte Rechte sind, sondern Opfer des ‚manipulierten Systems‘.“ (Fraser 2017, S. 90) Wie man es dreht und wendet: Die „Schuld“ liegt immer aufseiten linker Identitätspolitik.

Strategien der Delegitimierung

Der Begriff Identitätspolitik ist so schillernd wie schwammig – auch jenseits seiner aktuellen Popularisierung. Zum einen wird der Topos inhaltlich wenig scharf für ein weites Feld sozialer Kämpfe verwendet, die mit der Chiffre „1968“ und den Neuen Sozialen Bewegungen wie der Frauenbewegung oder der Bürgerrechtsbewegung verbunden werden, zumeist aber auch mit Bewegungen jüngeren Datums wie queeren Aktivismus oder „Black Lives Matter“. Zum anderen geht es um konkrete Fragen wie Formen des politisch korrekten Sprechens oder Unisex-Toiletten. In Anlehnung an historisch einschlägige soziale Kämpfe (vgl. hierzu auch Kastner/Susemichel 2019) verstehe ich emanzipatorische Identitätspolitik als Ausdruck eines rebellischen Universalismus, der – zum Beispiel in der Frauenbewegung, durch queere Interventionen oder antirassistische Kämpfe – aufzeigt, wie das „Normale“, das „Allgemeine“ und „Menschliche“ partikular weiß, männlich, gesund und heterosexuell bestimmt war und ist. Welchen Stellenwert die Betonung von Differenz(en) in diesen Bewegungen einnehmen soll, ist dabei von Anfang an umstritten gewesen und – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – ebenso kontrovers wie elaboriert debattiert worden (vgl. exemplarisch Benhabib u. a. 1993). Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden drei Vorwürfe identifizieren und prüfen, die in der großen Koalition der Anti-Identitätspolitik der Delegitimierung dieser Politik dienen: Dies sind der Vorwurf der Spaltung, der Vorwurf der Ablenkung vom Wesentlichen sowie der Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus.

Der Begriff Identitätspolitik ist so schillernd wie schwammig – auch jenseits seiner aktuellen Popularisierung.

Vorwurf der Spaltung und der Durchsetzung partikularer Interessen

Diese Kritik findet sich überall dort, wo das universalistische Versprechen der Moderne in Abgrenzung zum Partikularismus als Realität gesetzt statt als Leitbild verstanden wird. Liberale Demokratien stünden angesichts überschießender Identitätspolitiken, so das Argument, vor der Herausforderung, „ihren Weg zurück zu einem universelleren Verständnis der Menschenwürde zu finden“ (Fukuyama 2018). Die Zukunft scheint damit bedroht durch einen „neuen Tribalismus“ und den „Siegeszug einer gegenaufklärerischen Idee“ (Furedi 2018, S. 13) in Gestalt der Identitätspolitik.

Ganz ähnlich ist auch die Argumentation des Marxisten Robert Pfaller: „Das unpersönliche Recht und den Habitus des zivilisierten Verhaltens identitätspolitisch zu verunglimpfen, ist hingegen ein Beitrag zur neoliberalen Zerstückelung, Re-Feudalisierung und Re-Tribalisierung der Gesellschaft.“ (Pfaller 2018, S. 129 f.) Und wenn der Soziologe Harald Welzer moniert, dass der Universalismus des modernen Sozialstaates durch die „allfälligen Anerkennungszumutungen“ (Welzer 2017) der Identitätspolitiken zerstört werde, dann ist von der Partikularität, das heißt der geschlechtsspezifischen und staatsbürgerlichen Exklusivität der Sozialpolitik, nichts mehr zu hören.

Wiederholt zu lesen ist hingegen der Vorwurf, es handele sich bei Identitätspolitik um eine Politik der ersten Person, eine egoistische „Politik des ‚Alles dreht sich um mich‘“ (Furedi 2018). Die Charakterisierung von Identitätspolitik als Politik der ersten Person stammt tatsächlich von denen, die den Begriff geprägt haben: In ihrem „Black Feminist Statement“ von 1977 konstatierte das Combahee River Collective, eine Gruppe schwarzer Feminist*innen: „Wir erkannten, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns sorgen, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind.“ (Combahee River Collective 1983, S. 212) Dies entspringt aber weder einer egoistischen noch einer separatistischen Haltung, sondern der Erkenntnis, dass die Anliegen schwarzer Frauen weder in der von Männern dominierten Bürgerrechtsbewegung noch im weißen Feminismus ihren Platz fanden – und in der restlichen Gesellschaft schon gar nicht.

Die aktuelle Kritik, Identitätspolitik spalte, ignoriert zudem die vielschichtigen Debatten um Gleichheit und Differenz, die feministische und antirassistische Bewegungen seit ihren Anfängen begleiten.

Spaltend sind nicht die sozialen Bewegungen, die den real existierenden Universalismus als Produkt partikularer Interessen enttarnen, gebunden an die mit weißer Männlichkeit verbundenen Privilegien. Spaltend sind diejenigen, die diese Privilegien im Namen der Universalität verteidigen. Dass die Privilegien so wirkmächtig sind, liegt auch daran, dass sie nicht als Privileg empfunden werden, da sie verborgen sind „in der Selbstverständlichkeit der Normalität“ (Rommelspacher 2009, S. 32) der Dominanzgesellschaft. Identitätspolitik at its best bedeutet demnach gerade nicht, „dass sich eine gesellschaftlich abgesonderte Gruppe mit ihren spezifischen Problemen beschäftigt, sondern dass aus einer marginalisierten Perspektive Missstände aufgezeigt werden, die mitten ins Herz der Gesellschaft führen“ (Putschert 2017, S. 20). Die Feminist*innen des Combahee River Collective wollten nichts Besonderes sein: „Als Mensch anerkannt zu werden, als ebenbürtiger Mensch, das ist genug.“ (Combahee River Collective 1983, S. 212) Ihre Position als schwarze, lesbische Frauen auf der untersten Anerkennungsstufe der Gesellschaft, wollten sie – die sich als Sozialistinnen verstanden – für eine revolutionäre Überwindung aller Unterdrückungsverhältnisse nutzen. Sie waren der Überzeugung, dass eine Gesellschaft, die sie als Gleiche einbezieht, alle einzubeziehen hätte.

Die aktuelle Kritik, Identitätspolitik spalte, ignoriert zudem die vielschichtigen Debatten um Gleichheit und Differenz, die feministische und antirassistische Bewegungen seit ihren Anfängen begleiten. Hier geht es um die Frage, ob gesellschaftlich marginalisierte Gruppen nach Maßgabe der herrschenden Gesellschaft als Gleiche anzuerkennen seien, oder ob vielmehr ihre Besonderheit zu würdigen und der Maßstab der Angleichung infrage zu stellen sei. Schon in den 1970er Jahren zeigte sich die Problematik dieser Polarität, und es wurde nach Integrationsmöglichkeiten beider Positionen gesucht (vgl. Susemichel/Kastner 2018, S. 107 ff., S. 136 f.).

In kritischer Spiegelung wird das emanzipatorische Kernanliegen der als Identitätspolitik kritisierten Positionen stark gemacht. Foto: AdB

In der aktuellen Anti-Identitätspolitik-Koalition wird diese jedoch auf den Differenzpol festgelegt und eine Essenzialisierung von Differenz unterstellt, während eine formale Gleichheitsposition zum Maß der Dinge wird. Bewegungen für die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter oder der Schwarzen in den USA werden deshalb zu Recht gewürdigt, während die Frage der gesellschaftlichen Normierung und des vermeintlich universalen Maßstabes, an dem marginalisierte Gruppen gemessen und als „Andere“ identifiziert werden, als Zumutung zurückgewiesen wird. Wo Frauen oder Schwarzen angelastet wird, dass sie sich für ihre Belange und nicht für Menschen im Allgemeinen einsetzen, wird zudem verkannt, dass dies die Antwort auf ein gesellschaftlich zugeschriebenes Stigma ist, verbunden mit der Paradoxie, dass die Diskriminierung nur schwer ohne Rückbezug auf die in der Abwertung zugewiesene Differenz sichtbar gemacht werden kann. Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, ob Widerstand „über eine bewußte Aneignung der Negation“ (Haraway 1995, S. 42) gelingen kann oder im Sinne eines „against race“ (Gilroy 2000) die Dekonstruktion der Differenzkategorie das Ziel sein sollte, ist – entgegen dem Vorwurf, Identitätspolitik essenzialisiere generell Unterschiede – kontrovers debattiert worden. Das derzeit pauschal mit dem Label „Identitätspolitik“ versehene Feld zeichnet sich gerade dadurch aus, dass auch die Identitätskritik hier ihre Wurzeln hat und dass die Dialektik der Affirmation und Überwindung von Differenz allgegenwärtig ist.

Der marxistische Kulturtheoretiker Stuart Hall unterscheidet im Lichte dieses Spannungsfeldes eine Identitätspolitik ersten und zweiten Grades, wobei erstere in der notwendigen „Konstituierung einer defensiven kollektiven Identität“ als Antwort auf die Angriffe der „Mehrheitsgesellschaft“ besteht. Vgl. Hall 1994, S. 78. In dieser Lesart ist Identitätspolitik eine Waffe zur Selbstverteidigung: „Die Identität ist genauso problematisch wie jede andere Waffe (…). Dass du dich mit einer Waffe wie Identität bewaffnen mußt, heißt, daß du im Grunde von Anfang an verloren bist. Dir bleibt trotzdem nichts anderes übrig.“ (Diederichsen/Jacob 1994, S. 53) Eine solche defensive Identität könne aber immer nur ein erster Schritt der Sichtbarmachung auf dem Weg zu einer neuen Politik des pluralen Gemeinsamen sein. Eine Identitätspolitik zweiten Grades dekonstruiert die im ersten Schritt der Verteidigung stark gemachten Identitäten und nimmt die Heterogenität der Subjektpositionen und die Vielfalt der Erfahrungen derjenigen in den Blick, die beispielweise unter der Identität „schwarz“ subsumiert werden. Hier geht es darum, die herrschaftsförmige Differenz („schwarz-weiß“) nicht (mehr) zu affirmieren, sondern sie zu durchkreuzen. Die Verkehrung der aktuellen Debatte liegt darin, die herrschaftsförmige Prägung und die Bedeutung der Selbstverteidigung in den Hintergrund zu rücken und die identitätskritischen Debatten zu negieren, um die vermeintliche Selbststilisierung sogenannter Minderheiten anzugreifen.

Berechtigt erscheint mir gerade im Lichte der historischen Debatten und Kämpfe eine Kritik von identitätspolitischen Bewegungen, die sich für den Horizont des „Gemeinsamen“ nicht (mehr) interessieren, sozioökonomische Ungleichheiten ausblenden und in immer kleineren Verästelungen Differenzen individualisieren.

Berechtigt erscheint mir gerade im Lichte der historischen Debatten und Kämpfe hingegen eine Kritik von identitätspolitischen Bewegungen, die sich für den Horizont des „Gemeinsamen“ nicht (mehr) interessieren, sozioökonomische Ungleichheiten ausblenden und in immer kleineren Verästelungen Differenzen individualisieren. Wenn die Differenz zum Selbstzweck wird, besteht die Gefahr der (Re-)Essenzialisierung des in Anspruch genommenen Unterschieds. Vgl. als Beispiel für die Kritik einer solchen Entwicklung im Kontext von „Critical Whiteness“-Perspektiven Haider 2018. Zur Entwicklung eines „queeren Identitätsfetisch“ vgl. Susemichel/Kastner 2018, S. 126. Die entscheidende Frage ist aber, ob solche Entwicklungen aus der Perspektive eines rebellischen Universalismus kritisiert werden oder ob sie willkommener Anlass sind, um emanzipatorische „Zumutungen“ in toto diskreditieren zu können: „Kritik an der Identitätspolitik wird oft von weißen Männern geäußert, die gegenüber den Erfahrungen anderer ignorant oder apathisch bleiben. Sie wird aber auch von Linken geäußert, mit dem Ziel, jede politische Forderung abzulehnen, die nicht mit dem übereinstimmt, was als rein ökonomisches Programm gilt.“ (Ebd., S. 20 f.) Letzteres führt mich zum zweiten Vorwurf.

Vorwurf der Ablenkung – Kulturtheater und Schönwetterpolitik

Der Vorwurf der Ablenkung operiert mit einer Entgegensetzung der materiellen Realität von Sozial- und Wirtschaftspolitik einerseits und postmaterialistischen Nebenwidersprüchen andererseits, die angeblich die moralischen Sehnsüchte privilegierter Bevölkerungsgruppen bedienen. Kritisiert als „Pseudo-Politik“ (Mark Lilla) oder „identitäre (…) Ersatzpolitik“ (Wolfgang Streeck) wird das Ende der „Ära post-materialistischer, befindlichkeitsfixierter Schönwetterbewegungen“ (Stefan Laurin) ausgerufen. Dabei geht es keineswegs nur um das beliebte Beispiel der Unisex-Toiletten, sondern auch um Bewegungen gegen sexuelle Gewalt oder die Polizeigewalt gegenüber Schwarzen. So ist in der linken Zeitung „Jungle World“ zu lesen: „Egal ob es um den neuen Feminismus oder die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung geht: Politisch zu sein, bedeutet heute nicht mehr, etwas über die Welt auszusagen, sondern über sich selbst.“ (Black 2018, S. 22) Wessen Welt ist das, in der die Kritik von Rassismus und Sexismus nichts über die Welt aussagt? Für wen scheint die Sonne der „Schönwetterbewegungen“, wenn diese doch mehrheitlich dafür gekämpft haben, dass Menschen, denen dies verwehrt wurde, als Menschen in Betracht gezogen werden? Indem die als identitätspolitisch bezeichneten Bewegungen darauf reduziert werden, hippe Ausdrucksformen ästhetischer Vorlieben zu sein, „wird die Eigenständigkeit und Tragweite rassistischer, nationalistischer, sexistischer und/oder homophober Unterdrückung sowie die existenzielle Dimension der dagegen gerichteten Kämpfe verkannt“ (van Dyk/Graefe 2018, S. 346). Mit dem Label der „Pseudopolitik“ wird zudem eine große Errungenschaft dieser Kämpfe negiert, haben sie doch gezeigt, dass es eine Machtfrage ist, zu definieren, was als legitime Politik fungiert und was als private oder kulturelle Angelegenheit ausgeschlossen bleibt.

Als die Feministin Silvia Federici Ende der 1970er Jahre zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung schrieb: „They say it’s love. We say it’s unwaged work“ (Federici 1975), brachte sie diese Macht auf den Punkt und zeigte zudem, dass auch dort, wo vermeintlich nur die weiche Welt der Emotionalität wohnt, die politische Ökonomie zu Hause ist. In diesem Zusammenhang sei auch an den schwarzen Intellektuellen W.E.B. Du Bois erinnert, der Ende des 19. Jahrhunderts den Zusammenhang von Ausbeutung und Rassismus analysierte und aufzeigte, dass der „psychologische Lohn des Rassismus“ die Arbeiterbewegung spaltete und die weißen Arbeiter an die weißen Unternehmer band (Du Bois 2014/1935).

Das Etikett des Postmaterialismus ist aber nicht nur fraglich, weil Sexismus und Rassismus eng mit der Organisation der kapitalistischen Ökonomie zusammenhängen. Faktisch haben zudem viele, wenngleich nicht alle, der kritisierten Bewegungen gegen Ausbeutung und ökonomische Deklassierung protestiert. Ta-Nehisi Coates, prominenter Intellektueller von „Black Lives Matter“, hat die Entmaterialisierung der Kritik sogenannter Minderheiten als Herrschaftsmechanismus angeprangert: Die Debatten um die Trump-Wahl kommentierte er auf Twitter mit der Beobachtung, „dass die Probleme der weißen Jungs ökonomisch sind und alle anderen nur versuchen, ihre Gefühle zu diskutieren“ (Tweet vom 01.12.2016). Und wenn er hinzufügt, „In Amerika ist ‚Klasse‘ nicht die einzige Art von Klasse“, dann weist er die implizite Verbindung von Klasse als analytische Kategorie mit dem Merkmal Weißsein zurück.

In der Anti-Identitätspolitik-Koalition wird hingegen die seit Gramsci vielfach aufgebrochene Entgegensetzung von Kultur und Ökonomie derzeit so radikalisiert, dass in Teilen eine „Rückkehr des Hauptwiderspruchs“ (Dowling/van Dyk/Graefe 2017, S. 411) zu beobachten ist. Der absolute Vorrang ökonomischer und klassenpolitischer Anliegen wird von einigen Autor*innen explizit formuliert (vgl. Baron 2016, S. 202; Pfaller 2018, S. 137), kommt aber implizit auch in der Identifizierung von antirassistischer, queerer oder feministischer Politik als Politik der Privilegierten zum Ausdruck. Mit dieser Zuschreibung wird allein „Klasse“ als hierarchiestiftender gesellschaftlicher Strukturgeber identifiziert, während andere gesellschaftliche Spaltungslinien – wider die Empirie – als kulturelle Variationen gefasst werden. In der aktuellen Debatte wäre eine Menge gewonnen, wenn deutlich würde, dass nicht nur die „Anderen“ und Marginalisierten Identitäten haben: Dann ist die Wahl Trumps nicht mehr die – mit viel Verständnis analysierte – ökonomische Notwehr der deklassierten „Mehrheitsbevölkerung“, sondern eben auch – und ohne damit automatisch erfahrene Deklassierungen zu negieren – Ausdruck einer weißen Identitätspolitik, die Privilegien der Vergangenheit zu restaurieren versucht. „Make America Great Again“ heißt kaum verhüllt – wie die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown treffend formuliert – auch „Make America White Male Again“ (Brown 2017, S. 51).

In der aktuellen Debatte wäre eine Menge gewonnen, wenn deutlich würde, dass nicht nur die „Anderen“ und Marginalisierten Identitäten haben.

Und wenn beklagt wird, dass die Schwulenbewegung nur für ihre Rechte und nicht für die der Stahlarbeiter auf die Straße gegangen ist, ist dies zwar richtig, es bleibt aber zugleich die Frage ungestellt, ob die Arbeiterbewegung sich ihrerseits stark für die Rechte Homosexueller gemacht hat und wie es um Homophobie in Arbeiter-Milieus steht (vgl. Laurin 2018, S. 116). Interessanterweise wird dieser Aspekt aus Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (2016) kaum rezipiert, obwohl seine biografisch verarbeitete Klassenflucht aus der Arbeiterklasse für ihn mit seiner Homosexualität zusammenhing. Siehe dazu auch ein Interview mit Eribon, indem er sich u. a. kritisch zur klassenpolitisch verengten Rezeption seines Buches in Deutschland äußert: „Das Problem ist sicher nicht der Feminismus“; www.republik.ch/2018/02/19/interview-eribon-teil1 (Zugriff: 02.09.2021). So wenig von der Hand zu weisen ist, dass Kämpfe etwa für geschlechtliche Vielfalt „sich oftmals wenig bis gar nicht für Prozesse sozialer Deklassierung interessieren“ (van Dyk/Graefe 2018, S. 344), so wenig liegt die Bringschuld in der notwendigen Zusammenführung von Klassenpolitik und emanzipatorischer Identitätspolitik ausschließlich und einseitig aufseiten der geschmähten Letzteren.

Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus

Der wahrscheinlich härteste Schlag gegen die kritisierten Bewegungen dürfte im Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus liegen. Als „Reaganism for lefties“ (Mark Lilla) und „Kulturprogramm der neoliberalen Erzeugung von Ungleichheit“ (Robert Pfaller) kritisiert, wird von sehr unterschiedlichen Akteuren eine Allianz aus „Finanzkapitalismus und Emanzipation“ (Nancy Fraser), aus „global governance und identitärer Ersatzpolitik“ (Wolfgang Streeck) ausgemacht. Dieser Abschnitt beruht auf einem mit Stefanie Graefe konzipierten Vortrag anlässlich des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im September 2018 in Göttingen. Fraser hat hierfür den Topos des „progressiven Neoliberalismus“ geprägt, der „auf dem Bündnis ‚neuer sozialer Bewegungen‘ (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ‚symbolischer‘ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren“ beruhe (vgl. Fraser 2017, S. 78). Die paradigmatische Sozialfigur dieser Synthese ist der Kosmopolit, der Antirassismus, Weltgewandtheit und Toleranz mit einem Faible für neoliberale Politik verbinde (vgl. Merkel 2017). Die Diagnose, dass Fragen der Verteilung von Ressourcen im Neoliberalismus immer weniger Gehör finden und dass klassenpolitische Mobilisierungen radikal geschwächt worden sind, ist ebenso richtig, wie die Beobachtung, dass es liberale Gleichstellungspolitik gibt, die sich vor allem für den Frauenanteil in Dax-Vorständen interessiert. Fraglich hingegen ist der Schluss, hierfür zeichne „die Identitätspolitik“ in Gänze beziehungsweise das Erbe der Neuen Sozialen Bewegungen und ihre „Vielfaltseuphorie“ (Jörke/Heisterhagen 2017) verantwortlich.

Kritisches Lernen aus Erfolgen und Fehlern ist für die Demokratie wichtig. Foto: AdB

Der Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus gibt sich soziologisch solide und schließt an die Diagnose der Vereinnahmung von Kritik im flexiblen Kapitalismus an, wie sie insbesondere von Luc Boltanski und Ève Chiapello ausgearbeitet worden ist (vgl. Boltanski/Chiapello 2006). Gesellschaftskritik taucht in der Moderne in zwei Formen auf, die Boltanski und Chiapello als „Sozialkritik“ und „Künstlerkritik“ bezeichnen: Erstere beziehe sich auf das Paradigma der sozialen Gerechtigkeit, die zweite auf Fragen der Autonomie, im doppelten Sinne von Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Diese Kritik war historisch Intellektuellen vorbehalten, hat sich ab 1968 aber zunehmend verallgemeinert. Die Vereinnahmungsdiagnose besagt nun, dass die Künstlerkritik zum Motor neoliberaler Re-Strukturierungen geworden ist, während die Sozialkritik marginalisiert wurde.

Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass wir es gegenwärtig mit einer Vereinnahmung dieser Diagnose zu tun haben: Es ist zwar richtig, dass sich Formen der Entfremdungskritik und der Selbstorganisation wie auch Diversity- und Gleichstellungspolitiken als anschlussfähig an das neoliberale Projekt erwiesen haben. Die Kritik daran wird jedoch in einer Weise pauschalisiert, die jegliche Ambivalenz und Differenzierung tilgt. Erstens wird eine aktive Komplizenschaft unterstellt, wo die soziologischen Diagnosen historisch eine strukturelle Passfähigkeit der Inhalte und eine Umdeutung emanzipatorischer Perspektiven ausgemacht haben. Zweitens wird verkannt, dass im Zuge der Vereinnahmung reale Autonomie- und Anerkennungsgewinne zu verzeichnen waren – eine Ambivalenz, die in den einschlägigen soziologischen Diagnosen zentral ist. Drittens werden die Anliegen der sogenannten Identitätspolitik in ihrem Kern als falsch und pseudo-politisch zurückgewiesen sowie als Egoismus partikularer Gruppen diskreditiert. In den Vereinnahmungsdiagnosen geht es, ganz im Gegenteil, um die Frage, wie originär emanzipatorische Anliegen kooptiert werden – und in diesem Prozess ihren Gehalt verändern. Viertens verallgemeinert der Vorwurf der Komplizenschaft die Kritik in einer Weise, die all jene Bewegungen unsichtbar macht, die sich als nicht anschlussfähig an das neoliberale Projekt erwiesen haben – und oft gerade deshalb aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Das hat dann aber wenig mit neoliberaler Komplizenschaft und viel mit neoliberaler Hegemonie zu tun; die Verkehrung des Zusammenhangs läuft in Zeiten erstarkender autoritärer Kräfte faktisch auf ein blaming the victim hinaus. Die große Anti-Identitätspolitik-Koalition trägt damit dazu bei, existierende emanzipatorische Kritiken wider den neoliberalen Mainstream zusätzlich zu schwächen und nur noch neoliberale Kosmopoliten zu sehen, wo es wesentlich mehr zu entdecken gäbe.

Neue Klassenpolitik und rebellischer Universalismus

Die Delegitimierung von Identitätspolitik durch die Vorwürfe der Spaltung, der Ablenkung und der neoliberalen Komplizenschaft ist gegenwärtig auch deshalb so diskursprägend, weil sie von der ungewöhnlichen akademischen Diskursgemeinschaft (links-)liberaler und klassenpolitisch argumentierender Protagonist*innen getragen wird und Widerhall im parteipolitischen wie medialen Feld findet. Die Angriffe auf linke Identitätspolitiken gehen dabei Hand in Hand mit einer „Rhetorik der Zärtlichkeit“ (Czollek 2018, S. 117) gegenüber den nach rechts Gewendeten, die sich angeblich vom moralischen Joch der Linken befreien. Das linke self-blame geht bisweilen sogar so weit, dass eine selbstverschuldete „linksautoritäre“ Repräsentationslücke ausgemacht wird – und damit das Fehlen einer Kombination von sozialpolitisch linken, gesellschaftspolitisch aber autoritären Positionen. Diese Diagnose gipfelt in der Idee einer Verknüpfung von Sozial- und Identitätspolitik, „die auch für tendenziell links-autoritäre Menschen überzeugend“ (Jörke/Nachtwey 2017, S. 179) wäre – womit das emanzipatorische Erbe der Neuen Sozialen Bewegungen nach 1968 ad absurdum geführt wird.

Die Delegitimierung von Identitätspolitik durch die Vorwürfe der Spaltung, der Ablenkung und der neoliberalen Komplizenschaft ist gegenwärtig auch deshalb so diskursprägend, weil sie von der ungewöhnlichen akademischen Diskursgemeinschaft (links-)liberaler und klassenpolitisch argumentierender Protagonist*innen getragen wird und Widerhall im parteipolitischen wie medialen Feld findet.

Die größte Gefahr für eine emanzipatorische Alternative zur Neuen Rechten besteht gegenwärtig darin, dass die Pole Klasse und Nation miteinander verschmolzen werden und in Gestalt eines linksnationalistischen (wenn es denn so etwas überhaupt geben kann) Elite-Volk-Dualismus wieder auferstehen. Das ist dramatisch, denn der Umstand, dass die Klassenfrage zurück in der öffentlichen Debatte ist, dass materialistische Analysen (wieder) wahrgenommen und klassenpolitische Leerstellen von Antidiskriminierungspolitiken herausgefordert werden, ist in jeder Hinsicht zu begrüßen. Glücklicherweise gibt es eine Reihe von Autor*innen, die im Sinne einer antinationalistischen, inklusiven Klassenpolitik argumentieren (vgl. Eribon 2018; Dörre 2018). Für das emanzipatorische Projekt eines rebellischen Universalismus wird eine intersektionale, andere Unterdrückungsverhältnisse einbeziehende Erweiterung von Klassenpolitik allerdings nicht ausreichen. Solange Rassismus, Sexismus, Homophobie oder Antisemitismus das Leben und die Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen einschränken, so lange die „Normalität“ sie zu „Anderen“ macht, wird es auch klassenübergreifende Bündnisse gegen diese Ausschlüsse und Diskriminierungen brauchen.

Zur Autorin

Dr. Silke van Dyk ist Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats sowie Ungleichheits- und Eigentumsforschung.
silke.vandyk@uni-jena.de
Foto: Anne Günther/FSU

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Dieser Beitrag erschien zuerst in Aus Politik und Zeitgeschichte 9–11/2019; Schwerpunkt Identitätspolitik, S. 25–32; www.bpb.de/apuz/286508/identitaetspolitik-gegen-ihre-kritik-gelesen-fuer-einen-rebellischen-universalismus